Willow
Della und Nova verließen die Bibliothek zuerst; Iban blieb zurück, um die Bücher wieder zurückzustellen. Das Messer steckte in einer Außentasche meiner Umhängetasche, sorgfältig verstaut, um Jonathan nicht damit zu verletzen, sobald ich sie mir auf die Schulter hievte. Er hatte sich in der Tasche zusammengerollt und knurrte, als ich sie mir umschlang.
Ich hielt mich nicht damit auf, mich von Iban zu verabschieden, als ich durch den winzigen Spalt zwischen dem Regal und der Wand, den Nova aufgestoßen hatte, wieder herausschlüpfte. Ich brauchte Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten.
Und was ich zu tun bereit war, aber nicht konnte.
Obwohl ich wusste, dass es das Richtige war, würde ich es mit ziemlicher Sicherheit nicht schaffen, Gray selbst zu töten. Ich schüttelte den Kopf, als ich den Korridor zum Treppenhaus hinunterging, und überlegte krampfhaft, was ich tun könnte. Es musste doch noch jemand anders geben.
Irgendwen anders.
»Willow, warte!«, rief Iban und eilte hinter mir aus der Bibliothek. Ich hielt inne, obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als in die Gärten zu gelangen, meine Hände im Boden zu vergraben und die Erde zu spüren. Ich brauchte die Erinnerung daran, dass es noch etwas anderes in mir gab, dass ich Gefühle und Gedanken haben durfte, auch wenn die Welt das anders sah.
»Was willst du?«, fragte ich und wirbelte herum, um ihn mit einem Blick zu fixieren, in dem meine ganze Verzweiflung lag.
Er rückte seine eigene Tasche auf der Schulter zurecht und lächelte traurig über das, was er auf meinem Gesicht sah. Er ließ nicht locker und ging einen weiteren Schritt auf mich zu, drang weiter in meinen Raum ein. In jeder anderen Situation hätte diese Nähe vielleicht Trost gespendet, stattdessen fühlte sie sich bloß erdrückend an. »Du tust das Richtige«, sagte er mit leiser Stimme. Für mich fühlte es sich jedoch wie ein Zweig an, der zwischen uns zerbrach; der Knacks in meinem Herzen hallte durch den Raum, bis ich mein entrüstetes Schnauben nicht mehr zurückhalten konnte.
»Tue ich das?«, fragte ich und beobachtete, wie Entsetzen und Verwirrung das sanfte Lächeln von seinem Gesicht vertrieben. Ein paar Schülerinnen und Schüler passierten uns, ohne mich anzusehen, die Augen zu Boden gerichtet, machten sie sich auf den Weg in die Bibliothek. Ich war von der Ausgestoßenen zur Anführerin geworden, aber das änderte nichts an der Aburteilung und der Angst, die die Hexen wegen meiner Verbindung zu Gray gegen mich hegten.
»Wovon redest du?«, fragte Iban und trat noch einen Schritt näher. Ich wich zurück, schüttelte den Kopf und hob eine Hand, um ihm zu bedeuten, dass er Abstand halten sollte.
»Wofür genau kämpfe ich hier? Was soll ich schützen? Menschen, die mich nie akzeptieren werden?«, fragte ich und gestikulierte zur Bibliothekstür, die hinter den Hexen zuschlug. Iban und ich waren wieder allein, die Stille der Steinmauern bedrängte mich und meine Füße waren viel zu weit von der Erde unter mir entfernt.
Es fühlte sich an wie ein Sturm, der in meinem Blut tobte, als wäre ich nur zwei Minuten von einer Katastrophe entfernt, bei der ich Hollow’s Grove in meinem Zorn verschlingen würde.
»Gib ihnen einfach Zeit. Wenn du ihnen das gewährst, werden sie dich anbeten«, sagte Iban mit einem Lachen. Er hielt das für witzig, aber wir wussten beide, dass es der Wahrheit entsprach. Ich würde einen Dienst erweisen, um die Zuneigung von Leuten zu gewinnen, die in einem anderen Leben vielleicht meine Familie gewesen wären.
Eine weitere Prüfung, um den Personen, die mich eigentlich lieben sollten, meinen Wert zu beweisen.
Ich presste die Lippen aufeinander und knirschte so fest mit den Zähnen, dass ich davon Kopfschmerzen bekam.
»Willow …« Iban schien zu bemerken, dass er etwas Falsches gesagt hatte.
»Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass ich es vielleicht verdiene, so akzeptiert zu werden, wie ich bin, und nicht dafür, was ich euch bieten kann?«, fragte ich und wich einen weiteren Schritt von ihm zurück. Wenigstens stand Gray zu seinen Taten und gab nicht vor, unschuldig zu sein. Ich brauchte den Abstand, damit ich mich zu nichts verleiten ließ, was ich später bereuen würde. Damit ich vor Wut nicht mit der Magie um mich schlug, die meine Haut überzog. Sogar Jonathan jaulte auf und steckte seinen Kopf aus meiner Tasche, um mich warnend anzuschauen. »Ich würde gerne nur einmal etwas für mich selbst tun dürfen und nicht, weil der verdammte Coven darauf angewiesen ist, dass ich seinen Scheiß in Ordnung bringe.«
»Ich kenne dich. Du willst nicht ihn . Du bist verwirrt und das verstehe ich. Er ist ein Meister der Manipulation, Sweetheart. Er weiß genau, was er sagen muss, damit du dich von allem abwendest, was dir wichtig ist. Umso mehr musst du kämpfen, um dich von ihm zu befreien. Wir beide wissen, dass er dich nie loslassen wird, solange er hier ist«, sagte Iban und lehnte sich mit der Schulter an die Steinmauer. Ich warf einen Blick aus dem winzigen Fenster am oberen Ende der Treppe auf den Wald hinaus. Er erinnerte mich an die Abmachung, die wir getroffen hatten. Solange er blieb, würde ich nie von diesem Ort loskommen.
»Das kannst du nicht wissen«, sagte ich stattdessen und zuckte mit den Schultern. »Ihm könnte langweilig werden.«
»Das wird es nicht«, erwiderte Iban traurig, als ich die Schultern sinken ließ. An die Stelle der Wut trat jetzt Niedergeschlagenheit; ich würde mich zwischen dem Coven und Gray entscheiden müssen, egal was ich tat. Ich konnte nicht beides haben – nicht, wenn ich wollte, dass der Coven mich so wertschätzte wie seine eigenen Leute.
Vielleicht waren Gray und ich am Ende gar nicht so verschieden, denn der Kummer, der sich in meine Brust krallte, kam nicht daher, dass ich Crystal Hollow nicht verlassen konnte.
Ich wollte einfach einen Ort haben, den ich mein Zuhause nennen konnte – einen Ort, an den ich gehörte.
Iban trat wieder näher und schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Seine Finger strichen über meine Haut und ihre Wärme machte mir die Kälte, die mich überfallen hatte, viel zu bewusst. »Bei mir wäre es zumindest nicht so«, sagte er mit trauriger Stimme.
Ich schlug seine Hand weg und blickte ihn warnend an. Seine Worte waren eine leise Manipulation; er spielte mit mir, denn er wusste, dass ich verletzlich war. Meine Meinung über ihn sank noch weiter. Ich schluckte schwer, ich mochte über diesen Verlust nicht auch noch nachdenken. Mir genügte schon der Kummer, der mir blühte, sollte ich meinen Ehemann kaltblütig ermorden.
»Das ist nicht fair.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum muss ich es sein? Warum bin ich es immer?«
»Es ist nicht fair. Ich würde es dir abnehmen, wenn ich könnte, aber …« Er brach ab.
»Ich weiß«, sagte ich und schürzte die Lippen. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass Iban mehr als bereit wäre, die Klinge in Grays Herz zu stoßen, um dessen Leben zu beenden und mich zu befreien. Ich war zwar nicht besonders vertraut mit den Gedanken der Männer, aber man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass er mehr als einen Grund sah, Gray auszulöschen.
Der eine war egoistisch. Der andere nicht.
»Ich sollte die Klinge besser erst einmal nehmen«, bemerkte Iban und griff in die Umhängetasche an meiner Seite. Ich legte die Hand auf seine, denn mein natürlicher Instinkt flüsterte mir zu, dass ich den mächtigen Gegenstand in meiner Reichweite behalten sollte. »Es würde nicht gut ausgehen, wenn Gray sie entdeckt, bevor wir auch nur die Chance hatten, sie gegen ihn einzusetzen.« Selbst wenn das Gesagte Sinn ergab, konnte ich seine Hand in der Tasche nicht freigeben. »Ohne dich ist die Waffe nutzlos, Willow. Du musst sie mit deiner Magie belegen, damit sie funktioniert«, erklärte Iban. Seine Worte klangen ermutigend und verdrängten die Schuldgefühle, die an mir nagten.
Ich schüttelte mein Misstrauen ab, erkannte die Wahrheit in dieser Aussage und seufzte. Nickend zog ich meine Hand zurück und erlaubte ihm, die Klinge diskret in seine eigene Tasche zu stecken. Durch den Austausch waren wir uns nun zu nahe, sein Gesicht war über meines geneigt, während er sich an die Wand lehnte.
Mir stockte der Atem, als er langsam den Kopf senkte. Seine Augen verdunkelten sich und ich starrte nur zu ihm hoch. Seine Bewegungen waren bedächtig, in den Augen standen lauter Fragen, und er wartete auf die Ablehnung, die ich nicht aufbringen konnte.
Ich musste herausfinden, ob Grays Zwang mich immer noch gefangen hielt, ob dieser irgendeinen Anteil daran hatte, weshalb ich so auf ihn reagierte. Wenn ich bei Iban etwas fühlte, würde ich wissen, dass es echte Anziehung war.
Sein Mund berührte sanft den meinen, es war die zarteste Berührung von Haut auf Haut, kaum das Flüstern eines Kusses. Ich hielt ganz still und wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst vor dem, was meine Instinkte mir sagten.
Ich musste es herausfinden.
Seine Nasenspitze rieb gegen meine, als er sich nach vorn beugte; eine zärtliche Liebkosung, die sich falsch anfühlte. Er drückte die Lippen fester auf meine und seine Hand glitt unter mein offenes dunkles Haar, er umfasste meinen Kiefer und hielt mich fest. Ich schloss die Augen und verdrängte den Anblick jenes Mannes, den die Welt für mich ausgesucht hatte. Ich konnte es nicht ertragen, ihn anzuschauen, schob die Wahrheit, die mir ins Gesicht starrte, weit von mir.
Sobald ich jedoch die Augen schloss, sah ich nur noch Grays arrogantes Grinsen, mit dem er auf mich herabschaute. Alles, was ich fühlte, war die sanfte Liebkosung seines Mundes auf meinem, die Art, wie er sich zwischen meine Lippen drängte und mich zwang, alles zu geben.
Ibans Kuss war zu sanft, sein Mund zu schmeichelnd, als er versuchte, mich für sich zu gewinnen. In seinen Berührungen lag kein Kampf oder Krieg, nur Süße, wo ich Leidenschaft wollte.
Ich wich zurück und knallte mit dem Kopf gegen die Wand hinter mir, als ich mich von ihm losriss. Ich schlug mir die Hand vor den Mund und beobachtete mit großen Augen, wie Iban viel langsamer die Lider aufschlug. »Willow«, sagte er mit tiefer und rauer Stimme. Er schien mein Desinteresse gar nicht zu bemerken, als hätte er gerade einen ganz anderen Kuss erlebt.
»Das war ein Fehler«, sagte ich und schüttelte die Anspannung ab, während ich mir hektisch mit dem Handrücken über die Lippen wischte. Ich schlüpfte zwischen Iban und der Wand hervor und eilte zur Treppe, um in die Gärten zu entkommen.
»Er hat deine Loyalität nicht verdient!«, rief Iban, aber es lag kein Zorn in seinen Worten. Nur Enttäuschung und der Schmerz der Ablehnung.
Dennoch kochte allein wegen dieser verurteilenden Aussage mein Ärger hoch. »Du hast recht, aber wenn wir ganz ehrlich sind?« Ich nickte bekräftigend. »Du auch nicht.«