28

Willow

Ich lief durch den Korridor zu dem Raum, in dem die Legatinnen und Legaten sich mit ihrem Channeling-Kurs abplagten. Es hätte die unterhaltsamste aller Unterrichtseinheiten sein sollen, eine Gelegenheit, die Magie in uns zu umarmen, aber der Professor, der dort unterrichtete, hatte sich von den alten Wegen abgewendet.

Es war schwer, die Magie zu lenken – also, zu kanalisieren –, wenn sie nicht auf den Ruf antwortete, weil man sie vernachlässigt hatte.

Ich wartete draußen auf das Klingeln der Glocke und lehnte mich an die Wand. Mein Körper schmerzte bei jedem Schritt, aber ich war fest entschlossen, mich nicht von meinem Vorhaben abhalten zu lassen. Die letzte Nacht hatte mir nur bewiesen, dass ich alles daransetzen musste, um diese Welt von Lucifer zu befreien.

Ich musste alles tun, was nötig war, um Ihn so schnell wie möglich aus meinem Leben und meinem Körper zu vertreiben.

Iban kam mit einer Gruppe Freunde aus der Klasse und über seine Schulter hinweg begegnete ich Dellas Blick. Ich nickte ihr wortlos zu und beobachtete, wie sie den Mund verzog und den Kopf senkte. Ich hasste es, was meine Taten mit ihrer Beziehung anstellen würden, aber die Alternative war undenkbar.

Wenn Gray mich schon in so kurzer Zeit so tief beeinflusst hatte, was würde er tun, wenn er über Jahre Zeit hätte, mich zu manipulieren? Wie lange würde es dauern, bis ich so eng an ihn gebunden war, dass ich glaubte, er liebe mich? Oder noch schlimmer, dass ich ihn genug liebte, um ihm seine Fehler zu verzeihen?

»Willow.« Iban klang zögerlich. Seine Freunde sahen ihn fragend an, aber er winkte sie fort, nahm mich an der Hand und führte mich zu einer abgelegenen Nische. »Was machst du denn hier?«

»Ich tue es«, sagte ich, meine Stimme war fester als gestern. »Kannst du die Leute zusammentrommeln, die wir für den Zauber brauchen?«

Er legte den Kopf schief, ließ meinen Arm los und blieb auf Abstand. Seine Begegnung mit dem Tod schien Wunder zu bewirken, da er meinen persönlichen Raum respektierte. »Warum hast du deine Meinung geändert? Ich weiß, dass du gestern nicht ganz bei der Sache warst. Hat er dir etwas angetan?«

Ich errötete, meine Wangen wurden heiß bei der Erinnerung an all die Dinge, die er mit mir in der Nacht zuvor angestellt hatte. Es hatte sich wie eine Strafe und eine Belohnung angefühlt, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er wütend auf mich war oder erleichtert, dass ich ehrlich war und nichts von Ibans Kuss gespürt hatte.

»Er hat versucht, dich zu töten«, sagte ich, die Lüge schnürte mir die Kehle zu. Zu was für einer Person war ich geworden, dass diese Tatsache nicht die treibende Kraft hinter meiner Entscheidung war, Gray loszuwerden?

Iban sah aus, als würde er mir nicht glauben, Misstrauen überschattete seine jungenhaft schönen Gesichtszüge. Aber er sprach mich nicht auf die Lüge an, sondern nickte und schaute über meine Schulter. »Ich treffe sie in einer Stunde in der Bibliothek. Kannst du das einrichten?«

Ich warf einen Blick in Richtung des Korridors, der zu Grays Klassenzimmer führte, und war unschlüssig. Der Käfig um mein Herz war seinetwegen zerbrochen und ich fühlte mich rastlos und unter Spannung. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dies der größte Fehler meines Lebens sein würde, doch ich würde diese Schutzmauer nur wieder aufbauen können, wenn er fort war.

Ich war zwar nicht ohne Herz geboren wie seine Hülle, dennoch bevorzugte ich diese Gefühllosigkeit, die von tausend scharfen Schnitten in meiner Seele herrührte.

Das Leben hatte mich gebrochen. Mein Vater hatte mich gebrochen.

Aber Gray hatte mich zerschmettert .

Ich würde ihm nicht die Zeit und die Gelegenheit geben, es noch einmal zu tun. Selbst wenn das bedeutete, dass ich mich zurück an diesen Ort verbannen würde, an dem nichts wirklich zählte. Die Ironie war mir durchaus bewusst.

Gray besaß kein Herz, mit dem er mich lieben konnte, doch er war bereit, alles dafür zu tun, um es zurückzubekommen.

Während ich bereit war, meines wegzuwerfen.

»Ich werde da sein«, antwortete ich und lächelte Iban sanft zu, als er sich wortlos von mir abwandte. Ich überließ es ihm, die Leute zusammenzurufen, die wir brauchten. Zumindest Della und Nova würden mir als stille Unterstützung zur Seite stehen, bis ich das erledigen musste, was ich am dringendsten vermeiden wollte.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Nova, als sie neben mir auftauchte. Della wich meinem Blick aus und eilte los, um Juliet zu finden. Ich konnte nur hoffen, dass sie ihr nichts verraten würde. Aber selbst wenn das der Fall wäre, hätte ich ihr keinen Vorwurf machen können. Nur weil ich bereit war, mein Herz zu opfern, hieß das nicht, dass ich das von ihr ebenfalls erwartet hätte.

Nicht jeder musste zwischen Liebe und Pflicht wählen, zwischen dem, was man wollte, und dem, was richtig war. Manche Liebe ergab einfach Sinn. Sie fügte sich in die realistischen Erwartungen einer Beziehung ein, fühlte sich mehr wie das langsame Wachsen von Wurzeln unter der Oberfläche an als ein Blitz, der in die Äste hineinkrachte. Gray und ich würden die Welt in Schutt und Asche legen, wenn ich unserer Liebe erlaubte zu wachsen und sie als Teil von mir akzeptierte, auch wenn sie unnatürlich war.

»Nein«, gab ich zu und blickte in die grauen Augen meiner Freundin.

Nova lächelte traurig und legte den Kopf schief, als ob sie verstehen würde.

Doch das tat sie nicht. Keiner von ihnen verstand es.

»Weißt du, es ist okay, wenn es dir nicht gut geht. Du musst nicht immer für uns stark sein«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an meinen.

Ich kämpfte gegen das Brennen der Tränen an und nickte. »Vielleicht brauche ich euch für eine Weile, um stark zu sein, aber im Moment muss ich weiterkämpfen«, sagte ich und weigerte mich, sie anzuschauen. »Denn das ist es, was ich bin.«

Das Echo von Grays Worten hallte tief in meiner Brust wider, und mir war nur allzu bewusst, dass ich bei genau diesen Worten Trost suchte. Nicht bei der Erinnerung an die Umarmung meiner Mutter oder ihre Ermutigungen, sondern bei den Worten jenes Mannes, den ich in dieser Nacht töten wollte.

Ich löste mich langsam von Nova und machte mich auf den Weg zu Grays Klassenzimmer. Er stand vorne und sah aus, als hätte ihn der Schlafmangel der letzten Nacht nicht im Mindesten beeinträchtigt. Ich fühlte mich halb tot, als ich auf ihn zuging und mich zwang, diejenigen zu ignorieren, die uns durch die offene Tür beobachteten.

Er drehte sich um und hob die Augenbrauen, als er mich dort stehen sah. »Kleine Hexe?« Er legte die Kreide auf das Metalltablett am unteren Ende der Tafel und klopfte seine Hände ab.

»Ich hasse dich«, sagte ich leise. Er spannte sich an, wappnete sich für diesen Streit, mit dem er gerechnet hatte. Wir hatten dieses Spiel schon viel zu oft gespielt, als dass er etwas anderes erwartet hätte. Ich rang die Hände und knibbelte an meinen Fingernägeln, während ich nach den richtigen Worten suchte.

Wenn ich ihn schon aus meinem Leben streichen und mich von ihm verabschieden würde, dann wollte ich ihm wenigstens ein einziges Mal die Wahrheit sagen.

»Willow …« Seine Frustration spiegelte sich in seiner Stimme wider und zwang mich, einen weiteren Schritt auf ihn zuzugehen. Er kam mir an der Seite des Schreibtisches entgegen und seine Miene wurde weicher, als er mein Unbehagen bemerkte. Er wusste, was ich zu sagen versuchte. Er wusste, dass ich ihm nicht wirklich sagen wollte, dass ich ihn hasste. »Ich weiß«, fügte er leise hinzu.

»Ach ja?«, gab ich zurück und legte den Kopf schief. »Hast du eine Ahnung, wie es ist, wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dich aus meinem verdammten Herzen zu reißen? Weißt du, wie sehr ich es hasse, dass die Person, die mir die meiste Freundlichkeit entgegengebracht hat, diejenige ist, die ich eigentlich verachten sollte?«

»In dem Moment, in dem ich dich sah, wusste ich, dass du mir gehörst. Anschließend habe ich die nächsten fünfzig Jahre damit verbracht, auf dich zu warten. Ich habe dich lange Zeit gehasst, kleine Hexe. Du hast alles bedroht, was ich seit Jahrhunderten geplant und aufgebaut hatte. Also ja, ich verstehe«, sagte er und strich mir mit den Fingerknöcheln über die Wange. »Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass es mir egal ist, was moralisch richtig ist. Ich nehme mir, was ich will, ohne jede Scham. Du würdest dich lieber zur Märtyrerin machen, damit du deine Gefühle für mich ausblenden kannst.«

»Das ist nicht fair«, sagte ich und wich vor der Frustration in seiner Stimme zurück.

»Nein? Was schuldest du diesen Menschen, für die du so erbittert kämpfen würdest? Vor ein paar Wochen hättest du noch gelacht, hätte ich gesagt, dass du zu ihnen gehörst«, sagte Gray und ich hasste es, die Wahrheit in dieser Aussage nicht leugnen zu können.

Ich hatte mir nichts sehnlicher gewünscht, als mein Leben mit Ash zu verbringen und den Coven seinen eigenen Problemen zu überlassen.

»Sie sind meinesgleichen. Und jetzt, da der Covenant nicht im Weg steht …«

»Du kannst sie nur eine bestimmte Zeit lang als Schutzschild benutzen, kleine Hexe«, erwiderte er und nahm ein Buch von seinem Schreibtisch. »Ich muss mich auf meine nächste Klasse vorbereiten, wenn du also nur hier bist, um dich zu streiten, solltest du dich lieber aus dem Staub machen.«

Ich seufzte, legte die Finger auf sein Buch und drückte es nach unten. Er starrte mich vielsagend an und ich schluckte meinen Frust über ihn herunter. »Ich benutze sie nicht als Schutzschild.«

»Tust du nicht?«, fragte er und schnippte meine Finger von seinem Buch.

»Warum musst du so kompliziert sein?«, fragte ich und drehte ihm den Rücken zu. Ich machte mich auf den Weg zur Tür, fest entschlossen, ihm die Privatsphäre zu geben, die er noch vor einem Moment so verzweifelt gesucht hatte.

»Ich?«, fragte er und schnaubte vor Lachen. »Du bist hierhergekommen, um einen Streit zu provozieren. Dann besitzt du auch noch die Frechheit, wütend auf mich zu werden, wenn ich dir Fragen stelle, die du dir selbst noch nicht stellen kannst.«

Ich seufzte und ließ die Arme hängen, als der Kampfeswille aus mir wich. »Ich bin nicht hergekommen, um einen Streit anzufangen«, erwiderte ich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du weißt, wie man keinen Streit anzettelt«, sagte er, aber auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Was möchtest du, Liebes?«

»Ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut. Es war falsch von mir, mich gestern von Iban küssen zu lassen. Es wird nicht wieder vorkommen«, erklärte ich und beobachtete Gray. Er legte sein Buch vorsichtig zurück und schloss zu mir auf. Als er den Kopf neigte, gab es für mich nur zwei Möglichkeiten.

Entweder würde er etwas Grausames tun oder er dachte, ich würde gleich zusammenbrechen.

Ich war unsicher, welche seiner Reaktionen mich in diesem Moment mehr verletzen würde, immer im Hinterkopf, was ich später vorhatte. Seine Grausamkeit würde für den Augenblick wehtun, aber es im Nachhinein leichter machen; seine Freundlichkeit würde das Gegenteil bewirken.

Langsam kam er auf mich zu und hielt kurz vor mir inne, um die Kette meiner Mutter, die um meinem Hals hing, anzufassen. Er spielte damit, sah mir dabei in die Augen. »Das weiß ich und ich danke dir für deine Entschuldigung«, erwiderte er und ließ die Kette wieder zurückfallen. »Aber das ist nicht das, was du mir sagen wolltest, und schon gar nicht das, was ich verdammt noch mal hören will.«

Ich schluckte und bereute die Entscheidung, zu ihm gekommen zu sein. Ich konnte die Worte nicht finden, die mir so leichtgefallen waren, als sein goldener Blick nicht auf mich gerichtet war.

Ein goldener Blick, den ich wahrscheinlich nur noch ein einziges Mal sehen würde, wenn das Leben endgültig aus ihm wich.

»Das war ein Fehler«, sagte ich mit einem Kopfschütteln und wandte mich zum Rückzug.

Gray packte mich im Nacken und drehte mich zurück zu ihm. Sein Mund landete grob auf meinem und seine Zunge schob sich zwischen meine Lippen. Genauso plötzlich zog er sich zurück und ließ mich hinter sich. »Sag es.«

» Ich hasse es, dass du mich dazu gebracht hast, dich zu lieben.« Die verzweifelten Worte drangen nur als kaum hörbares Flüstern über meine Lippen. Ich konnte das Bedürfnis, das in meinem Herzen pulsierte, nicht leugnen, und auch nicht die Art und Weise, wie sich jede seiner süßen und fürsorglichen Handlungen unter meine Haut geschlichen hatte. Er mochte der Teufel sein und zu großem Übel fähig, aber er kümmerte sich auch um mich, wie ich es noch nie zuvor erfahren hatte.

Er zeigte mir bei jeder Gelegenheit, was ich ihm bedeutete, und das zermürbte mich mehr als alles andere, bis nur noch diese Wahrheit übrig blieb.

»Ich weiß, dass du das tust, kleine Hexe«, sagte er und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine Augen leuchteten, als hätte ich ihm mehr Magie eingeflößt, als er zu bändigen vermochte, und die Sonne badete ihn in warmem Licht und ließ ihn wie den Engel erscheinen, der er einmal gewesen war.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Teil ist, in dem du die Worte erwidern sollst«, sagte ich und zog einen Schmollmund.

Sein Grinsen wurde breiter, als er sich zu mir herunterbeugte und seinen Mund jetzt viel sanfter auf meinen drückte. Er verweilte dort, teilte seinen Atem mit mir und hielt meinen Blick fest. »Ich liebe dich, kleine Hexe. Für alles, was du bist, und für alles, was du nicht bist.«

Ich seufzte erleichtert auf und lächelte durch den bittersüßen Schmerz hindurch.

Ein einziger Moment des Glücks, den ich mein Eigen nennen konnte, bevor die Erinnerung zur Qual wurde.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, während ich die Arme um seinen Hals schlang. Lucifer legte Seine Arme um meine Taille, hob mich von meinen Füßen und hielt mich fest.

Ich hoffte, er würde das Messer später nicht kommen sehen.

Ich hoffte, er würde keinen Schmerz empfinden.