Gray
Zehn Minuten zuvor
Der Unterricht war etwa zur Hälfte vorbei, als ich nach dem Schulbuch auf meinem Tisch griff. »Schlagt Seite einhundertdreiundneunzig auf.« Ich blätterte selbst im Buch, um die Seite zu finden. Wir hatten uns bis hierhin bereits mit der Geschichte des Pakts beschäftigt, der ursprünglich zur Gründung des Coven geführt hatte, doch ich wollte diesen Punkt noch einmal aus einer anderen Perspektive heraus diskutieren. Beelzebub und Leviathan warteten im hinteren Teil des Klassenraums, obgleich ihre Gegenwart gar nicht nötig war, doch Beelzebub wich mir nicht von der Seite, wenn er nicht gerade bei Margot sein durfte.
Als ob der Kerl allein nicht mehr funktionieren konnte.
»Wir haben das Abkommen, das ich mit Charlotte geschlossen habe, bereits zu Beginn der Unterrichtseinheit diskutiert«, hob ich an und ließ das Lehrbuch sinken. »Doch wir haben den Pakt noch nicht aus meiner Perspektive heraus betrachtet. Nun, da die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist, denke ich, wir sollten uns heute Zeit nehmen, um die Fragen zu beantworten, die ihr dazu womöglich noch habt.«
Leviathan hob eine Augenbraue. Sein unablässig neugierig wirkendes Gesicht passte so gar nicht zu seiner Größe und der damit einhergehenden einschüchternden Wirkung.
»Warum unterrichten Sie diese Einheit überhaupt? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Hexen fressen zum Beispiel?«, wollte einer der Schüler wissen, dessen Gesicht dabei vor Angst rot anlief.
»Zum einen gibt es nur eine einzige Hexe, die auf meinem Speiseplan steht«, erklärte ich und brachte einige der anderen Schülerinnen damit zum Lachen. »Zum anderen bin ich zufälligerweise der Meinung, dass unsere größten Errungenschaften in den Unternehmungen der nachfolgenden Generation liegen. Das Beste, das wir der Welt anbieten können, ist, unseren Kindern die Möglichkeit zum Aufblühen zu geben. Wissen ist Macht und damit auch das größte Geschenk, das ich euch allen in dieser sich verändernden Umgebung machen kann.« Daraufhin sagte der Junge nichts mehr.
Die Angst wich aus seinem Blick und seine Augen wanderten langsam zu meinem Bauch. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich und ich taumelte seitwärts gegen meinen Tisch.
Ich legte die Hand auf meinen Unterleib und sah sie mir an, als ich sie wieder hochgenommen hatte. Helles, zähflüssiges Blut klebte daran. Es lief aus einer Wunde in meinem Bauch, für die ich keine Erklärung hatte.
Beelzebub und Leviathan kamen auf die Beine und starrten schockiert auf meinen Bauchraum. Ich war schon auf dem Weg zur Tür, als unsere Blicke sich kreuzten.
»Willow.« In meiner Stimme hallte die Panik wider, die ich spürte. Denn sie musste sehr schwer verwundet worden sein, damit es auch mich traf, und wir beide schienen nicht von selbst zu heilen …
»Holt die anderen«, wies ich Leviathan an und sah zu, wie der bullige Erzdämon aus dem Klassenzimmer stürzte.
Ich folgte dem Sog von Willows Schmerz und ließ mich von ihm die Treppen hinabführen. Ich torkelte die Stufen nach unten und die Verbindung zwischen Willow und mir griff auf meine Magie zurück, um sie am Leben zu erhalten. Die Quelle glitt durch mich hindurch und nutzte mich als Kanal, um meine Frau am Leben zu erhalten, doch für mich selbst konnte ich sie nicht zu fassen bekommen.
Willow brauchte alles.
Beelzebub und ich bewegten uns hektisch, auch noch als es läutete und die Schülerinnen und Schüler auf die Flure strömten. Ich drängte sie beiseite; auf meinem Weg zu Willow blutete ich die Gänge voll. Ich stöhnte und hielt mich am Geländer fest, als der Schmerz in meinem Bauch zunahm und sich ein Echo dessen, was Willow erleiden musste, durch meine Innereien bohrte.
Es gab nur eine Waffe, die zu so etwas in der Lage war, nur ein Messer, das ihr derart wehtun konnte.
Auch wenn der Dolch mich nicht getötet hatte, so rann mir Willows Leben nun doch durch die Finger, während ich noch versuchte, zu ihr zu kommen. Die Quelle konnte sie nicht ewig am Leben erhalten. Mein einziger Trost, das Einzige, was mich entspannt ausatmen ließ, war der Gedanke, dass ich ihr nachfolgen und mit ihr in der Hölle sein würde.
Nur wäre sie nie wieder dieselbe, wäre sie von der Erde getrennt, die sie so sehr liebte.
»Gray, sie könnte schon gestorben sein«, erklärte Beelzebub, dessen Stimme beim Blick auf das frische Blut, das über meine Hose auf den Boden lief, ganz angespannt klang.
Ich knurrte und schob diesen furchtbaren Gedanken beiseite. »Dann wäre ich es auch.« Ich verscheuchte diese Überlegung mit dem einzigen logischen Gedanken, an dem ich mich in diesem Moment aufrichten konnte. »Sie klammert sich noch ans Leben.«
»Wo ist sie?«, wollte Beelzebub wissen, denn er erkannte, dass ich sie spüren konnte. Er beäugte mich, als wäre ich schwach und würde ihn daran hindern, sie noch rechtzeitig zu erreichen.
Ich hasste es. Ich hasste es zum ersten Mal seit Jahrhunderten, dass ich verwundbar war.
Und zum allerersten Mal war das von entscheidender Bedeutung.
»Im Tribunalraum«, antwortete ich und folgte dem Sog zu Willow. Ihr Schmerz war wie ein Ruf, der durch die verdunkelten Gänge von Hollow’s Grove klang. »Los!«, zischte ich und sah zu, wie Beelzebub seine Flügel aufklappte. Er flog durch das Treppenhaus und steuerte schneller auf meine Frau zu, als ich es gekonnt hätte. Ohne meine Flügel – die nutzlosen Narben auf meinem Rücken waren alles, was mir von ihnen geblieben war – und ohne die Macht, die ich für mich hätte nutzen können, war es mir nicht möglich, Willow so schnell zu erreichen wie er.
Ich konnte nur hoffen, dass er sie rechtzeitig finden würde.