37

Willow

Nachdem wir uns für den Tag fertig gemacht hatten, gingen Gray und ich getrennte Wege. Er suchte seine Klasse auf, die er vorerst unbedingt behalten wollte. Ich machte mich auf nach draußen zu den Gärten. Nach unserem Gespräch am Morgen musste ich mich in der Natur erden.

Ich brauchte die Erinnerung an meine Mutter, die Erinnerung an die Freude, die meine Familie mir gebracht hatte.

Ich hatte mir bisher nicht erlaubt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, Kinder zu kriegen. Aber wollte ich diese Option wirklich nie für mich in Anspruch nehmen? Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, dass meine ideale Welt nicht darin bestünde, Ash nach Crystal Hollow zu bringen, sobald wir irgendeinen Weg gefunden hatten, den Streit zwischen den Erzdämonen und dem Coven zu schlichten.

Die Wahl wäre für ihn nicht mehr nötig, nicht wenn ich bereits das Schicksal erfüllt hätte, das der vorherige Covenant zu verhindern versucht hatte.

Die Blumen umgaben mich, als ich durch sie hindurchstreifte, und wiegten sich in der Hoffnung, dass ich ein Opfer bringen würde. Ich streckte einen Arm aus und ließ zu, dass sich die Stängel um meinen Unterarm wickelten und sich zusammenzogen, bis sie Blut saugten. Nach einer Kostprobe zogen sie sich zurück und glitten in die Beete. Die Wunden an meinem Arm waren wie ein zartes Seil, die Haut schimmerte und heilte vor meinen Augen. Die Vertrautheit der Gärten, die sich nahmen, was sie brauchten, hatte etwas Beruhigendes und erinnerte mich daran, dass trotz aller Veränderungen eine Sache immer noch galt.

Ich gehörte hierher.

Ich fuhr mit der Fingerspitze über Blütenblätter und nahm die Textur in mich auf. Die Gärten hatten sich seit meiner Ankunft mit Leben gefüllt – etwas kehrte zurück, das nie hätte verschwinden dürfen. Michael ging mir durch den Kopf. Ich konnte nicht verhindern, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich Gray nichts von der Einmischung seines Bruders erzählt hatte. Er hatte mir gesagt, dass es im Himmel keinen Platz für mich gäbe und dass meine Seele schon bei meiner Geburt an den Teufel verkauft worden war und ich die Quelle verdorben hatte.

Aber das hier fühlte sich nicht wie Verdorbenheit an. Es fühlte sich nach Harmonie an, wie zwei Hälften eines Ganzen, die schon immer vereint sein sollten.

Nicht mit Gray, sondern mit der Erde, die mir gehörte, und der Quelle, die ich mit einem einzigen Gedanken berühren konnte.

Ich lächelte und spürte die kühle Brise, die vom Wasser herüberwehte. Die Klippen in der Ferne waren in Nebel gehüllt und die Prismen der Kristallbuchten darunter waren nicht zu sehen. Vor diesen Klippen lag der Friedhof, der jetzt größtenteils leer war, nur die Grünen Hexen waren dort begraben, aber aus ihren Särgen befreit.

Widerwillig schritt ich auf diesen Untergrund zu, meine Füße trugen mich zu der anderen Hälfte meines Erbes. Ich spürte die pulsierende Magie der Grünen, die sich in der Erde ausbreitete, und der Boden über ihrer Grabstätte war eine Ansammlung von Wildblumen und frischem grünem Gras, das unaufhörlich spross.

Die Magie derer, die vor mir gekommen waren, war endlich dorthin zurückgekehrt, wo sie hingehörte, und ich trat an den Rand des Friedhofs, um ihnen meine Ehre zu erweisen. Eines Tages würde ich einen Weg finden, die Leiche meiner Mutter hierherzubringen, damit sie auch ein Teil ihrer Heimatstadt sein konnte.

Für den Moment saß ich am Rand des Friedhofs und versenkte meine Hände in den Grashalmen. Die Magie des Todes und des Lebens pulsierte hier in der Erde und drang durch den Boden bis auf meine Haut. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sich die Magie in meinem Körper ausbreitete, sich an meiner Kehle festkrallte und mich gefangen hielt.

Aber anders als bei meiner ersten Berührung mit der Nekromantie fürchtete ich sie nicht mehr. Sie war zu einem weiteren Teil von mir geworden, zusammen mit all der anderen Magie, mit der ich mich erst vertraut machen musste.

Also ließ ich mich in sie hineinsinken und spürte den Wind auf meiner Haut. Ich dehnte diese Magie weiter in die Erde aus, berührte die natürlichen Quellen, die tief im Boden verborgen waren, und spürte die Kälte, die über meinen Körper hinwegströmte. Die Sonne am Himmel wärmte mich gegen die Kälte, der hellste Stern brannte sogar im Tageslicht, als sich die kosmische Seite meiner Magie nach oben und nach außen ausdehnte. Die Kristalle am Rande der Klippen fühlten sich hart und unnachgiebig an und warfen ein Prisma aus Farben über meine Sicht. In den Fackeln war die schwache Glut einer Flamme zu sehen, die im Tageslicht größtenteils erloschen war und mir wie die Wärme eines Kamins entgegenflackerte.

Die Magie der Roten war für mich schwerer zu erschließen, da die Magie, mit der ich aufgewachsen war, von außerhalb meines Körpers kam. Die der Roten stammte aus ihrem Inneren so wie aus den Körpern der Menschen um sie herum, aber ich versank in diesem Begehren, das immer dann aufkam, wenn ich an Gray dachte. An das Gefühl, das mir seine Hände auf meinem Körper schenkten.

In dem Augenblick, in dem dieses Verlangen wieder aufflammte, holte ich tief Luft. Als ich alle Teile der Quelle auf einmal berührte, schmeckte ich die Magie der Schöpfung selbst. Sie floss meine Kehle hinab wie der Rhythmus der Jahreszeiten; ein Muster, das seit Anbeginn der Zeit existierte.

Meine Augen fielen zu, mein Atem wurde langsamer, bis ich mir nicht mehr sicher war, ob ich überhaupt noch lebte oder ob ich eins mit der Quelle geworden war. Sie war ein Teil von mir, wanderte durch meinen Körper und berührte jeden Winkel. Ich mochte mir kaum ausmalen, wie es sich anfühlte, Gray zu sein, jahrhundertelang mit diesem Gefühl gelebt zu haben und trotzdem von all dem abgeschnitten zu sein.

Ich öffnete die Augen, als ein Zweig knackte, und spürte das Knacken, als wäre es einer meiner Knochen.

Die Verfluchten kamen aus dem Wald und ich war gezwungen, mich langsam aufzurichten. Als sie ins Licht traten, erkannte ich, dass es mehr waren, als ich angenommen hatte. Die trägen, unnatürlichen Bewegungen von Wölfen, die auf zwei behaarten, aber menschlichen Beinen liefen, trafen mich tief in der Seele.

Ich könnte sie retten, sie wiederherstellen, so wie ich es mit Jonathan getan hatte, doch ich wusste, dass ich sie in die Finger bekommen musste, um das zu erreichen.

Es waren elf und ich konnte sie unmöglich alle auf einmal abwehren.

Ich beobachtete, wie sie sich auf dem Friedhof verteilten. Sie kamen nicht besonders nah an mich heran, die meisten hielten Abstand, bis auf den einen, der ein paar Meter entfernt stehen blieb.

Ich stemmte meine Füße schulterbreit in den Boden, um sichereren Stand zu haben. Die Magie der Quelle floss durch meine Adern und ich hatte viele, viele Jahre damit verbracht, in den Käfigen um mein Leben zu kämpfen, die mich schwächen und kleinmachen sollten.

Der Verfluchte, der mir am nächsten stand, neigte stumm seinen Kopf nach vorne. Es war eine eindeutig unterwürfige Geste, und ich musterte ihn, während ich ein paar Schritte vorwärtsging.

Die rücksichtslose Brutalität, die die Verfluchten mir bei meinem ersten Fluchtversuch gezeigt hatten, war verschwunden. Alle anderen taten es dem Ersten gleich und ahmten seine Haltung nach, als ich nahe genug herankam, um ihn zu berühren. Ich schluckte und begegnete seinem intensiven Blick. Er machte keine Anstalten, mich zu berühren, sondern blieb ganz still. Wollte er, dass ich ihn befreie? Wenn sie irgendwie erfahren hatten, was ich für Jonathan getan hatte … Ich streckte eine zitternde Hand aus und berührte die Seite seines Gesichts. Sein Fell war rau unter meiner Handfläche, rau, wo ich es glatt haben wollte.

Seine Augen schlossen sich, als ich versuchte, die gleiche schwarze Magie anzurufen, mit der ich Jonathan befreit hatte.

Was mir antwortete, war anders, stärker, mit einem eigenen Willen. Die Quelle aller Magie stieg in mir auf, verwoben zu einer lebendigen, atmenden Magie, die das Opfer verlangte, das ihr dargebracht worden war. Ich versuchte, meine Hand schnell zurückzuziehen und mich zu entfernen, als der Verfluchte die Augen weit aufriss. Auf einmal ahmten die anderen die Bewegung nach, Panik stand in ihren Gesichtern, als ob auch sie die Anziehungskraft dessen spürten, was ich beschworen hatte.

Der Verfluchte vor mir packte mich am Handgelenk und hielt mich fest, sodass ich meine Hand nicht wegnehmen konnte. »Hör auf«, flüsterte ich, aber er nickte, als verstünde er, was kommen würde.

Doch ich verstand nicht.

Um die Beine des Verfluchten krallten sich die Wurzeln eines Baumes und verankerten ihn am Boden, während er vor Schmerz aufjaulte. Trotzdem ließ er mich nicht los. Auch nicht, als Äste aus seinem Rumpf brachen und sein Blut und sein Fleisch über das Grün verteilten, das jetzt wuchs. An den Ästen, die von ihm stammten, sprossen Blätter. Schließlich ließ er mich los und ich stolperte zurück und fiel auf meinen Hintern.

Sein Körper verschwand völlig außer Sicht und wurde von der Hecke verschluckt, die sich zu einem Kreis formte. Sie wanderte zum nächsten Verfluchten, bis sie einen nach dem anderen ganz verschluckte. Als sie sich von den Körpern löste, war mir das Labyrinth, das sich vor mir auftat, viel zu vertraut.

Ich schritt die Begrenzung ab und verzog das Gesicht, als ich die Köpfe der Verfluchten entdeckte, die auf den Spitzen der Säulen saßen, die das Labyrinth säumten. Ihre Augen waren leer und blicklos, ihr Leben war der Quelle übergeben worden, die durch ihre Opfergabe wieder aufflammte. Ich beeilte mich und lief den ganzen Kreis des Labyrinths ab. Es gab drei Öffnungen, drei Wege, von denen ich wusste, dass sie in die Mitte führen würden, könnte ich es aus der Vogelperspektive sehen.

Ich wusste es, weil es das gleiche Symbol war, das ich auf Grays Brust eingebrannt hatte, als ich ihn als den Meinen markierte.

Ich stolperte, als ich vor dem Eingang anhielt, der urplötzlich vor mir aufgetaucht war. Das tote Wolfsgesicht des Verfluchten, den ich berührt hatte, starrte mich an.

Ich schluckte meine Angst hinunter, die Beklommenheit wegen dem, was die Quelle mir sagen wollte.

Ich betrat das Labyrinth.