23

Willow

Als Iban und ich die Bibliothek betraten, warteten Della und Nova an den Fenstern auf uns. Iban zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und führte uns zu einem der hinteren Räume. Er blickte vorsichtig umher, ehe er eines der ungekennzeichneten Bücher aus dem Regal zog und ein verstecktes Schloss in der Wand offenbarte.

Er stellte sicher, dass keine Hüllen vor Ort waren, die den geheimen Fund hätten ausspähen können.

Fasziniert beobachtete ich, wie er den Schlüssel hineinschob und das Schloss langsam drehte. Das Klirren von Metallrädern, die sich gegeneinander bewegten, erklang hinter dem Bücherregal, dann zog er den Schlüssel heraus und stellte das Buch zurück.

Das Regal bewegte sich nach vorn und gab einen schmalen Durchgang zwischen ihm und der Wand frei. Della machte einen Schritt beiseite, doch Iban trat vor sie und ging in den Raum. Er zog an einer Schnur und Licht erfüllte den Raum. Wir drei folgten hinter ihm und ich zuckte zusammen, als das Regal wieder an seinen Platz glitt und uns einsperrte.

Iban verschwendete keine Zeit damit, zu den Regalen zu gehen und die Buchrücken abzusuchen, während Della und Nova sich umschauten. Ich fuhr mit einem Finger über das Leder und spürte das Flüstern der Magie in diesen Büchern über mich hinwegstreichen.

»Du kannst es fühlen, nicht wahr?«, fragte Iban und zog zielsicher ein Buch aus dem Regal. Er legte es vorsichtig auf den Tisch und blätterte durch die Seiten. Auf der gegenüberliegenden Seite tat ich es ihm gleich, als ich ebenfalls einen Band entdeckte, der mich interessierte. Della und Nova brauchten länger, um sich umzusehen, und zogen immer wieder Bücher heraus, bevor sie sie doch zurückstellten.

»Die sind alle auf Latein«, bemerkte ich, schlug ein Buch über Charlottes Abmachung auf und überflog die erste Seite. Der Text erzählte von ihrem Leben vor dem Pakt und listete die Namen jener Männer auf, die sie der Hexerei beschuldigt hatten.

Jonathans Name stand dort in fetten Lettern und es machte mich fassungslos, wenn ich daran dachte, was er getan hatte, um sich einen Platz unter den Verfluchten zu verdienen. Er hatte vor Charlotte ein Dutzend Frauen angeklagt und sie gezwungen, ihre Unschuld zu beweisen, indem er sie in den Fluss warf. Wenn sie überlebten, hatte er sie dazu verurteilt, am Galgen gehängt zu werden.

Diese Vorstellung schien weit entfernt zu sein von dem Kater, der friedlich in meiner Umhängetasche döste und glücklich schnurrte, während er träumte. Ich ließ die Tasche langsam zu Boden sinken und stellte ihn sicher ab, obwohl er diese Freundlichkeit von mir wahrscheinlich nicht verdient hatte.

Hätte er Charlottes Namen nie genannt, wäre das alles nicht passiert.

Die nächste Seite erzählte, wie sie in den Wald gegangen war, und ich berührte mit einem Finger die ordentliche Schreibschrift, die das Blatt füllte. Wie viele Jahre später war sie zurückgekommen, um ihre Geschichte zu erzählen und sie für alle, die nach ihr kamen, hier niederzuschreiben?

»Das ist Charlottes Tagebuch«, sagte ich und schaute zu Iban hinüber, gerade als Della und Nova sich setzten.

Er nickte und warf einen raschen Blick darauf. Er hatte den Inhalt offensichtlich schon gelesen oder zumindest überflogen, um zu wissen, worum es sich handelte. »Du solltest es mitnehmen. Sie würde wollen, dass du es bekommst.«

Mit einem Nicken erhob ich mich und legte das Tagebuch beiseite. Wenn ich es schon mitnahm, dann wollte ich zumindest in den hier verbleibenden Texten etwas finden, das die Antwort für Gray enthalten könnte. Wenn Iban das Tagebuch bereits gelesen hatte, konnte ich davon ausgehen, dass es uns nicht die Antworten geben würde, die wir brauchten.

»Hier ist es«, sagte Iban, blätterte um und stand auf. Ich stellte mich hinter ihn und schaute ihm über die Schulter, als er auf die Zeichnung auf der Seite deutete. Die Waffe auf der Seite war grob, mit einem Griff aus Knochen, der in Stahl eingefasst war. Ich überflog die Worte auf der Seite und schluckte den direkten Protest hinunter.

Diabolus Interfectorem.

Teufelsmörder.

»Das tötet sie. Ich dachte aber, wir suchen nach einer Möglichkeit, sie zurück in die Hölle zu schicken«, bemerkte ich und versuchte, Ruhe zu bewahren. Ich ging zurück zu den Regalen und fuhr mit dem Daumen über die Buchrücken, während ich das bedeutungsvolle Schweigen der anderen hinter mir ignorierte. Mein Puls pochte in meinem Kopf und übertönte alle Geräusche. Die Worte verschwammen vor meinen Augen und mir wurde schwindelig bei dem Gedanken, was sie von mir verlangen könnten.

»Willow, ist alles okay?«, erkundigte sich Della, die als Erste die Distanz überwand und auf mich zukam. Sie berührte meinen Arm, zog ihn von den Regalen weg und zwang mich, zu ihr zu sehen.

»Mir geht’s gut«, antwortete ich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Regale.

»Vielleicht sollten wir uns dann wenigstens einmal anschauen, was Iban gefunden hat und was man dafür tun müsste«, sagte sie, ihre Stimme klang viel zu sanft.

»Juliet wird dir nie verzeihen, wenn wir sie töten«, flüsterte ich, unsicher, ob Iban von ihrer Beziehung wusste.

Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. »Das lass mal meine Sorge sein.« Sie führte mich zurück zum Tisch und zwang mich, auf das Abbild des Dolchs hinunterzusehen, der mir ein ungutes Gefühl in der Magengrube verursachte.

Lucifer konnte getötet werden.

»Wir würden ihn mit der Magie jedes Hauses tränken«, erklärte Iban und ging zu einem der Regale. Er holte eine Truhe aus dem obersten Regal und stellte sie auf den Tisch. Langsam klappte er sie auf und drehte sie so, dass wir den Dolch sehen konnten, der in der Kiste lag. Alle Schöpfungen trugen eine deutliche Spur der Quelle in sich, und dass der Griff aus Knochen geschnitzt war, hätte bedeuten sollen, dass ich seine Magie in mir spürte. Doch dieser Dolch war anders.

Wo eigentlich etwas hätte sein sollen, existierte nur eine Leere, die darauf wartete, ausgefüllt zu werden.

»Es ist zu riskant. Er wird jeden umbringen, der damit zu tun hat«, sagte ich kopfschüttelnd und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es wird überhaupt nicht riskant, Willow«, entgegnete Iban und seine Miene wurde sanfter. »Denn du bist diejenige, die es tut. Du musst es aber vor allen Dingen zu Ende bringen.«

Ich schluckte und starrte den Dolch entsetzt an. »Ihn zurückzuschicken, ist eine Sache, ihn zu töten, noch mal eine ganz andere. Ich bin nicht …« Ich brach ab. Ich konnte mir nicht eingestehen, dass ich nicht stark genug war, um zuzusehen, wie der Atem aus seiner Lunge wich und das Licht aus seinen Augen schwand. Diese Tat auszuführen, würde etwas in mir zerbrechen, auch wenn ich es nicht zugeben wollte.

»Ach du Scheiße«, keuchte Iban und taumelte einen Schritt zurück, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Du hast Gefühle für dieses verdammte Monster?«

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte ich und schüttelte den Kopf. Della riss überrascht die Augen auf.

»Er hat dich erstochen! Er hat dich die ganze Zeit, die du ihn kennst, belogen! Er hat zwölf unserer Hexen getötet!«, rief er.

Ich begann hektisch zu gestikulieren, während ich nach jenen Worten suchte, mit denen ich die Anschuldigung in seinem Blick widerlegen konnte. »Glaubst du, ich weiß das nicht?!«, schrie ich zurück, bereit, mir die Haare auszureißen. »Ich weiß, was er getan hat!«

»Wie kannst du dann Gefühle für ihn haben?«, hielt Iban dagegen. Die unausgesprochenen Fragen hingen zwischen uns. Warum er? Warum nicht ich?

»Er sieht mich«, antwortete ich und versuchte, den verletzten Ausdruck auf Ibans Gesicht zu ignorieren. »Er sieht mich ganz und gar, und er akzeptiert mich so, wie ich bin. Nicht nur so, wie er mich haben will.«

»Ich sehe dich«, sagte Iban leise, seine Stimme klang traurig und er ließ die Hände an die Seiten sinken.

Ich lächelte und die Traurigkeit in meiner Brust ließ nach, als ich mein Kinn reckte. »Du kennst mich doch gar nicht.«

Iban straffte die Schultern und nickte. »Du hast recht. Wenn du in der Lage bist, Liebe für ihn zu empfinden, dann kenne ich dich wirklich überhaupt nicht. Willst du ihn loswerden, ist das der einzige Weg.«

»Such dir jemand anderen«, erwiderte ich, blickte auf den Dolch auf dem Tisch und ignorierte das Unverständnis in Ibans Blick.

»Sweetheart.« Er streckte die Hand aus, um meine Wange zu berühren. Die Sanftheit schmerzte weit mehr, als es seine Wut getan hätte, als erkannte er, wie nahe mich das an den Rand des Abgrunds bringen würde. »Du bist die Einzige, die nahe genug an ihn herankommen kann. Denkst du nicht, dass andere auch schon versucht haben, ihn zu verführen, um eine Schwachstelle zu finden? Nur du bist dazu in der Lage.«

Ich kämpfte gegen das aufsteigende Knurren in meiner Kehle an, dagegen, meine Lippen zu verziehen, um nicht preiszugeben, dass ich mich zu sehr sorgte. Jonathan kletterte aus der Umhängetasche auf dem Boden, sprang auf meinen Stuhl und stolzierte über den Tisch, um an der Klinge zu schnuppern.

Er fauchte sie an und sprang mit gesträubtem Fell und einem Buckel zurück.

»Wir können sie dann zurückschicken. Ich werde das Siegel wieder öffnen«, sagte ich.

»Und dabei sterben? Auf gar keinen Fall«, widersprach Nova von ihrem Platz aus.

»Es muss einen anderen Weg geben!«, brüllte ich und zuckte zusammen, als Jonathan sich herumdrehte, an die Tischkante herantrat und seine Wange an meiner Seite rieb.

»Den gibt es nicht«, sagte Iban.

»Willow, wenn du es nicht schaffst, ist das in Ordnung. Wir finden einen Weg, für den Moment nebeneinander zu bestehen. Wir können das immer noch tun, wenn du Zeit hattest, darüber nachzudenken«, warf Della mit hoffnungsvoller Stimme ein. So sehr sie auch versuchte, so zu tun, als würde der Konflikt mit Juliet sie nicht in Stücke reißen, wusste ich doch, dass es genau so sein würde.

»Er kann nicht hierbleiben, Del. Jeder Tag, den ich mit ihm verbringe, ist …«

»Ein weiterer Tag, den er damit verbringt, dir unter die Haut zu gehen«, sagte sie mit verständnisvoller Miene, während sie den Dolch aus der Truhe nahm. Sie wirbelte ihn in ihrer Hand, stand auf und kam von der anderen Seite des Tisches auf mich zu. Sie blieb neben mir stehen und präsentierte mir die Klinge auf ihren ausgestreckten Handflächen. »Dann musst du eine Entscheidung treffen.«

Ich schluckte und holte tief Luft, als ihr kühler Blick den meinen traf. Meine Unterlippe zitterte von der Wut, die ich in mir trug, aber ich hatte nur eine Wahl, wenn ich das Richtige tun wollte.

Ich ergriff das Messer.