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Willow

Ich ging in den Tribunalraum und weigerte mich, das Siegel anzusehen, aus Angst, ich würde die Nerven verlieren. Es war erst ein Tag vergangen und der Verlust von Margot wurde selten deutlicher als in dem Moment, als sich der Coven in dem Raum versammelte, in dem ich sie verloren hatte.

Die neu gewählten Mitglieder des Tribunals warteten auf ihren eigenen Thronen, als ich mich auf den Weg zum Podest machte, während ihre Familien verstreut im Raum standen.

Della und Nova standen auf dem Podest zu meiner Rechten, in hübschen Kleidern, die ihre Häuser repräsentierten. Ihre düsteren Mienen spiegelten die meine wider und das Fehlen der Hexe wog noch schwerer im Licht des heutigen Tages.

Gray stand in der Mitte, ganz in Schwarz gekleidet. Für mich trug er eine waldgrüne Krawatte, an seiner Seite hatte Leviathan zusammen mit Asmodeus Stellung bezogen. Wir wussten beide, dass Beelzebub bei ihnen gestanden hätte, wenn er nicht mit Margot verloren gegangen wäre.

Wir würden sie zurückholen. Wir mussten sie zurückholen.

Aber zuerst musste ich stärker werden. Ich musste in der Lage sein, das Siegel lange genug offen zu halten, damit sie entkommen konnten, ohne dass ich mein Leben riskierte. Wen könnte ich sonst an meiner Stelle opfern?

Vielleicht würde mir die nächste Hexe, die es wagte, sich mir zu widersetzen, einen viel größeren Nutzen erweisen.

Ich trat auf das Podest und legte meine Hand in die von Gray. Seine Augen strahlten, als sein Blick auf mir landete und an den weichen Spitzenborten meines schwarzen Kleides hinabwanderte. Der Schleier, der sich hinter mir ausbreitete, funkelte smaragdgrün, ein Gruß an meine Mutter – an einem Tag, den wir beide nicht erwartet hatten.

»Ich habe noch eine letzte Überraschung für dich, bevor du noch einmal die meine wirst«, sagte Gray und wandte seine Aufmerksamkeit den Türen des Tribunalraums zu. Ich drehte mich um und sah zu, wie Juliet den Raum betrat. Der Junge an ihrer Seite klammerte sich Unterstützung suchend an sie und mit großen braunen Augen musterte er den Coven.

Ich raffte mein Kleid, sprintete die Treppe hinunter, und es war mir völlig egal, wie es aussehen musste. Ash machte große Augen, als ich vor ihm auf die Knie sank und eine Hand um seinen Hinterkopf legte. Ich drückte ihn an mich und saugte die Freudentränen, die er weinte, mit dem Stoff meines Kleides auf.

Ich lehnte mich zurück, berührte sein Gesicht und betrachtete ihn genauer.

In nur wenigen Wochen war er ordentlich gewachsen.

Juliet hatte ihm für diesen Anlass einen Anzug angezogen und ein schluchzendes Lachen kroch mir die Kehle hinauf, als ich ihn anstarrte. »Low«, sagte Ash und der Klang dieser kleinen Stimme traf mich mitten ins Herz.

»Hey, Bug«, gab ich zurück und lächelte durch meine Tränen hindurch. Ich stand auf, nahm seine Hand und fühlte mich sofort verwurzelt, als ich mich umdrehte und Grays Blick aus seinen bernsteinfarbenen Augen bemerkte.

Er lächelte und Ash überraschte mich, als er die Treppe erklomm und sich rasch an Grays Seite schmiegte. Gray beantwortete meine unausgesprochene Frage: »Wir hatten etwas Zeit, während du dich heute fertig gemacht hast.«

Ich schaute zu Ash hinunter und fragte mich, wie er mit all den Veränderungen umgehen würde. »Kannst du …« Ich brach ab und lächelte, als mir klar wurde, dass ich es nicht verkraften würde, wenn die Antwort Nein lautete. Ich würde es nicht aushalten, wenn sie sich nicht ausstehen könnten. »Ist das für dich in Ordnung?«, fragte ich und fühlte mich in diesem Moment noch nervöser als an dem Tag, an dem Gray an meine Tür geklopft und eine Einladung ausgesprochen hatte, die ich nicht annehmen wollte.

»Ich will nur, dass du glücklich bist, Low«, entgegnete Ash und sah mich mit diesen freundlichen braunen Augen an, die so lange das Zentrum meines Universums gewesen waren.

Jetzt hatte ich zwei.

Ich nickte und kämpfte die Tränen lange genug zurück, um ihn anzulächeln. Leviathan kam herüber, nahm Ashs Hand und führte ihn zu der Reihe mit Grays Trauzeugen. Die Bedeutung war mir nicht entgangen, trotzdem war meine Kehle wie zugeschnürt. »Bitte schick ihn nicht wieder weg.«

»Er ist genau da, wo er hingehört, kleine Hexe«, sagte Gray und nahm meine Hände in seine.

Ich nickte und drückte seine Finger, während er sich zu den Fenstern drehte. Goldenes Licht strömte herein und schimmerte so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen musste.

Die Göttin trat durch das Glas, eine gleißend schöne Erscheinung. Sie lächelte Gray an und berührte liebevoll seine Wange. Einer nach dem anderen traten die Anführenden des Tribunals an den Fuß des Podests und legten uns Symbole ihrer Magie als Opfergabe zu Füßen.

Petra und Beltran brachten Kristalle in allen Farben, die leuchtenden Grüntöne erwärmten mein Herz.

Realta und Amar brachten mit Sternenlicht gefüllte Krüge.

Bray brachte einen einzelnen Zweig.

Aurai und Devoe legten jeweils ein Windspiel auf den Boden, wobei die Glasscherben gegeneinander klimperten, als sie ihnen Leben einhauchten.

Tethys und Hawthorne brachten einen Krug mit Wasser und eine Muschel.

Erotes und Peabody brachten Elixiere und Liebestränke.

Collins und Madlock brachten Laternen.

Ich zog meine Hände aus Grays Griff und wirbelte sie im Kreis, während ich meine Augen schloss. Eine einzelne Rose wuchs aus meinen Handflächen, und ich legte sie neben den Knochen, den ich zuvor aus Loraleis Grab für die Opfergabe entnommen hatte.

»Der Coven deiner Geliebten hat in ihrem Namen ein schönes Opfer dargebracht, Lucifer Morningstar«, sagte die Göttin und schaute ihren Bruder verschmitzt an.

Er lächelte und wandte seinen Blick nicht von mir ab, während er über seine Antwort nachdachte. »Du kannst alles haben, was du willst, Göttin«, sagte er und trat einen Schritt näher an mich heran. Ich starrte zu ihm auf, sein Gesicht so nah an meinem. »Solange ich sie haben kann.«

Er umfasste meine Wange und die Zuneigung in dieser Berührung rieselte durch mich hindurch.

»Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du glücklich bist, liebster Bruder«, gab die Göttin zurück und legte eine Hand auf meine Schulter.

Ihr Licht sank in mich hinein und erfüllte mich mit Wärme, während Gray unseren finalen Pakt mit einem Kuss besiegelte.

Ein Pakt für eine Ewigkeit an seiner Seite.

Ein Pakt für die Liebe.