1.
Nach acht turbulenten Tagen auf See fuhren wir in den großen Hafen von Alexandria ein. Obwohl unser Schiff, das ägyptisches Getreide nach Cäsarea brachte und auf dem Rückweg nach Alexandria Oliven an Bord hatte, nur an der Küste entlanggefahren war, hatte ich aufgrund des hohen Wellengangs nichts bei mir behalten können, weder Essen noch Trinken. Ich hatte während der ganzen Reise zusammengerollt auf meiner Matte unter Deck gelegen und an Jesus gedacht. Manchmal war mein Kummer darüber, dass ich mich Meile um Meile mehr von ihm entfernte, so groß, dass ich mich fragte, ob meine Übelkeit vielleicht gar nicht am Seegang lag, sondern am Trennungsschmerz und der Ungewissheit, ob ich ihn jemals wiedersehen würde.
Immer noch schwach und mit flauem Magen zwang ich mich dazu, den Schiffsrumpf zu verlassen und einen allerersten Blick auf die Stadt zu werfen, von der ich träumte, seit Yaltha mir zum ersten Mal von ihrer gewaltigen Größe und Schönheit erzählt hatte. Ich stand neben meiner Tante an der Reling, atmete tief die neblige Luft ein und zog meinen Mantel fester zu, während über unseren Köpfen das Hauptsegel mit lautem Schnalzen am Mast flatterte. Der Hafen war voller Schiffe – große Handelsschiffe wie unseres ebenso wie kleinere Galeeren.
»Da!«, rief meine Tante und zeigte in die Finsternis. »Da drüben ist Pharos, der große Leuchtturm.«
Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein Anblick, wie ich ihn mir niemals hätte vorstellen können. Auf einem kleinen Eiland gegenüber dem Hafen erhob sich ein gewaltiger Turm aus weißem Marmor, der seine prächtigen drei Stockwerke in Richtung Wolken erhob, und darauf ein funkelndes, hell brennendes Licht. Selbst der Tempel von Jerusalem war nichts im Vergleich dazu. »Wie machen sie nur ein solches Licht?«, murmelte ich, so ehrfürchtig, dass ich gar nicht merkte, wie ich den Gedanken laut ausgesprochen hatte.
»Das Feuer wird von großen Bronzespiegeln zurückgeworfen«, erklärte Yaltha, und ich sah, wie ihr Gesicht vor Stolz auf ihre Heimatstadt leuchtete.
Eine Statue krönte die nadelförmige Spitze auf der Kuppel des Leuchtturms; es war die Gestalt eines Mannes, der gen Himmel zeigte. »Wer ist das?«, fragte ich.
»Das ist Helios, der griechische Sonnengott. Er zeigt zur Sonne.«
Die Stadt zog sich bis ans Meer, schimmernde weiße Gebäude, so weit das Auge reichte. Meine Seekrankheit war vergessen, und ich schaute wie gebannt auf eines der Gebäude, das weit in den Hafen hineinreichte, ein schwindelerregender Bau, der über dem Wasser zu schweben schien. »Sieh nur!«, sagte Yaltha, als sie meinen Blick bemerkte. »Das ist der Königspalast. Ich habe dir doch einmal von der Königin erzählt, die einst dort gelebt hat – Kleopatra die Siebte.«
»Die, die mit Cäsar nach Rom ging, oder?«
Yaltha lachte. »Ja, das auch. Sie starb in dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Als ich aufwuchs, hörte ich allerhand Geschichten über sie. Mein Vater – dein Großvater – sagte, sie habe auf nichts anderem geschrieben als auf Papyrus aus den Werkstätten meiner Familie. Sie erklärte ihn zum besten Papyrus in ganz Ägypten.«
Bevor ich die Neuigkeit verkraften konnte, dass Kleopatra höchstpersönlich über meine Familie gesprochen hatte, ragte ein imposantes Gebäude mit vielen Säulen vor uns auf. »Das ist einer der Tempel der Isis«, erklärte mir Yaltha. »Es gibt noch einen größeren in der Nähe der Bibliothek, den man auch Isis Medica nennt und in dem sich eine Schule für Heilkunst befindet.«
Mir schwirrte der Kopf von all diesen Wundern. Wie fremd und sonderbar dieser Ort doch war, herrlich sonderbar.
Wir verfielen in Schweigen, ließen die Stadt an uns vorübergleiten wie die Umrisse eines Traumes, und ich dachte an meinen Liebsten, daran, wie weit weg ich jetzt von ihm war. Mittlerweile hatte Salomes Hochzeit in Kanaan stattgefunden, und Jesus war auf dem Weg nach Kapernaum, um seine Jünger um sich zu scharen und mit dem Predigen zu
beginnen. Die Erinnerung an ihn, wie er dort am Tor gestanden hatte, als ich abreiste, war wie ein tiefer Schmerz in meiner Brust. Wie sehr ich mich nach ihm sehnte, und wie gern wäre ich mit ihm zusammen gewesen! Doch nicht in Galiläa. Nein, nicht dort … hier.
Als ich erneut zu Yaltha schaute, sah ich, dass ihre Augen wie verschleiert waren – ob es nun der Wind war, die Freude über ihre Heimkehr oder ihre eigene schmerzliche Sehnsucht nach Chaya, vermochte ich nicht zu sagen.
Als wir von Bord gingen, mietete Apion für uns vier eine Sänfte mit flachem Dach, Vorhängen vor den Fenstern und gepolsterten Sitzen; sie wurde von zwei Eseln getragen. Wir holperten die Kanopische Straße, die Hauptverkehrsachse der Stadt, entlang, einen kopfsteingepflasterten Weg, der so breit war, dass fünfzig Sänften nebeneinander darauf gepasst hätten. Zahllose Gebäude mit roten Dächern säumten die Straße, und die Gehwege waren voller Menschen: Frauen mit unbedecktem Kopf, und Mädchen – nicht etwa nur Jungen! –, die hinter ihren Hauslehrern hertrotteten, mit hölzernen Schrifttafeln, die an Schnüren von ihrer Leibesmitte baumelten. Einmal, als ich das Bild einer knienden, geflügelten ägyptischen Frau sah, in prachtvoll bunten Farben in einen Portikus gemalt, schrie ich vor Überraschung auf, und Yaltha beugte sich zu mir und sagte: »Das ist die geflügelte Isis. Du wirst sie überall hier sehen.« Als wir an einer ganzen Reihe von Streitwagen vorbeikamen, von Pferden gezogen und von Männern mit Helmen gelenkt, erklärte Apion uns, sie seien zu einem Rennen im Hippodrom unterwegs.
Plötzlich ragte in der Ferne ein gewaltiger Giebel auf. Mein Herz machte einen Satz. Die Fassade des Gebäudes konnte ich nicht erkennen, doch allein das Dach schien die Stadt wie ein Thron zu beherrschen. »Ist das die große Bibliothek?«, fragte ich Yaltha atemlos.
»Ja, das ist sie«, sagte sie. »Und du und ich, wir werden sie besuchen.«
Während unserer Reise hatte meine Tante mir beschrieben, mit welcher Sorgfalt und Akribie die halbe Million Schriftrollen, die die
Bibliothek beherbergte, katalogisiert und aufbewahrt wurden, die Gesamtheit aller Schriften, die es überhaupt auf der Welt gab. Sie hatte mir von den Gelehrten erzählt, die dort lebten, wie sie wissenschaftlich erwiesen hatten, die Erde sei rund, und wie sie nicht nur ihren Umfang, sondern auch ihre Entfernung von der Sonne berechnen konnten.
Und dorthin würden wir gehen.
ERST ALS UNSERE SÄNFTE VOR HARANS HAUS
zum Stehen kam, verwandelte sich meine Erregung in eine düstere Vorahnung. Ich hatte Apion angelogen, als ich ihm vorgaukelte, Haran habe in einem Brief die Zustimmung zu Yalthas Rückkehr nach Alexandria gegeben. Wie sollte diese Lüge unentdeckt bleiben? Was, wenn Haran sich weigerte, uns aufzunehmen? Woandershin konnte ich nicht – Judas würde seine Briefe an Harans Adresse schicken.
Bevor wir in Cäsarea an Bord des Schiffes gegangen waren, hatte ich mich vergewissert, dass Apion meinem Bruder genaueste Angaben machte, an wen seine Sendungen gerichtet werden mussten. »Haran ben Philippos Levias, Jüdisches Viertel, Alexandria«, hatte er ihm gesagt.
»Mehr braucht man nicht?«, fragte ich.
»Euer Onkel ist der reichste Jude in ganz Alexandria«, sagte er. »Jeder weiß, wo er wohnt.«
Worauf Yaltha ein verächtliches Schnauben von sich gab, und Apion ihr einen erstaunten Blick von der Seite zuwarf.
Sie muss ihre Verbitterung besser verbergen
, dachte ich, als wir nun Harans palastartiges Haus betraten. Wie sollte sie Chaya ohne Harans Hilfe finden?
Mein Onkel sah aus wie mein Vater – der aufgedunsene, kahle Kopf, die großen Ohren, die breite Brust, und auch er war bartlos. Nur seine Augen waren anders, denn aus ihnen sprach weniger Neugier, sondern vielmehr die harte Beutelust eines Raubvogels. Er trat uns im Atrium des Hauses entgegen, wo das Licht durch ein Rundfenster in der Decke
hereinströmte. Haran stand direkt unter der Lichtquelle, die ihn in einen gleißend hellen Schein tauchte. Es war ein Raum ohne Schatten, was ich für ein unheilvolles Vorzeichen hielt.
Yaltha ging langsam und mit gesenktem Kopf auf ihn zu. Zu meinem Entsetzen sah ich, wie sie sich tief und formvollendet vor ihm verbeugte. »Hochverehrter Bruder«, sagte sie. »Ich kehre in aller Demut nach Hause zurück und bitte dich, mich zu empfangen.« Ich hätte mir wohl keine Sorgen machen müssen; meine Tante wusste sehr wohl, wie man dieses Spiel spielte.
Er starrte sie finster an, die Arme vor der Brust verschränkt. »Du kommst ungebeten, Yaltha. Als ich dich zu unserem Bruder nach Galiläa schickte, galt es als abgemacht, dass du nicht zurückkehren würdest.«
An Apion gerichtet, sagte Haran: »Ich habe dir nicht die Erlaubnis erteilt, sie hierherzubringen.«
Dann war man mir also schneller auf die Schliche gekommen als gedacht.
Apion geriet sofort ins Stottern. »Herr, vergebt mir«, sagte er. »Die jüngere Frau hier sagte …« Er schaute mich an. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und ich sah, in welcher Zwickmühle er sich befand. Er fürchtete, wenn er mich der Täuschung bezichtigte, würde ich Haran verraten, dass er Bestechungsgeld genommen hatte.
Haran erkannte sofort, wie es sich verhielt. »Ist es möglich, Apion, dass du dich hast bestechen lassen? Wenn das so ist, gib mir auf der Stelle das Geld, und ich werde mir überlegen, ob ich dich als meinen Schatzmeister behalten will.«
Ich trat nach vorne. »Ich bin Ana, die Tochter von Matthias. Bitte macht Euren Untergebenen nicht dafür verantwortlich, uns hierhergebracht zu haben. Wir haben ihn nicht bestochen. Vielmehr habe ich ihn fälschlicherweise in dem Glauben gelassen, Ihr hättet in einem Brief bestätigt, dass wir hierherkommen und bleiben dürfen. Seine einzige Verfehlung bestand darin, dass er meinen Worten Glauben geschenkt hat.«
Yaltha warf mir einen fragenden Blick zu, Lavi trat von einem Fuß auf den anderen. Ich schaute Apion nicht an, hörte aber, wie er erleichtert den Atem ausstieß.
Haran sagte: »Du stehst hier und gibst freimütig zu, dass du dir mit einer billigen Täuschung
Zugang zu meinem Haus verschafft hast?« Er brach in Gelächter aus, doch es war nicht der Hauch von Spott darin. »Warum bist du gekommen?«
»Wie Ihr wisst, Onkel, ist mein Vater verstorben. Meine Tante und ich wussten nicht, wo wir hinsollten.«
»Hast du denn keinen Ehemann?«, erkundigte er sich.
Die Frage lag auf der Hand, und ich hätte damit rechnen müssen, doch mich überrumpelte sie. Ich zögerte zu lang.
»Ihr Ehemann hat sie weggeschickt«, sagte Yaltha, um mir zu Hilfe zu kommen. »Sie schämt sich, darüber zu sprechen.«
»Ja«, murmelte ich. »Er hat mich verstoßen.« Und bevor Haran mich fragen konnte, was ich denn so Schreckliches verbrochen hatte, um verstoßen zu werden, fügte ich rasch hinzu: »Wir sind mit unserem Beschützer hierhergereist, weil Ihr meines Vaters ältester Bruder und unser Familienoberhaupt seid. Meine Täuschung entsprang einzig und allein dem Wunsch, hierherzukommen und Euch zu dienen. Ich bitte Euch um Vergebung.«
Haran wandte sich an Yaltha. »Die ist gerissen, die Kleine – ich kann gar nicht anders, als sie zu mögen. Und nun sag mir, du lange verschollene Schwester, warum bist du nach all der Zeit zurückgekehrt? Sag mir nicht, dass auch du in der Hoffnung gekommen bist, mir zu dienen – ich weiß es besser.«
»Mich verlangt nicht danach, dir zu dienen, das stimmt. Ich wollte einfach nach Hause, das ist alles. Ich war jetzt zwölf Jahre im Exil. Ist das nicht lange genug?«
Seine Lippen kräuselten sich spöttisch. »Dann bist du also nicht in der Hoffnung zurückgekehrt, deine Tochter zu finden? Jede Mutter würde sich doch wünschen, vor ihrem Tod noch einmal mit ihrer Tochter wiedervereint zu werden.«
Haran war also nicht nur skrupellos, sondern auch scharfsinnig. Ich nahm mir vor, ihn niemals zu unterschätzen.
»Meine Tochter wurde vor langer Zeit adoptiert«, sagte Yaltha. »Ich habe sie aufgegeben und hege nicht die trügerische Hoffnung, sie wiederzusehen. Wenn du mir ihren Aufenthaltsort mitteilen möchtest, wäre mir das willkommen, doch ich habe mich mit unserer Trennung abgefunden.«
»Wie du sehr wohl weißt, ist mir nichts über ihren Verbleib bekannt«, antwortete er. »Ihre Familie hat auf einer schriftlichen Übereinkunft bestanden, die uns davon abhält, jedweden Kontakt mit ihnen zu haben.«
»Wie ich sagte, sie ist nicht mehr da«, nahm Yaltha den Faden wieder auf. »Ich bin nicht ihretwegen gekommen, sondern weil ich es selbst wollte. Lass mich nach Hause zurückkehren, Haran.« Wie zerknirscht sie schaute, und wie überzeugend!
Haran trat aus dem scharfen Lichtkegel, in dem er gestanden hatte, und ging auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mit einem Winken bedeutete er Apion abzutreten, und dieser verfiel fast in Laufschritt, als er den Raum verließ.
Mein Onkel blieb vor mir stehen. »Du wirst mir fünfhundert Bronzedrachmen für jeden Monat zahlen, den du unter meinem Dach verbringst.«
Fünfhundert!
Ich besaß ganze fünfzehnhundert herodianische Silberdrachmen, hatte jedoch keine Ahnung, wie viel das in ägyptischen Bronzedrachmen war. Das Geld musste uns für mindestens ein Jahr reichen, und zwar nicht nur zum Leben, sondern auch für die Schiffsüberfahrt nach Hause.
»Einhundert«, sagte ich.
»Vierhundert«, hielt er dagegen.
»Einhundertfünfzig, und ich werde Euch als Schriftgelehrte dienen.«
»Als Schriftgelehrte?« Er schnaubte. »Ich habe bereits einen Schriftgelehrten.«
»Und schreibt Euer Schriftgelehrter Aramäisch, Griechisch,
Hebräisch und Latein … alle vier Sprachen?«, fragte ich.
»Und hat er eine so wundervolle Handschrift und schmückt das Geschriebene so vortrefflich aus, dass die Menschen den Worten noch mehr Bedeutung zumessen?«, fügte Yaltha hinzu.
»Und das alles kannst du?«, wollte Haran wissen.
»Ja, das kann ich.«
»Nun gut. Hundertfünfzig Bronzedrachmen und deine Dienste als Schriftgelehrte. Weiter verlange ich nichts, außer dass keine von euch beiden das Haus verlassen darf.«
»Ihr könnt uns doch hier nicht einsperren«, sagte ich, denn das war ein herberer Schlag als die Summe, die er für unseren Aufenthalt verlangte.
»Wenn ihr etwas vom Markt braucht, dann kann Euer Beschützer, wie ihr ihn nennt, dies dort für euch besorgen.« Haran sah Yaltha ins Gesicht. »Wie du weißt, verjährt eine Anklage wegen Mordes niemals. Wenn ich erfahre, dass eine von euch das Haus verlassen hat oder Erkundigungen bezüglich deiner Tochter anstellt, werde ich dafür sorgen, dass du festgenommen wirst.« Sein Gesicht wurde hart. »Chayas Familie wünscht keinerlei Einmischung von dir, und ich werde das Risiko nicht eingehen, dass sie gegen mich deshalb Anklage erhebt.«
Er schlug auf einen kleinen Gong, und eine junge Frau, keine Jüdin, sondern eine schwanenhalsige Ägypterin mit dick umrandeten Augen, erschien. »Bring die beiden in die Frauengemächer und ihren Beschützer zu den Dienstboten«, befahl Haran ihr und verließ uns dann brüsk.
Wir folgten der Frau, lauschten dem Schlurfen ihrer Sandalen auf dem Kachelboden, sahen das Wogen ihres rabenschwarzen Haares. Allem Anschein nach würden wir hier also wie Gefangene gehalten werden.
»Hat denn Haran keine Frau, an die wir uns wenden könnten?«, flüsterte ich Yaltha zu.
»Sie starb, bevor ich Alexandria den Rücken kehrte. Ob er sich eine
andere genommen hat, weiß ich nicht«, gab sie flüsternd zurück.
Die Dienerin blieb vor einem Durchgang stehen. »Ihr werdet hier wohnen«, wies sie uns in gebrochenem Griechisch an und fügte dann hinzu: »Er hat keine Frau. Niemand lebt unter diesem Dach außer Haran und seinen Bediensteten.«
»Was für gute Ohren du hast«, sagte ich.
»Alle Diener haben gute Ohren«, erwiderte sie, und ich sah Lavi grinsen.
»Wo sind Harans Söhne?«, wollte Yaltha wissen.
»Sie verwalten seine Ländereien im Nildelta.« Sie bedeutete Lavi, ihr zu folgen, und schlenderte mit wehendem Haar und wackelnden Hüften davon. Er starrte sie mit offenem Mund an und eilte dann hinter ihr her.
***
MEIN SCHLAFGEMACH WURDE VON YALTHAS
durch einen Salon getrennt, der auf den Garten, einen kleinen Hain aus Dattelpalmen, hinausging. Wir standen in der Tür und schauten hinaus.
»Haran traut dir nicht«, sagte ich. »Er weiß genau, warum du hier bist.«
»Ja. Er weiß es.«
»Aber es ist doch seltsam, dass er alles daransetzt, dich Chaya fernzuhalten. Sogar indem er uns im Haus einsperrt. Was würde es denn schaden, wenn du sie treffen würdest? Vielleicht gibt es ja wirklich eine rechtliche Übereinkunft mit ihrer Familie, aber ich frage mich, ob er dir Chaya nur vorenthält, um dich zu bestrafen. Kann es denn sein, dass sein Rachedurst so groß ist?«
»Für ihn waren die Gerüchte um den Tod meines Mannes eine Schande – seine eigene Schwester wurde verdächtigt, eine Mörderin zu sein. Seine Geschäfte haben gelitten. Sein Ruf in der Stadt hat gelitten. Er war bloßgestellt. Darüber ist er nie hinweggekommen, und er hat nie aufgehört, mir daran die Schuld zu geben. Sein Bedürfnis nach Rache ist wie ein Fass ohne Boden.«
Wir standen ein paar Augenblicke da, und ich glaubte, einen ganz neuen Ausdruck in ihrem Gesicht zu sehen, als wäre ihr gerade ein Gedanke gekommen. Sie sagte: »Was, wenn Haran mir Chaya nicht aus Rache vorenthält, sondern weil er selbst unrecht getan hat und das verbergen will?«
Mir lief ein Schauder über den Rücken. »Was meinst du damit, Tante?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie. »Die Zeit wird es zeigen.«
Draußen im Garten lag ein kleiner, mit Lotusblüten zugewachsener Teich. Wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf,
dachte ich.
Während Yaltha sich häuslich einrichtete, ging ich nach draußen und kniete neben dem Teich. Während ich mir anschaute, auf welch seltsame Weise der Lotus aus dem Schlamm im Untergrund wuchs, hörte ich Schritte. Als ich mich drehte, stand Apion vor mir. »Ich bin Euch dankbar«, sagte er. »Ihr habt mir zu Euren Ungunsten den Kopf gerettet.«
»Es war das Mindeste, was ich tun konnte.«
Er lächelte. »Nun, Nichte von Haran: Was ist es, das Ihr von mir wollt?«
»Die Zeit wird uns eine Antwort bringen«, sagte ich.
2.
Ich verbrachte jeden Morgen in Harans Skriptorium und machte Abschriften seiner Geschäftsakten. »Ein Narr ist, wer nur eine Abschrift hat«, hatte er gesagt. »Ein weiser Mann hingegen hat zwei.«
Meinem Onkel gehörten die gewinnbringenden Papyrusfelder seines Vaters, doch es war ein eher dröges Geschäft – jede Menge Verträge, Urkunden, Rechnungen, Quittungen. Bergeweise Langeweile. Glücklicherweise saß er jedoch auch immer noch im einundsiebzig Mitglieder umfassenden Ältestenrat, der mit allen Angelegenheiten der Juden in der Stadt befasst war, was mich mit wesentlich spannenderen
Dokumenten versorgte. So kopierte ich eine herrliche Ansammlung von reißerisch anmutenden Beschwerden über schwangere Witwen, über Schwiegertöchter, bei denen sich herausstellte, dass sie keine Jungfrauen mehr waren, über Ehemänner, die ihre Frauen verprügelten, und über Ehefrauen, die ihre Gemahle verließen. Da gab es die eidesstattliche Versicherung einer Frau, die man des Ehebruchs bezichtigte, worauf sie mit einer Hartnäckigkeit auf ihre Unschuld pochte, dass ich lächeln musste, und eine andere vom Eheweib eines Rabbis, die den männlichen Wärter eines Badehauses bezichtigte, ihre Schenkel mit heißem Wasser verbrannt zu haben. Am erstaunlichsten von allen war jedoch das Gesuch einer Tochter, die darum bat, sich selbst verheiraten zu dürfen und diese Aufgabe nicht ihrem Vater zu überlassen. Wie öde war es im Vergleich dazu in Nazareth gewesen …
Ich schrieb auf den schönsten Papyri, die ich jemals in Händen gehalten hatte – weißen, feinkörnigen, wie polierten Blättern –, und lernte, wie man diese zu Schriftrollen zusammenklebte, die zweimal so lang waren wie ich groß. Harans anderer Schriftgelehrter war ein älterer Mann namens Thaddäus, der weiße Haarbüschel in den Ohren und Tintenflecken auf den Fingern hatte und jeden Tag mit der Feder in der Hand an seinem Schreibtisch einschlummerte.
Durch seine Nickerchen kühn geworden, ließ auch ich Arbeit Arbeit sein und schrieb an meinen Geschichten über die Stammmütter weiter, während er schlief. Harans plötzliches Auftauchen fürchtete ich nicht, denn er verbrachte seine Tage in der Stadt; wenn er nicht an einem Treffen des Ältestenrates teilnahm, hatte er in der Synagoge zu tun oder besuchte die griechischen Spiele im Amphitheater; war er dann endlich zu Hause, taten wir unser Bestes, ihm aus dem Weg zu gehen, und nahmen unsere Mahlzeiten in unseren Gemächern ein. Ich musste nur ein paar mehr Abschriften vorzuweisen haben als die, die der eher langsame und oft schnarchende Thaddäus zustande brachte. Auf diese Weise verfasste ich die Geschichten von Judith, Ruth, Miriam, Deborah und Isebel. Die Schriftrollen versteckte ich in einem großen Krug in meinem Zimmer, und ihre Anzahl wuchs stetiglich.
Den Nachmittag verbrachte ich in unseren Gastgemächern, wo ich endlos auf und ab ging und mir Sorgen um meinen Liebsten machte, der vermutlich gerade in Galiläa umherwanderte, offen mit Aussätzigen, Huren und Mamsern jeglicher Art sprach und forderte, die Gewaltigen vom Thron zu stoßen und die Niedrigen zu erheben – und das alles in Anwesenheit von Antipas’ Spitzeln.
Um mich von meinen Befürchtungen abzulenken und mir die Zeit zu vertreiben, begann ich, Yaltha und Lavi meine Geschichten vorzulesen. Seit unserer Ankunft war Yaltha zunehmend ruhig und verdrossen geworden; offenbar bedrückte sie die Tatsache, dass wir nicht nach Chaya suchen konnten, und so hoffte ich, sie mit den Geschichten ein wenig aufmuntern zu können. Tatsächlich hatte sie Freude daran, doch am allermeisten genoss Lavi meine Leseabende.
Unerwartet erschien er eines Tages an unserer Tür. »Darf ich Pamphile mitbringen, damit auch sie deine Geschichten hören kann?«
Zuerst dachte ich, er bitte deshalb darum, weil ich die Lesungen gerne ein wenig ausschmückte, denn um Yaltha aufzumuntern, machte ich eine Art Darbietung daraus, indem ich die Geschichten zwar nicht tanzte, wie das Tabitha getan hatte, sondern sie mit Gesten und Ausrufen untermalte. Meine Darstellung der Judith zum Beispiel, wie sie Holofernes den Kopf abgeschnitten hatte, war so lebendig gewesen, dass sowohl Yaltha als auch Lavi laute Entsetzensschreie ausgestoßen hatten.
»Pamphile?«, fragte ich jetzt.
»Die hübsche kleine Ägypterin«, half mir Yaltha auf die Sprünge. »Die Hausdienerin.«
Ich schenkte Lavi ein wissendes Grinsen. »Geh, hol sie, und dann lese ich.«
Er stürzte zur Tür und hielt dann inne. »Ich möchte, dass du die Geschichte von Rachel liest, deren Gesicht schöner war als tausend Monde, und von Jakob, der vierzehn Jahre dienen musste, um sie endlich zur Frau nehmen zu können.«
3.
Yaltha saß in dem reich geschnitzten Stuhl in unserem Salon, ihrem ganz eigenen Thron, den sie tagein, tagaus einnahm, oft mit geschlossenen Augen, und rieb sich die Hände, verloren in Gedanken, denen niemand außer ihr folgen konnte.
Den ganzen Frühling und Sommer waren wir in Harans Haus eingesperrt gewesen; weder hatte man uns gestattet, die große Bibliothek zu besuchen, noch einen Tempel, einen Obelisken oder auch nur eine der kleinen Sphinxen zu betrachten, die auf der Hafenmauer hockten. Yaltha hatte Chaya zwar schon seit Wochen nicht mehr erwähnt, doch ich vermutete, dass sie an ihre Tochter dachte, wenn sie dort unruhig auf ihrem Stuhl saß und grübelte.
»Tante«, sagte ich eines Tages, weil ich unsere Ohnmacht nicht länger ertragen konnte. »Wir sind hierhergekommen, um Chaya zu finden. Lass uns endlich mit der Suche beginnen, auch wenn wir damit Haran gegen uns aufbringen.«
»Zuallererst, Kind, ist das nicht der einzige Grund, warum wir hier sind. Wir sind auch gekommen, um dich
davor zu bewahren, dass du in Herodes Antipas’ Gefängnis geworfen wirst. Wenn wir lange genug ausharren, sollte wenigstens das uns gelingen. Und was Chaya betrifft …« Sie schüttelte den Kopf, und jener traurige, wie abwesende Ausdruck auf ihrem Gesicht kehrte zurück. »Das ist schwerer, als ich gedacht habe.«
»Solange wir hier eingesperrt sind, finden wir sie nie«, sagte ich.
»Doch selbst wenn wir uns frei in der Stadt bewegen könnten … sofern uns Haran nicht einen Hinweis auf Chayas Aufenthaltsort gibt, wüsste ich nicht, wo wir anfangen sollten zu suchen.«
»Wir könnten uns auf dem Markt nach ihr erkundigen, in den Synagogen. Wir könnten …« Die Worte klangen selbst in meinen eigenen Ohren armselig.
»Ich kenne Haran, Ana. Wenn man uns dabei ertappt, wie wir uns aus diesen Mauern herauswagen, wird er seine Ankündigung wahrmachen
und die Anschuldigungen gegen mich wiederaufleben lassen. Manchmal denke ich, er wünscht es sich sogar, dass ich seine Bedingungen breche, damit er genau das tun kann. Ich
werde diejenige sein, die in den Kerker kommt, und du und Lavi werdet auf die Straße gesetzt – wohin könntest du dann gehen? Wie würdest du Nachricht von Judas erhalten, dass es für dich sicher ist, nach Galiläa zurückzukehren?«
Ich setzte mich auf das Leopardenfell zu ihren Füßen, schmiegte meine Wange an ihr Knie und schaute zur Seite, wo ein Fresko mit einer Reihe Wasserlilien die Wand schmückte. Ich dachte an die Lehmwände in Nazareth, die gestampften Böden, an das Dach aus Stroh und Lehm, das regelmäßig gegen Regen abgedichtet werden musste. Die bescheidenen Verhältnisse, in denen wir dort lebten, hatten mich nie gestört, doch ich hätte auch nicht behaupten können, dass ich sie vermisste. Was ich vermisste, waren Maria und Salome, die in Töpfen rührten. Meine Ziege, die mir auf dem Hof überallhin folgte. Und Jesus, immer Jesus. Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlug, brach die Erkenntnis von Neuem über mich herein, wie weit weg er von mir war. Ich stellte mir vor, wie er sich von seiner Matte erhob und das Schma wiederholte, den Gebetsschal um die Schultern gelegt, wie er sich ins Hügelland auf den Weg machte, um zu beten, und dann vermisste ich ihn so sehr, dass ich schließlich auch aufstand, meine Zauberschale hob und die Gebete sprach, die darin geschrieben standen.
Sophia, Atem Gottes, richte meine Augen auf Ägypten. Einst war es das Land der Fron, doch lass es das Land der Freiheit werden. Bring mich an den Ort der Papyri und der Tinte. An den Ort, an dem ich geboren werde.
Zu wissen, dass wir beide tagein, tagaus unsere morgendlichen Gebete verrichteten, war wie ein festes Band zwischen uns, doch ich hob meine Schale auch noch aus einem anderen Grund. Ich sehnte mich nicht nur
nach ihm, sondern auch nach mir selbst. Doch wie konnte man geboren werden, solange man in dieses Haus verbannt war, als hätte man eine ansteckende Krankheit?
Während ich so dasaß und die Lilien an der Wand ansah, kam mir auf einmal eine Idee. Ich richtete mich auf und sagte zu Yaltha: »Wenn es einen Hinweis auf Chayas Verbleib in diesem Haus gibt, dann könnte er sich irgendwo in Harans Skriptorium verbergen. Er hat dort eine große, aufrecht stehende Truhe. Ich weiß nicht, was sie enthält, nur, dass er argwöhnisch darauf bedacht ist, sie immer verschlossen zu halten. Ich könnte sie durchsuchen. Wenn es uns schon nicht freisteht, das Haus zu verlassen, dann kann ich wenigstens das tun.«
Yaltha antwortete nicht, ließ sich auch keinerlei Regung anmerken, doch ich spürte, dass sie mir sehr genau zugehört hatte.
»Such nach einer Adoptionsurkunde«, sagte sie. »Such nach allem, was uns dienlich sein könnte.«
4.
Am Morgen danach, als Thaddäus langsam die Augen zufielen und das Kinn ihm auf die Brust sank, schlüpfte ich in Harans Arbeitszimmer und suchte nach dem Schlüssel, mit dem sich besagte Schranktruhe im hinteren Teil des Skriptoriums öffnen ließ. Er war schnell gefunden, denn er lag nur notdürftig versteckt in einem Alabastertiegel auf Harans Schreibtisch.
Als ich die Schranktruhe aufsperrte, quietschten die Türen so misstönend wie falsch gezupfte Saiten einer Lyra, und ich erstarrte, doch Thaddäus regte sich nur kurz und schlief weiter. Hunderte von Schriftrollen waren dicht an dicht in einzelne Fächer gestapelt, Reihe um Reihe, und ihre runden Öffnungen starrten mich an wie eine Wand aus Augen.
Ich vermutete – zu Recht, wie sich später herausstellte –, dass ich auf sein persönliches Archiv gestoßen war. Waren diese Schriftstücke denn
nun nach Anlass, Jahr, Sprache, alphabetisch oder nach sonst einem rätselhaften Prinzip sortiert, das nur Haran bekannt war? Mit einem kurzen Blick auf Thaddäus ließ ich drei Schriftrollen aus dem linken, oberen Fach gleiten und machte die Tür des Schrankes zu, ohne sie abzuschließen. Bei dem ersten Dokument handelte es sich um ein Zertifikat auf Latein, in dem Harans römische Staatsbürgerschaft festgehalten wurde. Im Zweiten wurde ein Mann namens Andromachos aufgefordert, Harans schwarze Eselsstute zurückzugeben, die aus seinem Stall gestohlen worden war. Bei dem dritten Schriftstück handelte es sich um seinen letzten Willen, nach dem sein kompletter Besitz und sein Vermögen an seinen ältesten Sohn gehen sollte.
So kam es, dass ich fortan jeden Morgen Harans Schlüssel nahm und ein paar Schriftrollen aus dem Schrank holte, um sie zu studieren. In der Regel dauerten die Nickerchen des alten Schriftgelehrten etwas mehr als eine Stunde, doch da ich immer befürchtete, er könne doch einmal vorzeitig aufwachen, gestattete ich mir höchstens die Hälfte dieser Zeit zum Lesen, wobei ich jedes Schriftstück, das ich mir zu Gemüte geführt hatte, mit einem kleinen Tintenfleck auf der Außenseite kennzeichnete. Lange Abhandlungen über Philosophie wechselten sich mit Briefen, Einladungen, Gedenkschriften oder Horoskopen ab. Wie es schien, ließ mein Onkel nichts undokumentiert. Wenn ein winziger Käfer es wagte, auch nur ein einziges Blatt von einer Papyruspflanze auf seinem Feld zu fressen, konnte man sicher sein, dass Haran darüber ein Schriftstück verfasste, in dem der Verlust von drei
Pflanzen beklagt wurde. Ich kam nur langsam voran. Nach zwei Monaten hatte ich gerade einmal die Hälfte der Dokumente gelesen.
»Hast du heute etwas von Interesse gefunden?«, fragte Yaltha mich eines Nachmittags, als ich in unsere Gemächer zurückkehrte. Immer dieselbe Frage. Von allen Gefühlen war die Hoffnung das rätselhafteste. Sie wuchs und wucherte wie der blaue Lotus, schlängelte sich empor aus schlammigen Tiefen, wunderschön, solange ihre Blüte andauerte.
Ich schüttelte den Kopf. Immer dieselbe Antwort.
»Ab morgen komme ich mit dir ins Skriptorium«, sagte sie.
»Zusammen können wir die Schriftrollen schneller durchforsten.«
Ihr Vorschlag überraschte und erfreute mich, doch er beunruhigte mich auch. »Was, wenn Thaddäus aufwacht und sieht, wie du über Harans Schriftstücken hockst? Es ist das eine, wenn er mich bei einer unerlaubten Lektüre erwischt – ich kann immer behaupten, mir das Dokument irrtümlicherweise genommen zu haben, oder es habe am falschen Platz gelegen. Aber du – möglicherweise geht er auf der Stelle zu Haran und verpetzt dich.«
»Über Thaddäus brauchen wir uns keine Gedanken zu machen.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich ihm einen meiner Tränke servieren werde.«
***
AM DARAUFFOLGENDEN MORGEN
erschien ich mit Kuchen und Bier im Skriptorium, einem Getränk, das die Ägypter zu allen Tages- und Nachtzeiten genossen, als handelte es sich um Wasser oder Wein.
Ich stellte einen Becher mit dem Gebräu vor Thaddäus auf den Tisch. »Wir haben uns eine kleine Erfrischung verdient, findet Ihr nicht?«
Er legte den Kopf schief, schien sich unschlüssig zu sein. »Ich weiß nicht, ob Haran …«
»Ich bin mir sicher, er hat nichts dagegen, aber wenn, werde ich die Schuld auf mich nehmen. Ihr seid freundlich zu mir gewesen, und das möchte ich Euch vergelten, das ist alles.«
Da lächelte er und hob seinen Becher, was mir einen Stich schlechten Gewissens versetzte. Denn er war tatsächlich immer freundlich zu mir gewesen, war geduldig, wenn ich mich verschrieb, und hatte mir sogar gezeigt, wie man Schreibfehler oder Tintenkleckse mit einer bitteren, fermentierten Flüssigkeit ausmerzte. Ich vermutete, er wusste auch, dass ich manchmal Papyri für meine eigenen Zwecke mitgehen ließ, sagte jedoch nichts. Und wie würde ich es ihm nun danken? Ich täuschte ihn und verabreichte ihm ein beruhigendes Gebräu, das Yaltha mithilfe von Pamphile hergestellt und mit einem Schlafmittel
versetzt hatte, das aus der Lotusblüte gewonnen wurde.
Schon bald lag Thaddäus fest in Morpheus’ Armen. Ich kippte das Bier aus meinem eigenen Becher aus dem Fenster von Harans Arbeitszimmer, und als meine Tante erschien, hatte ich bereits das Schränkchen aufgeschlossen. Schriftrolle um Schriftrolle holten wir heraus, klemmten den Papyrus mit einer länglichen Holzspule fest und begannen, Seite an Seite, zu lesen. Yaltha war eine ungewöhnlich geräuschvolle Leserin. Sie kommentierte ihre Lektüre mit allerlei Räuspern, Zungenschnalzen oder Brummen und gab damit immer wieder zu verstehen, dass sie auf etwas gestoßen war, das sie erstaunte oder verärgerte.
Auf diese Weise arbeiteten wir uns durch etwa ein Dutzend Schriftrollen, ohne irgendeine Erwähnung von Chaya zu finden. Nach etwa einer Stunde schlich sich Yaltha wieder davon – das war die allerlängste Zeit, die wir riskieren konnten. Thaddäus jedoch schlief immer noch. Ich begann, mir seine zusammengesunkene Gestalt genauer anzusehen, um mich zu vergewissern, dass er noch atmete. Seine Atemzüge gingen flach und unregelmäßig, und so war ich erleichtert, als er endlich aufwachte und sich benommen und gähnend, das Haar auf einer Seite platt gedrückt, vom Schreibtisch aufrichtete. Wie gewöhnlich taten wir beide so, als hätten wir seine geistige Abwesenheit gar nicht bemerkt.
Später, als ich zu Yaltha in unsere Gemächer zurückkehrte, sagte ich: »Du und Pamphile müsst euch mit dem Schlafmittel in dem Gebräu ein wenig zurückhalten. Die halbe Dosis tut es auch.«
»Glaubst du, er hat das Bier in Verdacht?«
»Nein. Ich denke, er ist gut ausgeruht.«
5.
An einem Tag im Frühling, in dem Monat, den die Ägypter Phamenoth nannten, saßen Yaltha und ich am Lotusteich. Sie las in Homers Odyssee,
die auf einen dicken Kodex geschrieben war; es handelte sich um eine der kostbarsten Schriften in Harans Bibliothek. Ich hatte ihn ihr mit Thaddäus’ Erlaubnis mitgebracht, in der Hoffnung, ihr damit ein wenig die Zeit zu vertreiben und sie von ihrem Grübeln über Chaya abzulenken.
Unsere geheimen Lesestunden im Skriptorium hatten den gesamten Herbst und Winter angedauert. Nach dem ersten Monat hatte Yaltha ihre Besuche auf einmal pro Woche begrenzt, um keinen Verdacht bei Thaddäus zu wecken – öfter konnten wir ihm außerdem kein Bier bringen. Zudem waren unsere Nachforschungen ins Stocken geraten, als Haran an einer Magenverstimmung litt und mehrere Wochen das Haus nicht verließ. Dennoch hatten wir irgendwann jede Schriftrolle aus dem versperrten Schrank gelesen und wussten mehr über Harans persönliches und geschäftliches Leben, als uns lieb war. Thaddäus war vom vielen Bier rundlich geworden. Doch wir hatten keinen einzigen Hinweis darauf entdeckt, dass Chaya überhaupt jemals existierte.
Ich legte mich auf dem Gras zurück, blickte zum Himmel, an dem Wolkenfetzen vorbeizogen, und fragte mich, warum Judas mir noch nicht geschrieben hatte. In der Regel dauerte es drei Monate, bis ein Kurier einen Brief aus Galiläa brachte. Zwölf Monate waren wir bereits in Alexandria. Hatte Judas etwa einen unverlässlichen Kurier angeheuert? Oder vielleicht war dem Boten auf dem Weg etwas passiert. Durchaus möglich war es auch, dass Antipas seine Suche nach mir schon lange aufgegeben hatte. Ich presste die Fingernägel in das weiche Fleisch meiner Hände. Warum ließ mich Jesus nicht holen?
An dem Tag, als mein Mann mir gesagt hatte, er wolle mit dem Predigen beginnen, hatte er seine Stirn an die meine gelegt und die Augen geschlossen. Genau dieses Gefühl versuchte ich jetzt, in mir heraufzubeschwören … ihn
heraufzubeschwören. Schon jetzt wurden seine Gesichtszüge in mir ein wenig verschwommen, und dieses langsame Verschwinden machte mir Angst.
Pamphile trat in den Garten und brachte uns das Abendessen. »Zieht Ihr es vor, hier draußen zu essen?«
Ich richtete mich auf, und das Bild von Jesus zersprang in tausend Scherben. Auf einmal war da nur noch bitter-scharfe Einsamkeit.
»Lass uns hier essen«, sagte Yaltha und legte ihre Lektüre beiseite.
»Ist denn heute ein Brief gekommen?«, fragte ich Pamphile. Sie hatte mir versprochen, mir sofort Bescheid zu geben, wenn ein Kurier eintraf, doch ich fragte dennoch jeden Tag nach.
»Nein, tut mir leid.« Sie warf mir einen fragenden Blick zu. »Das muss aber ein sehr wichtiger Brief sein.«
»Mein Bruder hat versprochen, es mir sofort mitzuteilen, wenn es wieder ungefährlich für uns ist, nach Galiläa zurückzukehren.«
Auf einmal hielt Pamphile inne, und das Tablett geriet ins Wackeln. »Würde Lavi mit Euch zurückkehren?«
»Ohne seinen Schutz könnten wir nicht reisen.« Ich merkte zu spät, dass es gedankenlos von mir gewesen war, dies zu sagen. Lavi hatte sein Herz an sie verloren, doch offenbar beruhte dies auf Gegenseitigkeit. Wenn Pamphile wusste, dass der Brief Lavis baldige Abreise bedeutete, konnte es dann sein, dass sie ihn mir vorenthielt? Konnte ich ihr vertrauen?
Sie goss Wein in Yalthas Becher und dann in meinen und reichte uns unsere Schalen mit einem Eintopf aus Linsen und Knoblauch. »Wenn Lavi mit mir zurückkehrt«, sagte ich, »dann werde ich dafür sorgen, dass er sich eine Rückfahrt nach Alexandria leisten kann.«
Sie nickte, lächelte aber nicht.
Yaltha runzelte die Stirn. Ihre Miene war nicht schwer zu deuten: Ich verstehe, dass du dich ihrer Treue versichern möchtest, doch werden wir genügend Geld haben, um dieses Versprechen einzulösen?
Abgesehen von der Summe, die ich für unsere Rückkehr beiseitegelegt hatte, blieben uns nur noch genügend Drachmen für vier Monate Kost und Logis bei Haran, nicht mehr.
Als Pamphile gegangen war, ließ Yaltha ihren Löffel mit einem leisen Klacken in ihre Schale fallen, und auch ich hatte keinen Appetit mehr. Ich legte mich wieder auf den Boden, schloss die Augen und versuchte, mir sein Gesicht vorzustellen. Doch es ging nicht.
6.
Ich drückte Lavi fünf Drachmen in die Hand. »Geh auf den Markt und kaufe einen Reisebeutel aus Wolle, in den meine Schriftrollen passen.« Ich führte ihn zu dem Steinkrug in meinem Schlafgemach, zog eine Schriftrolle nach der anderen heraus und breitete sie auf dem Bett aus. »Wie du siehst, ist unsere alte Ledertasche nicht mehr groß genug.«
Er ließ den Blick über meinen Schatz wandern.
»Es sind siebenundzwanzig«, sagte ich zu ihm.
Das Licht des Nachmittags fiel durch das kleine Fenster herein, blassgrün gefiltert durch die Palmblätter. Ich starrte auf die Schriftrollen, dachte an all die Jahre, in denen ich um das Privileg, schreiben zu dürfen, gebettelt hatte, in denen jedes Wort, jeder Tintenstrich hart erkämpft und kostbar war, und es durchströmte mich eine Regung, die ich zunächst nicht einordnen konnte. Stolz vielleicht? Es war mehr als das simple Bewusstsein, dass ich das hier irgendwie geschafft hatte. Auf einmal musste ich staunen, und es kam mir wie ein Wunder vor. Siebenundzwanzig Schriftrollen.
In dem Jahr, seit wir hier waren, hatte ich meine Erzählungen über die Stammmütter der Bibel abgeschlossen und auch eine Geschichte über Chaya, die verlorene Tochter, und über Yaltha, die suchende Mutter, geschrieben. Noch bevor die Tinte getrocknet war, hatte ich sie meiner Tante gebracht. Als sie sie gelesen hatte, sagte sie: »Chaya ist verloren, doch ihre Geschichte ist es nicht«, und ich spürte, dass meine Worte für sie wie tröstlicher Balsam waren. Auch die Verse, die ich in meiner Trauer um Susanna auf Tonscherben geschrieben hatte und die ich in Nazareth hatte zurücklassen müssen, ließ ich noch einmal auf Papyrus wiederaufstehen. An alle konnte ich mich nicht mehr erinnern, doch es waren genügend, und ich war es zufrieden. Selbst die Geschichte meiner Freundschaft mit Phasaelis und ihrer Flucht vor Antipas hatte ich verewigt, und schließlich auch unser Leben in Nazareth.
Lavi blickte von dem Stapel Geschichten auf. »Bedeutet die neue
Tasche, dass wir bald abreisen werden?«
»Ich warte immer noch auf den Brief, in dem steht, dass eine Rückkehr nach Galiläa sicher ist. Ich möchte bereit sein, wenn er eintrifft.«
Es stimmte, dass ich einen neuen Beutel brauchte, doch ich hatte noch einen anderen Grund, warum ich Lavi in die Stadt schickte. Gerade überlegte ich mir, in welche Worte ich mein Anliegen fassen sollte, als er sagte: »Ich möchte Pamphile zur Frau nehmen.«
Ich blinzelte ihn erstaunt an. »Und möchte Pamphile deine Frau werden?«
»Wir würden schon morgen heiraten, doch mir fehlen die Mittel, um für sie zu sorgen. Ich muss hier in Alexandria eine Anstellung finden, denn sie will Ägypten nicht verlassen.«
Er wollte hierbleiben? Seine Worte versetzten mir einen Schlag in die Magengrube.
»Und wenn ich Arbeit gefunden habe«, sagte er, »muss ich bei ihrem Vater um ihre Hand anhalten. Ohne seine Zustimmung ist keine Heirat möglich. Er ist Weingärtner im Dorfe Dionysias. Ob er einem Fremden die Hand seiner Tochter geben würde, weiß ich nicht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr Vater dich ablehnen würde. Ich werde einen Empfehlungsbrief für dich schreiben, wenn du meinst, das hilft.«
»Ja, danke«, sagte er.
»Ich muss es wissen – wirst du dennoch mit uns nach Galiläa zurückkehren? Yaltha und ich können nicht allein reisen, das ist zu gefährlich.«
»Ich lasse dich nicht im Stich, Ana«, versprach er.
Erleichterung durchströmte mich, dann Freude. Ich erinnere mich nicht, dass er mich jemals so vertraut mit meinem Vornamen angesprochen hatte, selbst nicht, als ich ihn zum freien Mann erklärt und ihm angeboten hatte, mich zu duzen. Mir schien es nicht nur ein Akt der Freundschaft zu sein, sondern auch eine stille Erklärung seiner Eigenständigkeit als Mensch.
»Mach dir keine Sorgen, ich werde das Geld für deine Rückkehr nach Alexandria schon auftreiben«, sagte ich, doch kaum waren mir die Worte über die Lippen gegangen, wurde mir bewusst, dass ich das Geld ja schon hatte. Ob nun ein Brief von Judas kam oder nicht, wir hatten keine andere Wahl als abzureisen, sobald unser Geld verbraucht war. Wir würden einfach früher nach Galiläa zurückkehren, bevor
ich die letzte Rate für Unterkunft und Logis bei Haran zahlen musste. Was übrig blieb, konnte für Lavis Rückkehr verwendet werden.
»Und jetzt geh schnell zum Markt«, sagte ich. »Geh zu dem in der Nähe des Hafens.«
»Das ist aber weder der nächstgelegene noch der größte. Es wäre besser …«
»Lavi, das ist jetzt sehr wichtig. Bitte geh auch an den Hafen. Halte nach einem Schiff aus Cäsarea Ausschau. Sieh dir die Menschen an, die von Bord gehen – Kaufleute, Seeleute, alle. Ich brauche Neuigkeiten über Antipas. Es ist möglich, dass er gar nicht mehr am Leben ist, und wenn er krank oder tot ist, können wir in aller Seelenruhe nach Galiläa zurückkehren.«
ICH GING UNRUHIG IN UNSEREN GEMÄCHERN
auf und ab, während Yaltha las und ihre Lektüre gelegentlich für einen Kommentar zu dem Gelesenen unterbrach. Zum Beispiel ärgerte es sie, dass Odysseus ganze zehn Jahre gebraucht hatte, um nach dem Trojanischen Krieg zu seiner Frau zurückzukehren, und ebenso erzürnt war sie über Penelope, die die ganze Zeit auf ihn gewartet hatte. Ich hingegen fühlte mich jener Leidensgenossin in gewisser Weise verbunden. Im Warten auf Männer war ich geübt.
Draußen im Garten nahm der Tag allmählich seinen Abschied. Als Lavis Klopfen endlich kam, war es leise, aber bestimmt. Ich öffnete die Tür. Mein alter Weggefährte lächelte nicht. Er wirkte angespannt, als wäre er auf der Hut.
Ich hatte nicht wirklich mit der Nachricht gerechnet, dass wir
Antipas endlich los wären – wie groß war schon die Chance, dass der Tetrarch innerhalb eines Jahres das Zeitliche segnete? Andererseits hatte ich aber auch nicht geahnt, dass das, was Lavi in Erfahrung brachte, sogar noch nachteiliger ausfallen könnte.
Lavi nahm eine geräumige Tasche aus grauer Wolle von seiner Schulter und reichte sie mir. »Der Preis war drei Drachmen.«
Während er sich im Schneidersitz auf dem Boden niederließ, goss ich ihm einen Becher Wein ein, der aus Theben stammte. Yaltha klappte ihre Odyssee
zu und merkte die Stelle mit einem Lederbändchen ein. Die Öllampe flackerte und knisterte.
»Du hast etwas erfahren?«, fragte ich.
Er wandte den Blick ab, schloss halb die Augenlider. »Als ich an den Hafen kam, ging ich an der Anlegestelle auf und ab. Da waren Schiffe aus Antiochia und Rom, doch kein einziges aus Cäsarea. Aber ich sah drei Schiffe, die sich von jenseits des Leuchtturms näherten, eines hatte ein blutrotes Segel, deshalb wartete ich. Wie ich vermutet hatte, handelte es sich um ein römisches Frachtschiff aus Cäsarea. Es hatte mehrere jüdische Pilger an Bord, die über Pessach in Jerusalem gewesen waren, doch sie wollten nicht mit mir sprechen. Ein römischer Soldat wollte mich verscheuchen, und …«
»Lavi
«, sagte ich ungeduldig. »Was hast du erfahren?«
Er senkte den Blick in seinen Schoß und fuhr fort: »Einer der Männer an Bord schien mir nicht so reich zu sein wie die anderen. Ich folgte ihm. Als wir unbehelligt die Docks hinter uns gelassen hatten, bot ich ihm meine verbliebenen zwei Drachmen im Austausch für Nachrichten aus Galiläa an. Er nahm das Geld mit Freuden.«
»Und, hast du etwas über Antipas erfahren?«, fragte ich.
»Der Tetrarch lebt … und treibt mehr denn je sein Unwesen.«
Ich seufzte, doch die Nachricht kam nicht unerwartet. Ich holte den Weinkrug und füllte Lavis Becher nach.
»Doch das ist noch nicht alles«, sagte er. »Der Prophet, dem du und dein Mann gefolgt seid … der, den Antipas in den Kerker geworfen hat …«
»Ja, Johannes der Täufer – was ist mit ihm?«
»Antipas hat ihn hinrichten lassen. Man hat den Täufer geköpft.«
Seine Worte drangen in mein Ohr und sammelten sich dort, Pfützen der Unbegreiflichkeit, aus denen ich nicht schlau wurde. Eine Minute lang konnte ich mich weder rühren noch sprechen. Ich hörte, wie Yaltha mit mir redete, doch ich war weit weg und stand am Jordan, wo Johannes’ Hände mich langsam unter Wasser drückten. Licht funkelte am Grund des Flusses. Kieselsteine. Dieses stille Schweben. Und die gedämpfte Stimme des Täufers, der rief: Steh auf und wandle in einem neuen Leben.
Geköpft.
Ich schaute Lavi an, und Übelkeit breitete sich in mir aus. »Der Diener, mit dem du gesprochen hast – ist er sich dessen sicher?«
»Er sagte, das ganze Land sprach über den Tod des Propheten.«
Manche Erkenntnisse sind fest und hart wie Steine, man kann sie nicht schlucken.
»Es heißt, Antipas’ Gemahlin Herodias stecke dahinter«, fügte Lavi hinzu. »Ihre Tochter Salome tanzte für Antipas, und es gefiel ihm so sehr, dass er sagte, sie könne sich wünschen, was sie wolle. Auf Drängen ihrer Mutter bat sie um das Haupt des Johannes.«
Ich schlug die Hand vor den Mund. Als Belohnung für einen schönen Tanz war einem Menschen der Kopf abgeschlagen worden.
Lavi sah mich an. Seine Miene war ernst. »Der Diener sprach auch über einen anderen Propheten, der in Galiläa umherzog und predigte«, sagte er.
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
»Er hat den Propheten vor einer riesigen Menschenmenge auf einem Berg außerhalb von Kapernaum predigen hören; aus den Worten des Mannes sprach die pure Ehrfurcht. Er sagte, der Prophet habe Heuchler und Pharisäer gegeißelt und erklärt, eher ginge ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelange. Er habe die Armen und die Sanftmütigen gesegnet, die Ausgestoßenen und die Barmherzigen. Er habe Liebe gepredigt und gesagt, wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei, und wenn dich jemand auf deine
rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und der Diener sagte, diesem Propheten folgten sogar noch mehr Menschen als dem Täufer. Die Leute glaubten, er sei der Messias. Und der König der Juden.« Lavi verfiel in Schweigen.
Auch ich schwieg. Die hölzerne Tür zum Garten wurde weit aufgerissen, und ich trat in die ägyptische Nacht hinaus, lauschte dem Wind in den Palmwedeln. Die dunkle Welt dort draußen stürzte in sich zusammen.
7.
Als Yaltha die Vorhänge beiseitezog, die mein Bett umgaben, kniff ich die Augen zu und gab vor zu schlafen. Es war weit nach Mitternacht.
»Ich weiß, dass du wach bist, Ana. Wir werden jetzt reden.« Sie hatte eine Bienenwachskerze in der Hand, die flackernd ihr Kinn und den knochigen Vorsprung ihrer Brauen von unten beleuchtete. Sie stellte den Kerzenhalter auf dem Boden ab, und der erstickend-süßliche Geruch des Wachses stieg mir in die Nase. Als Yaltha sich behutsam auf die Kissen neben mir sinken ließ, drehte ich mich auf die Seite und wandte mich von ihr ab.
Lavis Neuigkeiten aus Galiläa lagen jetzt sieben Tage zurück, und ich hatte seither weder über den grausamen Tod von Johannes dem Täufer sprechen können, noch über meine Angst, meinen Ehemann könnte das gleiche Schicksal ereilen. Ich konnte nichts essen. Ich schlief nur wenig, und wenn ich es tat, träumte ich von toten Messiassen und zerrissenen Garnfäden. Jesus dort auf jenem Berg, wie er den Boden für den Umbruch bereitete – das war etwas Gutes, und ich konnte nicht anders, als stolz auf ihn zu sein, denn was schon so lange in ihm brannte, wurde in die Tat umgesetzt. Dennoch erfüllte mich der Gedanke mit einer tiefen und unerbittlichen Furcht.
In den ersten Tagen hatte mich Yaltha meinem Schweigen überlassen, weil sie glaubte, ich brauche Zeit für mich allein, doch da
war sie jetzt, ihr Kopf neben meinem auf das Kissen gebettet.
»Wenn man sich einer Angst nicht stellt, wird sie nur noch stärker«, sagte sie.
Ich erwiderte nichts.
»Alles wird gut, Kind.«
Empört fuhr ich hoch. »Ach ja? Das kannst du doch gar nicht wissen! Wie kannst du das wissen?«
»Oh, Ana, Ana.
Wenn ich dir sage, alles wird gut, dann meine ich nicht damit, dass das Leben dir keine Tragödien bringt. Das Leben wird so sein, wie es eben ist. Ich meine nur, dass es dir trotz allem gut gehen wird. Alles wird gut, ganz gleich, was passiert.«
»Wenn Antipas meinen Liebsten tötet, so wie er Johannes getötet hat, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass es mir gut gehen
wird.«
»Wenn Antipas ihn tötet, wirst du unglücklich und verzweifelt sein, doch es gibt einen Ort in dir, der unzerstörbar ist – es ist der Ort, dessen du dich am meisten gewiss sein kannst, ein Stück von Sophia selbst. Du wirst deinen Weg dorthin finden, wenn du es musst. Und dann wirst du wissen, wovon ich spreche.«
Ich schmiegte meinen Kopf an ihren Arm, der sehnig und vom Leben gehärtet war wie sie selbst. Was sie da sagte, erschloss sich mir nicht. Ich verfiel in einen traumlosen Schlaf, wie ein schwarzer Schacht ohne Boden, und als ich aufwachte, lag meine Tante noch immer da.
***
ALS WIR AM DARAUFFOLGENDEN MORGEN FRÜHSTÜCKTEN
, sagte Yaltha: »Wir müssen über deinen Plan reden, nach Galiläa zurückzukehren.« Sie tauchte ihr Brotstück in Honig und schob es sich in den Mund. Als ich sah, wie sie den goldenen Nektar genüsslich auf ihr Kinn tropfen ließ, spürte ich, wie mein Appetit wieder zurückkehrte. Ich zupfte mir ein Stück Brot vom Laib.
Sie sagte: »Du fürchtest um Jesus’ Sicherheit – ich fürchte um die deine.«
Ein heller Streifen Sonnenlicht fiel neben uns durchs Fenster, und ich schaute ihn an, wünschte mir, jemand würde mit einem magischen Lichtfinger auf den Boden schreiben, was ich tun sollte. Zurückzukehren war gefährlich, kaum weniger gefährlich als zur Zeit meiner Flucht, doch mein Verlangen danach, Jesus zu sehen, war drängend und unerschütterlich geworden.
»Wenn Jesus tatsächlich in Gefahr schweben sollte«, sagte ich, »dann möchte ich ihn sehen, bevor es zu spät ist.«
Sie beugte sich vor, und ihr Blick wurde weich. »Wenn du jetzt zu ihm zurückkehrst, dann fürchte ich, wird Antipas noch mehr danach streben, auch Jesus zu ergreifen.«
Daran hatte ich gar nicht gedacht. »Du glaubst, meine Anwesenheit könnte ihn noch mehr in Gefahr bringen?«
Sie gab mir keine Antwort und blickte mich nur an, hob die Brauen. »Du etwa nicht?«
8.
Ich war die ganze Woche nicht im Skriptorium erschienen, doch an jenem Morgen tauchte ich mit dem Entschluss dort auf, vorerst in Alexandria weiterzumachen. Ich ließ mich auf den Schemel vor meinem Schreibtisch gleiten, der, wie ich bemerkte, frisch poliert war; das gelbe Holz schimmerte und duftete nach Zitrusöl.
»Ihr wurdet vermisst«, kommentierte Thaddäus vom anderen Ende des Raumes.
Ich lächelte ihm zu und machte mich sogleich an die Arbeit: die Abschrift des Gesuchs einer Frau, die eine Steuersenkung für ihre Getreidevorräte beantragte, welche, wie aus dem Schreiben hervorging, bei der letztjährigen Flut zu wenig Bewässerung erhalten hatten; hauptsächlich uninteressantes Gefasel. Doch ich war froh darum, meinen Geist endlich wieder mit etwas zu beschäftigen, das nicht mit meinen eigenen Sorgen zu tun hatte, und während der
Morgen ins Land ging, gab ich mich mehr und mehr den mechanischen Bewegungen meiner Hand hin, während sie Buchstaben und Worte bildete.
An diesem Tag blieb Thaddäus wach, vielleicht ein wenig angespornt durch meine Rückkehr. Kurz vor Mittag merkte ich, wie er mir über die Schulter schaute und sagte: »Darf ich Euch etwas fragen, Ana? Wonach habt Ihr und Eure Tante eigentlich in den Schriftrollen gesucht?«
Ich sah ihn stumm vor Erschrecken an. Mir wurde heiß und kalt. »Ihr wusstet es?«
»Ich genoss meinen Schlaf und danke Euch dafür, doch ab und zu bin ich doch aufgewacht, wenn auch nur halb.«
Wie viel hatte er wirklich gesehen? Kurz ging mir durch den Kopf, ihm vorzugaukeln, dass Yaltha eine Aufgabe gebraucht hätte, um sich die Zeit zu vertreiben, und mir deshalb bei meiner Arbeit geholfen hatte, doch ich brachte die Lüge einfach nicht über die Lippen. Ich wollte ihn nicht länger an der Nase herumführen.
Ich sagte: »Ich nahm den Schlüssel an mich, mit dem man den Papyri-Schrank aufsperren kann. Wir lasen die Schriftrollen, in der Hoffnung, darin etwas über Yalthas Tochter zu finden.«
Er strich sich übers Kinn, und einen schrecklichen Moment lang fürchtete ich, er würde direkt zu Haran gehen und uns verraten. Ich sprang auf, zwang mich nach Kräften, ruhig zu bleiben. »Es tut mir leid, Euch getäuscht zu haben. Ich wollte Euch nicht in die Sache hineinziehen, für den Fall, dass wir erwischt werden. Bitte, wenn Ihr mir verzeihen könntet …«
»Ist schon gut, Ana. Ich hege keinen Groll gegen Euch oder Eure Tante.«
Ich spürte, wie die Verkrampfung in mir ein wenig nachließ. »Dann werdet Ihr Haran also nicht davon in Kenntnis setzen?«
»Meine Güte, nein. Er war mir niemals ein Freund. Er bezahlt mich schlecht und beklagt sich oft über meine Arbeit, die ich so öde finde, dass ich mich des Öfteren in ein Nickerchen flüchte. Eure Anwesenheit hat immerhin wieder eine gewisse … Lebendigkeit in diese
Räumlichkeiten gebracht.« Er lächelte. »Nun. Nach welcher Akte wart Ihr denn auf der Suche?«
»Wir suchten nach Hinweisen darauf, was aus Yalthas Tochter geworden ist. Haran hat sie damals zur Adoption freigegeben.«
Weder Thaddäus noch einer der Bediensteten hatten damals bei Haran in Lohn und Brot gestanden – Yaltha war so umsichtig gewesen, sich bei unserer Ankunft sogleich danach zu erkundigen. Ich fragte Thaddäus, ob er denn die Gerüchte über meine Tante gehört hatte.
Er nickte. »Es hieß, sie habe ihren Mann vergiftet, und Haran habe sie zu den Therapeutae geschickt, um sie vor dem Gefängnis zu bewahren.«
»Sie hat niemanden umgebracht«, erwiderte ich entrüstet.
»Wie lautet denn der Name ihrer Tochter?«, wollte Thaddäus wissen.
»Chaya«, sagte ich zu ihm. »Sie war zwei Jahre alt, als meine Tante sie zuletzt gesehen hat.«
Er kniff die Augen zusammen und trommelte mit den Fingern an seine Schläfe, als könnte er so seinem Gedächtnis etwas entlocken. »Der Name sagt mir etwas«, murmelte er vor sich hin. »Ich weiß, dass ich ihn irgendwo gelesen habe.«
Ich riss die Augen auf. War es vermessen, zu hoffen, dass er von ihr wusste? Er stand dem Skriptorium und seinem gesamten Inhalt bereits seit neun Jahren vor. Er wusste mehr über Harans Geschäfte und Anliegen als jeder andere. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihm an die andere Schläfe geklopft, doch ich blieb sitzen und wartete.
Er stand auf und begann, im Kreis im Zimmer umherzugehen. Gerade hatte er die zweite Runde hinter sich gebracht, als er abrupt stehen blieb. »Oh«, sagte er. Ein seltsamer Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Für mich sah es nach Bestürzung aus. »Kommt mit mir.«
Wir schlüpften in Harans Arbeitszimmer, wo Thaddäus eine unauffällig wirkende abgeschlossene Holzschatulle von einem niedrigen Regal nahm. Ihr Deckel war mit einem Abbild der Göttin Nephthys bemalt, die, geflügelt wie ein Falke, als Beschützerin der Toten galt, wie Thaddäus mich freundlicherweise aufklärte. Er nahm einen Schlüssel von einem Haken unter Harans Schreibtisch, ließ ihn
ins Schlüsselloch gleiten und klappte den Deckel auf. In der Schatulle türmten sich mehrere Schriftrollen, vielleicht zehn oder zwölf. »Hier verwahrt Haran die Schriftstücke, die geheim bleiben sollen.«
Er kramte in den Rollen. »Bald nachdem ich für Haran zu arbeiten begann, ließ er mich von allen Schriftrollen in der Schatulle Abschriften anfertigen. Wenn ich mich recht erinnere, war darunter auch eine Nachricht über den Tod eines Mädchens namens Chaya. Es war ein ungewöhnlicher Name; deshalb ist er mir im Gedächtnis geblieben.«
Alles Blut wich aus meinem Kopf. »Sie ist tot?«
Ich ließ mich auf Harans prunkvollen Schreibtischstuhl sinken und stieß langsam den Atem aus, während er einen Papyrus auf dem Tisch vor mir ausrollte.
An den Königlichen Schriftgelehrten der Metropolis von Haran ben Philippos Levias aus der jüdischen Gemeinde.
Hiermit bestätige ich, dass Chaya, die Tochter meiner Schwester Yaltha, im Monat Epiphi des zweiunddreißigsten Jahres der Regentschaft von Kaiser Augustus Cäsar verstorben ist. Als ihr Vormund und Angehöriger bitte ich darum, ihren Namen unter denen zu verzeichnen, die das Zeitliche gesegnet haben. Es bestehen keine steuerlichen Ausstände, weil sie zum Zeitpunkt ihres Todes erst zwei Jahre alt war.
Ich las die Verlautbarung zweimal und schob sie dann zu Thaddäus zurück, der sie rasch überflog. Er sagte: »Im Gesetz ist es eigentlich nicht vorgesehen, dass der Tod eines Kindes verkündet wird, nur der eines erwachsenen Mannes, der steuerpflichtig ist. Es kommt vor, ist aber selten. Ich erinnere mich, es sonderbar gefunden zu haben.«
Chaya ist tot.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich vor Yaltha stand und diese Worte aussprach, doch selbst in meinen Gedanken
brachte ich sie nicht über die Lippen.
Er legte die Schriftrolle zurück und verschloss die Schatulle. »Tut mir leid, aber es ist am besten, wenn man die Wahrheit kennt.«
Ich war erschrocken, und mir grauste davor, diese furchtbare Nachricht zu überbringen – und so war ich alles andere als überzeugt, dass es am besten war, die Wahrheit zu kennen. In jenem Moment jedenfalls wäre es mir lieber gewesen, in Ungewissheit zu bleiben und mir vorzustellen, Chaya sei irgendwo auf der Welt noch am Leben.
ICH TRAF YALTHA IM GARTEN AN,
wo sie spazieren ging. Eine Weile beobachtete ich sie von der Tür aus, dann nahm ich all meinen Mut zusammen und trat auf sie zu.
Wir nahmen am Rand des Teiches Platz, und ich erzählte ihr von der Verlautbarung über Chayas Ableben. Yaltha blickte zum Himmel, an dem weder ein Vogel noch eine Wolke zu sehen waren, und ließ dann den Kopf auf die Brust sinken, während sich ihr ein Schluchzen entrang. Ich schlang die Arme um ihre mageren Schultern, und so saßen wir lange da, still und benommen, lauschten den Geräuschen des Gartens. Vogelgezwitscher, das Huschen von Eidechsen, ein warmer Windstoß, der die Palmen zum Rascheln brachte.
9.
Tage vergingen, in denen Yaltha nur dasaß und durch die offene Tür des Salons in den Garten hinausschaute. Eines Nachts wachte ich auf und fand sie wieder dort vor, wie sie ins Dunkel starrte. Ich störte sie nicht. Yaltha trauerte auf ihre Weise.
Ich kehrte ins Bett zurück. Der Schlaf kam, und mit ihm ein Traum.
Ein großer Wind kommt auf. Die Luft füllt sich mit Schriftrollen. Sie flattern um mich herum wie weiß-braune Vögel. Als ich den Blick hebe, sehe ich die Falkengöttin Nephthys, wie sie am Himmel entlangzieht.
Als ich erwachte, war der Traum noch in mir und erfüllte mich mit Leichtigkeit, und das Erste, was mir in den Sinn kam, war die hölzerne Schatulle, in der Haran seine geheimen Schriftstücke verwahrte. Es war, als wäre Nephthys in meinem Traum aus ihrer Gefangenschaft auf dem Deckel des Kästchens geflohen, als wäre jener Deckel geöffnet und alle Schriftrollen daraus befreit worden.
Ich lag regungslos da und versuchte, mich genauestens an den Moment zu erinnern, als Thaddäus mir die Schatulle gezeigt hatte – den Schlüssel, das Quietschen des Deckels, als er ihn anhob, an die wüst durcheinanderliegenden Schriftrollen, und wie ich die Todesanzeige zweimal gelesen hatte. Dann hörte ich Thaddäus in meiner Erinnerung sagen: Im Gesetz ist es eigentlich nicht vorgesehen, dass der Tod eines Kindes verkündet wird, nur der eines erwachsenen Mannes, der steuerpflichtig ist. Es kommt vor, ist aber selten. Ich erinnere mich, es sonderbar gefunden zu haben.
Damals war mir diese Feststellung unbedeutend vorgekommen, doch nun fragte ich mich, warum sich mein Onkel überhaupt die Mühe gemacht hatte, Chaya für tot zu erklären, wenn dies überhaupt nicht erforderlich war. Warum war es ihm so wichtig gewesen, ihr Ableben aktenkundig festzuhalten? Und dann kam mir noch ein anderer Gedanke: Sie war erst zwei Jahre alt gewesen, als sie starb. War es nicht seltsam, dass ihr Leben geendet hatte, kurz nachdem Yaltha in die Fremde geschickt worden war?
Ich setzte mich ruckartig auf.
Als Thaddäus ins Skriptorium kam, wartete ich bereits auf ihn. »Ich muss noch einmal in die verschlossene Schatulle in Harans Arbeitszimmer schauen«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Aber Ihr habt doch die Todesanzeige gesehen. Was denn noch?«
Ich wusste, es war besser, ihm weder von dem Traum zu erzählen noch von dem Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Stattdessen sagte ich: »Mein Onkel hat das Haus bereits verlassen und ist in geschäftlichen Angelegenheiten in der Stadt. Er wird es nicht merken.«
»Es ist nicht Haran, um den ich mir Sorgen mache, sondern sein Leibdiener, der mit dem rasierten Kopf.« Ich wusste, wen Thaddäus meinte. Es war bekannt, dass der Mann vor Haran katzbuckelte, ebenso wie es hieß, er würde für ihn spionieren – alles, um sich bei ihm einzuschmeicheln.
»Wir beeilen uns«, versprach ich und schenkte ihm meinen flehentlichsten Blick.
Thaddäus seufzte und ging mir ins Arbeitszimmer voraus. Ich zählte neun Schriftrollen in der Schatulle. Ich rollte eine auf und las die strenge Rüge an Harans zweite Ehefrau, die angeblich ihr Treuegelöbnis gebrochen hatte. Bei der zweiten Schriftrolle handelte es sich um die Scheidungsurkunde.
Thaddäus beobachtete mich und blickte immer wieder voller Unruhe zur Tür. »Ich weiß nicht, wonach Ihr sucht, aber es wäre klug, schneller zu lesen.«
Ich wusste selbst nicht, wonach ich suchte. Ich rollte ein drittes Schriftstück auf und hielt es auf dem Schreibtisch fest.
Choiak, Sohn des Dios und Kameltreiber im Dorfe Soknopaiou, überlässt nach dem Tode seiner Frau und aufgrund eigener Bedrängnis und Not seine zweijährige Tochter Diodora einem Priester des Isis-Tempels für die Summe von vierzehnhundert Silberdrachmen.
Ich hielt im Lesen inne und dachte fieberhaft nach.
»Seid Ihr auf etwas gestoßen?«, fragte er.
»Da wird ein zweijähriges Mädchen erwähnt.« Thaddäus wollte mehr wissen, doch ich gebot ihm stumm, zu warten, weil ich weiterlesen wollte.
Der Käufer, dem aufgrund seiner Stellung als Vertreter der Göttin Ägyptens Anonymität gewährt wird, erhält die gesetzlich verbrieften Besitzrechte an Diodora und kann diese ab dem heutigen Tag in vollem Umfang ausüben. Zugleich erlischt für Choiak die Möglichkeit, seine Tochter zurückzuholen; durch diese Kaufvereinbarung, die in zwei Abschriften vorliegt, tut er seine Zustimmung kund und bestätigt den Erhalt oben genannter Summe.
Unterzeichnet im Namen von Choiak, der des Lesens und Schreibens nicht kundig ist, durch Haran ben Philippos Levias an diesem Tag des Monats Epiphi, im zweiunddreißigsten Jahr der Regentschaft des illustren Kaisers Augustus Cäsar.
Ich hob den Kopf. Hitze wallte in mir auf, stieg von meinem Hals bis ins Gesicht, so groß war meine Verwunderung.
»Sophia«,
flüsterte ich.
»Was denn? Was steht da?«
»Das zweijährige Mädchen gehörte einem verarmten Mann namens Choiak, dessen Frau verstorben war. Er verkaufte seine Tochter als Sklavin an einen Priester.« Ich blickte auf das Schriftstück. »Der Name des Mädchens war Diodora.«
Ich kramte in der Schatulle nach der Verlautbarung von Chayas Tod und legte die beiden Dokumente nebeneinander. Chaya, zwei Jahre alt. Diodora, zwei Jahre alt. Chaya war im selben Monat desselben Jahres gestorben, in dem Diodora verkauft worden war.
Ich wusste nicht, ob Thaddäus zum selben Schluss gekommen war wie ich. Ich hatte keine Zeit, ihn danach zu fragen.
10.
Yaltha saß auf dem Stuhl neben der Tür zum Garten und schlummerte
tief. Ihr Mund stand offen, die Hände waren auf ihrer Brust gefaltet. Ich kniete vor ihr und rief leise ihren Namen. Als sie sich nicht rührte, rüttelte ich an ihrem Knie.
Sie schlug die Augen auf und runzelte die Stirn. »Warum hast du mich geweckt?«, fragte sie, ein wenig entrüstet.
»Tante, es gibt gute Nachrichten. Ich habe ein Schriftstück gefunden, welches für uns Anlass zu der Hoffnung sein könnte, dass Chaya nicht tot ist.«
Sie setzte sich kerzengerade auf. Auf einmal leuchteten ihre Augen wieder. Aufgewühlt blickte sie mich an. »Wovon redest du, Ana?«
Bitte. Lass es nicht zu, dass ich mich täusche.
Ich erzählte ihr von meinem Traum, von den Fragen, die er in mir aufgewühlt hatte, und dass ich noch einmal in Harans Arbeitszimmer gegangen war, um die Schatulle zu öffnen. Als ich ihr das Schriftstück beschrieb, das ich darin gefunden hatte, blickte sie mich verwirrt an.
»Das Mädchen, das in die Sklaverei verkauft wurde, trug den Namen Diodora. Doch findest du es nicht seltsam, dass Chaya und Diodora das gleiche Alter hatten? Dass die eine starb, und die andere als Sklavin verkauft wurde, in genau demselben Monat des genau selben Jahres?«
Yaltha schloss die Augen. »Es ist ein und dasselbe Mädchen.«
Die Gewissheit in ihrer Stimme überraschte mich, doch sie spornte mich auch an, noch einen Schritt weiter zu gehen. »Denk doch nur«, sagte ich. »Was, wenn es gar kein armer Kameltreiber war, der ein zweijähriges Mädchen an den Priester verkauft hat, sondern Haran selbst?«
Sie blickte mich an, in traurigem, ungläubigem Staunen.
»Und danach«, fuhr ich fort, »versuchte Haran, das zu vertuschen, was er getan hatte, indem er Chaya für tot erklären ließ. Kommt dir das plausibel vor? Ich meine, hältst du ihn dessen für fähig?«
»Ich glaube, er ist zu allem fähig. Und er hätte guten Grund, die Tat zu vertuschen. Die Synagogen hier verurteilen es, jüdische Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Haran würde aus dem Rat ausgeschlossen, wenn das ans Licht käme. Er könnte sogar aus der Gemeinde
ausgestoßen werden.«
»Haran wollte den Leuten vorgaukeln, Chaya sei tot, doch dir sagte er, sie sei adoptiert worden. Ich frage mich, warum. Glaubst du, er wollte, dass du in dem Glauben Alexandria verließt, sie werde geliebt und umsorgt? Vielleicht gibt es ja irgendwo doch ein Restchen Herzensgüte in ihm.«
Ihr Lachen war bitter. »Er wusste, wie entsetzlich es für mich wäre, irgendwo da draußen eine Tochter zu haben, die für mich verloren war. Er wusste, dass mich das bis ans Ende meiner Tage verfolgen würde. Als meine Söhne starben, war mein Kummer riesengroß, doch mit der Zeit fand ich mich damit ab. Womit ich mich niemals abgefunden habe, war der Verlust von Chaya. Einen Moment lang scheint sie mir zum Greifen nah, und im nächsten liegt sie in einem Abgrund, in dem ich sie niemals finden kann. Diese ganz besondere Qual hat sich Haran mit Freuden für mich ausgedacht.«
Yaltha lehnte sich in dem Stuhl zurück, und ich sah, wie ihre Wut auf Haran wich, und ihr Blick weich wurde. Sie stieß einen langen Atemzug aus. »Steht in dem Schriftstück der Name des Priesters, der das Mädchen gekauft hat, oder in welchem Tempel er diente?«, fragte sie.
»Nichts davon wird erwähnt.«
»Dann könnte Chaya überall in Ägypten sein – hier in Alexandria oder weit weg auf der Insel Philae.«
Sie zu finden schien mir auf einmal unmöglich. Die Enttäuschung im Blick meiner Tante zeigte mir, dass sie genauso dachte.
»Es genügt zu wissen, dass Chaya am Leben ist«, sagte sie.
Doch natürlich genügte es nicht.
11.
Eines Morgens, kurz nachdem ich im Skriptorium eingetroffen war, stand Harans Leibdiener in der Tür. Er machte eine kleine Verbeugung in meine Richtung. »Haran wünscht, Euch in seinem Arbeitszimmer zu
sehen.«
In all den Monaten, die wir hier waren, hatte mich Haran noch nie zu sich gerufen. Eigentlich hatte ich ihn überhaupt nur selten gesehen und war ihm bestenfalls zwei Dutzend Mal im Vorübergehen auf dem Weg zwischen dem Skriptorium und den Gastgemächern begegnet. Das Geld für unsere Kost und Logis zahlte ich an Apion.
Sonderbar, dass der Mensch immer mit dem Schlimmsten rechnet. Ich dachte auf der Stelle, Haran habe entdeckt, dass ich in seinem Aktenschrank und seiner Geheimschatulle geschnüffelt hatte. Ich fuhr auf meinem Schemel herum und schaute zu Thaddäus, der ebenso überrascht und beunruhigt schien wie ich. »Soll ich mit Euch kommen?«
»Haran will nur die Frau sehen«, sagte der Diener und trat unruhig von einem Bein aufs andere.
Mein Onkel saß in seinem Arbeitszimmer, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, eine geballte Faust in die andere gelegt. Er blickte kurz zu mir hoch, richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf eine Reihe von Schriftrollen, Rohrfedern und Tintenfläschchen, die auf dem Tisch verteilt waren, und ließ mich warten. Ich glaubte nicht, dass sein Diener mein Eindringen in Harans Arbeitszimmer bemerkt hatte, doch sicher konnte ich nicht sein. Die Ungewissheit war schier unerträglich.
Minuten vergingen. »Thaddäus sagt mir, deine Arbeit sei zufriedenstellend«, ergriff er endlich das Wort. »Aus diesem Grund habe ich beschlossen, euren Beitrag zu Kost und Logis auszusetzen. Ab jetzt seid ihr keine zahlenden Gäste mehr, sondern wohnt und lebt umsonst bei mir.«
Gäste. Gefangene. Der Unterschied war nur gering.
»Vielen Dank, Onkel.« Ich versuchte, ihn anzulächeln. Es half immens, dass er einen Tintenfleck am Nasenflügel hatte, den er sich soeben mit seinem verschmierten Finger selbst zugefügt hatte.
Er räusperte sich. »Morgen breche ich zu einer längeren Reise auf, um meine Papyrusfelder und die Werkstätten zu inspizieren. Ich werde nach Terenuthis, Letopolis und Memphis fahren und voraussichtlich
vier Wochen unterwegs sein.«
Wir waren fast anderthalb Jahre im Haus eingesperrt gewesen, doch da war sie endlich – die süße Freiheit.
Fast wäre ich in wilde Gesänge und Tänze ausgebrochen.
»Ich habe dich hierhergebeten«, sagte er, »um dich persönlich darauf hinzuweisen, dass meine Abwesenheit nichts an unserer Vereinbarung ändert. Sollten du oder meine Schwester nur einmal das Haus verlassen, werdet ihr das Recht hierzubleiben verwirkt haben, und mir bleibt keine andere Wahl, als die Anklage wegen Mordes gegen Yaltha wiederaufleben zu lassen. Ich habe Apion die Anweisung gegeben, euch zu überwachen. Er wird mir über euer Tun Bericht erstatten.«
Süße, süße, süße Freiheit.
DA ICH YALTHA NICHT IN UNSEREN GEMÄCHERN VORFAND,
eilte ich ins Bedienstetenquartier, wohin sie sich manchmal zurückzog. Dort traf ich sie zusammen mit Pamphile und Lavi an. Sie spielten Senet, ein Spiel, bei dem es darum geht, als Erster ins Jenseits überzugehen, und Yaltha schob mit Feuereifer ihren elfenbeinernen Spielstein über das Brett. Das Spiel war für sie wie ein heilender Balsam, ein Zeitvertreib, doch ihre Enttäuschung darüber, dass wir Dinge über Chaya herausgefunden hatten, ohne sie suchen zu können, schwebte noch immer über ihr wie eine dunkle Wolke, die ich fast sehen konnte.
»Verdammt!«, schrie meine Tante auf, als sie auf einem Feld landete, das für Pech stand.
»Wenn es nach mir geht, brauchst du dich nicht zu beeilen, ins Jenseits zu kommen«, sagte ich, und die drei blickten vom Brett auf, überrascht, mich zu sehen.
Meine Tante grinste. »Nicht einmal in dieses schäbige Jenseits auf dem Spielbrett?«
»Nicht einmal das.« Ich beugte mich zu ihr und flüsterte: »Ich habe gute Nachrichten.«
Sie warf ihren Spielstein beiseite. »Da Ana mich gebeten hat, heute nicht das Jenseits aufzusuchen, muss ich mich aus dem Spiel zurückziehen.«
Ich führte sie zu einer Stelle in der Nähe der Küche unter freiem Himmel, wo wir ungestört waren, und sagte ihr, was gerade vorgefallen war.
Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Es gibt einen Menschen, der über Harans Betrug Bescheid wissen könnte, und das ist Apions Vater Apollonios. Er war vor Apion Harans Schatzmeister, doch auch sein Vertrauter, und tat alles für ihn. Wahrscheinlich hatte er damals mit der Sache zu tun.«
»Dann werden wir ihn suchen.«
»Er wird alt sein«, sagte sie. »Wenn er überhaupt noch am Leben ist.«
»Glaubst du denn, er würde uns helfen?«
»Zu mir war er immer freundlich.«
»Dann spreche ich Apion darauf an, wenn der Zeitpunkt günstig ist«, sagte ich und schaute ihr dabei zu, wie sie den Kopf in den Nacken legte und die gewaltige Weite des Firmaments in sich aufsog.
12.
Apion saß in dem kleinen Raum, den er selbst die Schatzkammer nannte, und schrieb Zahlen auf ein Stück liniertes Pergament. Als ich auf ihn zutrat, blickte er auf. »Falls Ihr das Geld für Eure Kost und Logis bringen wollt – Haran hat die Zahlungen ausgesetzt.«
»Ja, das hat er mir selbst gesagt. Aber ich bin hier, um Euch um den Gefallen zu bitten, den Ihr mir schuldig seid.« Ich versuchte, eine bescheidene Miene aufzusetzen und mir den Anstrich eines freundlichen Menschen zu geben, dem man gerne einen Gefallen tut.
Er seufzte hörbar und legte seine Rohrfeder beiseite.
»Soweit ich weiß, hat mein Onkel Yaltha und mich Eurem wachsamen
Auge unterstellt, solange er weg ist. Ich möchte Euch in allem Respekt darum bitten, dass Ihr Euch dieser lästigen Aufgabe entledigt und uns uns selbst überlasst.«
»Wenn Ihr plant, entgegen Harans Wunsch das Haus zu verlassen, und von mir erwartet, dass ich ihm nichts sage, täuscht Ihr Euch. Ein solches Tun könnte mich meine Position kosten.«
»Mir scheint, heimlich Bestechungsgelder anzunehmen, könnte dies ebenso.«
Er stand vom Tisch auf. Seine dunklen Locken glänzten vor Öl. Mir stieg der Duft von Myrrhe in die Nase. »Dann wollt Ihr mir also drohen?«
»Ich bitte Euch nur darum, ein Auge zuzudrücken, solange Haran weg ist. Meine Tante und ich sind jetzt seit mehr als einem Jahr hier und haben noch nichts von der Pracht Alexandrias gesehen. Sind denn ein paar Ausflüge in die Stadt zu viel verlangt? Eigentlich hatte ich nicht vor, Haran von der Bestechung in Kenntnis zu setzen, aber ich kann es jederzeit tun.«
Er musterte mich, schien zu erwägen, wie ernst es mir mit meiner Drohung war. Ich hatte selbst meine Zweifel, ob ich das Angekündigte tatsächlich durchziehen würde, doch das wusste er nicht. Ich hielt seinem Blick stand. »Nun gut«, sagte er, »ich werde Euer Kommen und Gehen ignorieren, doch wenn Haran wieder da ist, wird meine Schuld Euch gegenüber abbezahlt sein. Ihr müsst mir einen Eid schwören, mich nicht mehr zu erpressen.«
»Erpressung ist ein hartes Wort«, erwiderte ich.
»Aber es ist auch das richtige Wort. Und nun schwört mir, dass es bei der Rückkehr Eures Onkels ein Ende damit haben wird.«
»Ich schwöre es.«
Er nahm wieder Platz und bedeutete mir mit einem knappen Winken, dass ich entlassen war. »Darf ich Euch noch etwas fragen?«, hakte ich nach. »Ist Euer Vater noch am Leben?«
Er hob den Blick. »Mein Vater? Wieso ist dies für Euch von Interesse?«
»Vielleicht erinnert Ihr Euch an damals, als wir uns in Sepphoris zum ersten Mal begegnet sind …«
Er unterbrach mich, und sein Mund wurde schmal. »Ihr meint, damals, als Ihr ein Kind
erwartet habt?«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er meinte. Die Lüge, die ich ihm damals aufgetischt hatte, hatte ich vollkommen vergessen; er offenbar nicht. Als ich damals vorgegeben hatte, schwanger zu sein, um das von ihm zu bekommen, was ich brauchte, hatte ich noch nicht gewusst, dass ich nach Alexandria reisen würde, wo nach wenigen Monaten die Wahrheit ans Licht kommen würde. Es war mir peinlich, und mir stieg Hitze in die Wangen.
»Werdet Ihr noch einmal lügen und mir sagen, Ihr hättet das Kind verloren?«
»Nein, ich gestehe, Euch angelogen zu haben. Und ich werde es nicht wieder tun. Es tut mir leid.« Es tat mir wirklich leid, doch immerhin hatte meine Lüge dazu beigetragen, dass wir unsere Reise nach Alexandria tatsächlich angetreten hatten. Und meine Erpressung, wie er es hartnäckig nannte, ermöglichte es uns nun, uns frei in der Stadt zu bewegen. Ja, es tat mir leid, und gleichermaßen nein, es tat mir nicht leid.
Er nickte, ließ die Schultern hängen. Meine Worte schienen ihn ein wenig zu besänftigen.
Ich begann noch einmal. »Was ich eben gerade sagen wollte: Als wir uns zum ersten Mal begegneten, erwähnte ich, dass meine Tante Euren Vater gekannt hat. Sie mochte ihn gern und bat mich, nach seiner Gesundheit zu fragen.«
»Sagt Ihr, es geht ihm recht gut, obwohl er auf seine alten Tage sehr korpulent geworden ist – er lebt von Bier, Wein, Brot und Honig.«
Apollonios lebt.
»Sollte Yaltha ihn zufällig sehen wollen, wie könnte sie ihn finden?«
»Eigentlich möchte ich Euch keinen weiteren Grund dafür geben, das Haus zu verlassen und in der Stadt herumzustreunen, doch es scheint, Ihr plant es sowieso. Meistens kann man meinen Vater in der Bibliothek
antreffen, wo er sich tagaus, tagein mit einer kleinen Gruppe Männer trifft, die in den Kolonnaden sitzen und Streitgespräche darüber führen, wie weit genau Gott von der Welt entfernt ist – nur eintausend Tagesreisen oder doch sieben mal tausend.«
»Glauben sie denn, Gott ist weit weg?«
»Es sind Platoniker und Stoiker sowie Anhänger des jüdischen Philosophen Philo – ich weiß nicht recht, was sie denken.«
Als er mich dieses Mal hinauswinkte, beeilte ich mich, seine Anweisung zu befolgen.
13.
Ich lief die Kanopische Straße entlang wie ein Pfeil, den man vom Bogen geschossen hatte, und war damit Yaltha und Lavi so weit voraus, dass ich immer wieder auf sie warten musste.
In der Mitte der Straße sah man, so weit das Auge reichte, miteinander verbundene Wasserbecken, und Hunderte von Kupfertöpfen, die mit Feuerholz gefüllt waren, warteten darauf, bei Einbruch der Nacht angezündet zu werden, um diese große Durchgangsstraße zu erleuchten. Die Frauen trugen blaue, schwarze oder weiße Tuniken, die unter der Brust mit leuchtend bunten Bändern zusammengehalten wurden, und ich war mir meines schlichten Gewandes aus Nazareth aus zerschlissenem, ungefärbtem Flachs unangenehm bewusst. Wenn ich an den vornehmen Damen vorbeikam, betrachtete ich verstohlen ihre verschlungenen Schlangenarmbänder aus Silber, die großen Ohrringe, an denen Perlen baumelten; ihre Augen waren grün und schwarz umrandet und das Haar zu hohen Knoten auf ihren Köpfen hochgesteckt, aus denen sich nur eine Reihe Löckchen auf der Stirn hervorstahlen. Ich zog mir meinen langen Zopf über die Schulter nach vorne und hielt mich wie an einem Strick daran fest.
Als wir uns dem Königsviertel näherten, erspähte ich meinen allerersten Obelisken, wie eine hohe, schmale Nadel, die sich gen
Himmel reckte. Ich legte den Kopf in den Nacken und bewunderte ihn.
»Er wurde erbaut als Abbild eines bestimmten Teils des männlichen Körpers«, sagte Yaltha mit todernster Miene.
Ich betrachtete den Obelisken noch einmal und hörte zuerst Lavi und dann Yaltha lachen. Ich gab es nicht zu, doch ich war prompt auf ihren Scherz hereingefallen.
»Nützlicher sind diese Dinger jedoch, um die Zeit abzulesen«, sagte sie und studierte den langen, leuchtend schwarzen Schatten, den der Obelisk warf. »Es ist zwei Stunden nach Mittag. Wir habe lange genug herumgetrödelt.«
Wir waren um die Mittagszeit aufgebrochen und hatten uns in aller Stille durchs Dienstbotenquartier hinausgeschlichen, als niemand in der Nähe war. Lavi hatte darauf bestanden, uns zu begleiten. Weil er wusste, was wir vorhatten, trug er eine Tasche über der Schulter, die den Rest unseres Geldes enthielt, für den Fall, dass es nötig wurde, Apollonios zu bestechen. Lavi hatte mich mehrfach gebeten, langsamer zu gehen, und uns einmal auf die andere Straßenseite gezogen, als eine Gruppe dienstbeflissen wirkender Römer auf uns zukam. Jetzt schaute ich ihn an und dachte an ihn und Pamphile – sie schienen ihrem Ziel, zu heiraten, keinen Schritt näher gekommen zu sein als damals, als sie mir zum ersten Mal davon erzählt hatten.
Am Eingang zum Bibliotheksgelände hielt ich inne und musste voller Ehrfurcht Luft holen, legte staunend die Handflächen vor der Brust zusammen. Vor uns erstreckten sich zwei schier endlose Säulengänge auf beiden Seiten eines großen Innenhofes, der zu einem prachtvollen Gebäude aus weißem Marmor führte.
Als ich meine Stimme wiedergefunden hatte, sagte ich: »Ich kann erst nach Apollonios suchen, wenn ich einen Blick in die Bibliothek geworfen habe.« Ich wusste, dass sich in jenem Gebäude, nur wenige Schritte von mir entfernt, zehn riesengroße Säle mit der halben Million Texte befanden, von denen mir Yaltha erzählt hatte. Mein Herz schlug Kapriolen.
Meine Tante hängte sich bei mir ein. »Ich auch.«
Wir schlenderten durch den Innenhof, der voller Menschen war – Philosophen, Astronomen, Geschichtsforscher, Mathematiker, Dichter, jedwede Art von Gelehrten, wie ich mir vorstellte, obwohl es sich wahrscheinlich nur um ganz gewöhnliche Bürger Alexandrias handelte. Als wir die Treppe erreichten, las ich die griechische Inschrift, die über den Türen eingraviert war – »Heilende Hallen« –, und nahm zwei Stufen auf einmal.
Das Innere des Gebäudes war nur von schummrigen Lampen erleuchtet, doch kaum hatte sich das Auge daran gewöhnt, wurden die hohen Wände mit ihren leuchtend bunt gemalten Gestalten sichtbar, Männer mit Ibisköpfen und Frauen mit dem Antlitz von Löwen. Wir durchschritten einen Korridor mit Göttern, Göttinnen, Sonnenscheiben und Augen der Vorsehung. Da waren Boote, Vögel, Streitwagen, Harfen, Pflüge und Regenbogenflügel – Tausende von Glyphen. Ich hatte das Gefühl, durch eine Welt von Geschichten zu schweben.
Als wir den ersten Saal erreicht hatten, konnte ich mich kaum sattsehen an dem riesigen Raum und den vielen, vielen Fächern, die sich bis zur Decke hochzogen, ein jedes beschriftet und mit Schriftrollen und in Leder gebundenen Kodizes gefüllt. Wahrscheinlich lag hier irgendwo auch Enheduannas »Erhöhung Inannas«, ebenso wie zumindest einige Werke griechischer Philosophinnen. Mir schien der Gedanke absurd, auch meine eigenen Schriften könnten eines Tages hier liegen, dennoch stand ich da und gab mich einen Moment lang diesem Traum hin.
Während wir von Saal zu Saal schlenderten, wurde ich einiger junger Männer in kurzen Tuniken gewahr, die umhereilten; manche trugen ganze Stapel von Papyri, andere standen auf Leitern, brachten Schriftrollen in den Regalfächern unter oder staubten sie mit Federwischen ab. Ich bemerkte, dass Lavi sie aufmerksam beobachtete.
»Du bist sehr still«, sagte Yaltha und drückte sich an mich. »Ist die Bibliothek so, wie du gehofft hattest?«
»Sie ist das Allerheiligste«, sagte ich. Und das war sie auch, obwohl
sich unter meine Ehrfurcht auch ein winziges bisschen Ärger schlich. Eine halbe Million Schriftrollen und Kodizes waren in diesen heiligen Hallen untergebracht, und bis auf einige wenige waren sie alle von Männern verfasst. Was wir von der Welt wussten, das hatten Männer geschrieben.
Auf Yalthas Drängen kehrten wir schließlich um, um nach Apollonios und den Männern zu suchen, die über die Entfernung zu Gott diskutierten. Wie es Apion vorhergesagt hatte, trafen wir sie unter einer der Kolonnaden an, wo sie beisammensaßen.
»Er ist der Dicke mit dem Purpur an der Tunika«, sagte Yaltha und blieb in einer Nische stehen, um ihn zu beobachten.
»Wie sollen wir es anstellen, ihn von den anderen wegzulocken?«, fragte ich. »Oder bist du so kühn, ihm einfach ins Wort zu fallen?« Der alte Mann war mitten in einem offenkundig hitzigen Streitgespräch.
»Wir drei gehen einfach die Kolonnade entlang, und wenn wir in der Nähe sind, rufe ich: ›Apollonios, seid Ihr das? Was für eine Überraschung, Euch zu sehen!‹ Es wird ihm gar keine andere Wahl bleiben, als zu uns zu kommen und mit uns zu sprechen.«
Ich schenkte ihr einen anerkennenden Blick. »Und wenn er Haran von unserer Begegnung erzählt?«
»Ich glaube nicht, dass er das tun wird, aber wir haben keine andere Wahl. Er ist unsere einzige Chance.«
Wir taten, wie besprochen, und obwohl Apollonios offensichtlich nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte, verließ er seine Bank und kam auf uns zu, um uns zu begrüßen. »Erkennt Ihr denn nicht eine alte Freundin?«, fragte Yaltha. »Ich bin Yaltha, Harans Schwester.«
Kurz huschte ein schmerzlicher Ausdruck über sein Gesicht, doch dann machte sich Freude in seinem Blick breit. »Ach, ja, jetzt sehe ich es. Ihr seid aus Galiläa zurückgekehrt.«
»Und ich habe meine Nichte Ana mitgebracht, die Tochter meines jüngsten Bruders.« Er ließ seinen Blick über mich schweifen, dann über Lavi, wodurch sie sich genötigt sah, auch ihn vorzustellen.
Der alte Schatzmeister schenkte uns allen ein strahlendes Lächeln.
Sein Bauch war so groß, dass er sich an der Leibesmitte zurückbeugen musste, weil er sonst nach vorne gekippt wäre. Er roch nach Zimtöl. »Seid Ihr bei Haran untergekommen?«, fragte er.
»Wir konnten nirgendwo anders hin«, sagte Yaltha. »Wir wohnen jetzt schon über ein Jahr bei ihm, und heute ist das erste Mal, dass wir sein Haus verlassen haben, eine Freiheit, die wir uns nur deshalb nehmen konnten, weil er nicht in der Stadt ist. Er verbietet uns, das Haus zu verlassen.« Sie setzte eine bekümmerte Miene auf, die sie vielleicht nicht einmal vortäuschen musste. »Darf ich mich darauf verlassen, dass Ihr uns nicht verratet?«
»Ja, ja, natürlich. Er war mein Arbeitgeber, aber niemals mein Freund. Allerdings finde ich es bemerkenswert, dass er Euch aus der Stadt fernhält.«
»Er tut dies, um zu verhindern, dass ich Erkundigungen bezüglich meiner Tochter Chaya einhole.«
Er wandte den Blick ab und schaute mit gerunzelter Stirn zum Himmel empor, wo ein paar Wolkenfetzen vorbeizogen, stützte die Hände in den Rücken und beugte sich weit nach hinten, um sich zu strecken. Der Mann wusste etwas.
»Ich kann mich nicht so lange auf den Beinen halten«, sagte er.
Zu viert machten wir uns auf den Weg zu ein paar Bänken in der Nähe seiner Debattierfreunde. Der alte Mann ächzte schwer, als er sich setzte. »Ihr seid zurückgekommen, um nach Eurer Tochter zu suchen?«
»Ich werde alt, Apollonios. Ich wünsche mir nichts so sehr, wie sie noch einmal zu sehen, bevor ich sterbe. Haran will mir nichts über ihren Verbleib verraten. Wenn sie noch am Leben sein sollte, wäre sie heute eine Frau von fünfundzwanzig Jahren.«
»Vielleicht kann ich Euch helfen, doch zuerst müsst Ihr alle mir Euer Wort geben, dass Ihr niemandem verraten werdet, wie Ihr das erfahren habt, was ich Euch jetzt sage. Besonders Haran darf es nicht wissen.«
Wir beeilten uns, es ihm zu versichern, und auf einmal wirkte er blass und atemlos. Schweiß und Öl perlten in den dicken Falten seines Halses. »Ich habe mir oft gewünscht, mich von der Bürde dieser Schuld
befreien zu können, bevor ich das Zeitliche segne«, sagte er. Er schüttelte den Kopf und schwieg lange – viel zu lange für meine Begriffe –, bis er schließlich fortfuhr: »Haran hat sie an einen Priester verkauft, der im Tempel Isis Medica hier in Alexandria diente. Ich selbst habe die geschäftliche Seite dieses Vorgangs geregelt.«
Kaum hatte er dieses Geständnis abgelegt, fiel Apollonios, offenkundig erschöpft, in sich zusammen und ließ den Kopf auf die gewaltige Kugel seines Bauches sinken. Wir warteten.
»Ich habe immer nach einer Möglichkeit gesucht, meine Beteiligung an der Sache irgendwie wiedergutzumachen«, sagte er und wich Yalthas Blick aus. »Ich hatte getan, was Haran von mir wollte, aber ich habe es bereut.«
»Kennt Ihr den Namen jenes Priesters, oder wisst Ihr, wo sich Chaya mittlerweile aufhalten könnte?«, fragte Yaltha.
»Ich hatte dafür gesorgt, dass ich es erfahre. All die Jahre habe ich ihren Weg aus der Ferne verfolgt. Der Priester ist vor einigen Jahren gestorben, und er hat ihr vor seinem Tod die Freiheit geschenkt. Sie wuchs als Bedienstete in der Heilstätte Isis Medica auf. Dort dient sie noch immer.«
»Sagt mir eins«, erwiderte Yaltha, und ich sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Welches Interesse kann Haran daran gehabt haben, meine Tochter zu verkaufen? Er hätte sie doch ebenso gut zur Adoption freigeben können, wie er das mir gegenüber behauptet hat.«
»Wer kann schon in Harans Herz sehen? Ich weiß nur, dass er das Kind loswerden wollte, und zwar auf eine Weise, die keine Spuren hinterließ. Eine Adoption bedarf einer schriftlichen Urkunde mit mehreren Abschriften, eine für Haran, eine für die adoptierenden Eltern, eine für den königlichen Schriftgelehrten. Und die Eltern wären darin genannt worden, im Gegensatz zu dem Priester, der anonym bleiben konnte.«
Er richtete sich von der Bank auf. »Wenn Ihr zur Isis Medica geht, fragt nach Diodora. Das ist der einzige Name, den Chaya kennt. Sie ist
als Ägypterin aufgewachsen, nicht als Jüdin.«
Als er sich zum Gehen wandte, fragte ich: »Die Männer in der Bibliothek, die diese weißen Tuniken tragen und die Leitern hochklettern … wer sind sie?«
»Wir nennen sie Bibliothekare. Sie halten die Bücher in Ordnung, katalogisieren sie und stellen sie für die Gelehrten an der Universität bereit. Man sieht sie häufig rennen, wenn sie die Schriftrollen ausliefern. Manche von ihnen verkaufen auch Abschriften an die Öffentlichkeit. Andere helfen den Schriftgelehrten bei der Beschaffung von Tinte und Papyri. Und wenige Glückliche werden sogar in fremde Länder geschickt, um Bücher anzukaufen.«
»Lavi würde einen ausgezeichneten Bibliothekar abgeben«, sagte ich und schaute meinen alten Freund an, weil ich wissen wollte, wie er reagierte. Er straffte die Schultern. Vor Stolz, vermutete ich.
»Ist die Stellung denn gut bezahlt?«, fragte Lavi.
»Gut genug«, antwortete Apollonios, plötzlich argwöhnisch und, wie es schien, überrascht von der Tatsache, dass Lavi ihn direkt angesprochen hatte. »Doch es ist schwer, an eine solche Stellung heranzukommen. Meistens geht der Posten vom Vater auf den Sohn über.«
»Ihr erwähntet, Eure Beteiligung an Harans Sünde wiedergutmachen zu wollen«, warf Yaltha ein. »Ihr könntet Euch dafür einsetzen, dass unser Freund hier eine solche Stellung bekommt.«
Apollonios wirkte überrumpelt. Er öffnete und schloss den Mund ein paarmal, bevor er sagte: »Ich weiß nicht – das wäre schwierig.«
»Ihr habt viel Einfluss«, sagte Yaltha. »Es muss doch viele Menschen geben, die Euch einen Gefallen schulden. Wenn Ihr Lavi die Stellung besorgt, kann das den Verkauf meiner Tochter nicht ungeschehen machen, aber Ihr könnt damit das, was Ihr mir angetan habt, vergelten. Und es wird die Bürde der Schuld, die Ihr tragt, leichter machen.«
Der alte Mann schaute Lavi an. »Er würde als schlecht bezahlter Lehrling beginnen, und die Ausbildung ist streng. Und er muss Griechisch lesen können. Kann er das?«
»Ja, ich lese es«, sagte Lavi, was mich erstaunte. Vielleicht hatte er ja in Tiberias Griechisch lesen gelernt.
»Nun, dann werde ich tun, was ich kann«, sagte Apollonios.
Als der alte Mann gegangen war, flüsterte Lavi mir zu: »Bringst du mir bei, wie man Griechisch liest?«
14.
Ich freute mich ebenso für Yaltha wie für Lavi – meine Tante hatte ihre Tochter ausfindig gemacht und mein Freund eine mögliche Anstellung gefunden –, und die Erinnerung an das Gefühl, das mich dort in der Bibliothek durchströmt hatte, wärmte mich noch immer von innen. Doch schon wanderten meine Gedanken zu Jesus, wie in fast allen Stunden jeden Tages. Was machst du gerade, mein Liebster?
Ein Ende unserer Trennung war immer noch nicht in Sicht.
Als wir quer durch die Stadt zurück zu Haran gingen, kamen wir an einem Künstler vorbei, der auf einem Stück Lindenholz das Konterfei einer Frau malte. Die Abgebildete ließ sich in ihrem schönsten Festtagsgewand in einem kleinen öffentlichen Garten von ihm porträtieren. Ein paar Passanten hatten sich versammelt, um dem Maler über die Schulter zu schauen. Als wir uns zu ihnen gesellten, dachte ich mit einem flauen Gefühl im Magen an die vielen Stunden zurück, die ich dem Mosaikkünstler in Antipas’ Palast damals Modell gesessen hatte.
»Sie lässt ein Mumienporträt von sich anfertigen«, erklärte Yaltha. »Wenn sie stirbt, wird das Bild im Sarg über ihr Gesicht gelegt. Bis dahin hängt man es in ihrem Haus auf. Es ist dazu gedacht, die Erinnerung an sie zu bewahren.«
Ich hatte schon gehört, dass die Ägypter alles Mögliche in die Särge legten – Essen, Schmuck, Kleidung, Waffen und andere Dinge, die sie glaubten, im Jenseits gebrauchen zu können –, doch das hier war neu für mich. Ich schaute dem Künstler fasziniert dabei zu, wie er das
Gesicht der Frau lebensecht und wunderschön aufs Holz bannte.
Ich schickte Lavi zu ihm, um ihn zu fragen, was ein solches Porträt kostete. »Der Künstler sagt, es kostet fünfzig Drachmen«, berichtete er.
»Geh und frag ihn, ob er mich als Nächste malt.«
Yaltha sah mich überrascht und ein wenig amüsiert an. »Du willst ein Mumienporträt für deinen Sarg?«
»Nicht für meinen Sarg. Für Jesus.«
Und vielleicht auch für mich selbst.
AN JENEM ABEND STELLTE ICH DAS PORTRÄT
auf den Tisch neben meinem Bett, lehnte es an meine Zauberschale. Der Künstler hatte mich sehr gut getroffen, so wie ich war, schmucklos, in meiner abgetragenen Tunika, meinen langen Zopf über die Schulter gelegt, ein paar störrische Haarsträhnen im Gesicht. Es war einfach ich, Ana. Und doch war etwas Besonderes an diesem Bild.
Ich nahm das Bild in die Hände und hielt es in die Nähe der Lampe, um es genauer zu betrachten. Die Farbe schimmerte im Licht, und das Gesicht, das ich dort abgebildet sah, kam mir auf einmal vor wie das einer ganz neuen Frau. Die Augen blickten ruhig und gleichmütig. Selbstgewiss und kühn reckte sie das Kinn in die Welt, und Kraft sprach aus ihren Konturen. Die Mundwinkel waren ganz leicht angehoben.
Ich sagte mir, wenn ich nach Nazareth zurückkehrte und Jesus wiedersah, würde ich ihn bitten, die Augen zu schließen, und ihm dann das Bild in die Hand drücken. Er würde es voller Ehrfurcht betrachten, und ich würde ihm in gespieltem Ernst sagen: »Wenn noch einmal meine Verhaftung droht und ich wieder nach Ägypten muss, dann wird das hier dafür sorgen, dass du mein Gesicht nicht vergisst.« Dann würde ich lachen, und auch er würde lachen.
15.
Ich stand an der Tür zum Lotusgarten und lauschte dem Donnergrollen
am Abendhimmel. Den ganzen Tag über hatte die Hitze wie ein klebriger Film in der Luft gehangen, doch nun kam plötzlich ein Wind auf, und es begann, heftig zu regnen, schwarze Nadeln, die auf die Wedel der Dattelpalmen und die Wasseroberfläche des Teichs prasselten, um dann fast ebenso schnell wieder abzuebben. Ich trat in die Dunkelheit hinaus, wo ein Vogel, eine Bachstelze, sang.
In den vergangenen drei Wochen hatte ich jeden Morgen im Skriptorium verbracht, um Lavi Griechisch beizubringen, statt meinen gewohnten Pflichten nachzugehen. Auch Thaddäus hatte mir beim Unterricht geholfen und darauf bestanden, dass unser Schüler auf der Rückseite alter, nicht mehr benötigter Pergamente wieder und wieder das Alphabet abschrieb. Ich achtete sorgfältig darauf, hinterher die Beweise für den Unterricht verschwinden zu lassen, damit Haran sie bei seiner Rückkehr nicht entdeckte. Pamphile verbrannte so viele Alphas, Betas, Gammas und Deltas in ihrem Küchenherd, dass ich zu ihr sagte, einen so gelehrten Ofen gebe es in ganz Ägypten nicht. Nach Ende der zweiten Woche konnte Lavi die Beugung der Verben und Nomen auswendig, und nach der dritten erkannte er bereits die Stellung des Verbs im Satz. Es würde nicht lange dauern, und er würde Homer lesen.
An den meisten Nachmittagen waren Yaltha und ich in Alexandria unterwegs gewesen, hatten Märkte besucht und das Cäsareum, das Gymnasion und die prachtvollen Gebäude rund um den Hafen bestaunt; außerdem waren wir zweimal in der Bibliothek gewesen. Bis auf einen Tempel – den von Chaya – hatten wir jeden Tempel der Isis besucht. Wieder und wieder hatte ich meine Tante gefragt, warum sie diesen einen mied, und jedes Mal hatte sie gesagt: Ich bin noch nicht bereit.
Beim letzten Mal hatte sie mir gar das Wort abgeschnitten und mir barsch geantwortet. Ich hatte nie wieder gefragt. Seither trug ich eine Mischung aus Gekränktheit, Verwirrung und Ärger mit mir herum.
Die Bachstelze flog davon. Im Garten wurde es still. Als ich Schritte hörte, drehte ich mich um und sah, wie Apion durch die Palmen hindurch auf mich zukam.
»Ich bin gekommen, um Euch zu warnen«, sagte er. »Heute traf eine
Nachricht von Haran ein. Er kehrt früher zurück. Ich erwarte ihn in zwei Tagen.«
Ich schaute zum Himmel hoch in eine mondlose, sternenlose Nacht. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir das mitgeteilt habt«, entgegnete ich ausdruckslos.
Als er gegangen war, spürte ich, wie der Zorn in mir sich endlich Bahn brach, und ich lief zu Yalthas Schlafzimmer, stürmte hinein, ohne anzuklopfen. »Chaya ist irgendwo hier in der Stadt, und doch haben wir all diese Zeit verstreichen lassen, ohne dass du zu ihr gingst. Jetzt hat mir Apion mitgeteilt, dass Haran in zwei Tagen zurück sein wird. Ich dachte, Chaya sei der Grund, warum du nach Ägypten wolltest. Warum weichst du einem Treffen mit ihr aus?«
Sie schlang sich ihr Nachttuch um den Hals. »Komm hierher, Ana. Setz dich. Ich weiß, dass du dir alle Mühe gegeben hast, mein Zögern zu verstehen. Es tut mir leid. Ich kann dir nur sagen, ab dem Tag, als wir mit Apollonios gesprochen haben … und noch bevor wir den Innenhof der Bibliothek verließen, packte mich plötzlich die Angst, Chaya wolle möglicherweise gar nicht gefunden werden. Warum sollte eine junge Ägypterin, die der Isis dient, wollen, dass eine jüdische Mutter, die sie einst im Stich gelassen hat, Anspruch auf sie erhebt? In mir wuchs die Angst, sie würde mich zurückweisen. Oder, noch schlimmer, das zurückweisen, was sie doch ist.«
Ich hatte meine Tante für unbesiegbar gehalten, für unüberwindlich – jemanden, dem das Leben übel mitgespielt hatte und der trotzdem unbeschadet daraus hervorgegangen war –, doch auf einmal sah ich, dass sie wie ich Makel hatte und alte Verletzungen mit sich herumschleppte. Es war ein seltsam erleichterndes Gefühl.
»Das war mir nicht bewusst«, sagte ich. »Ich hätte mir kein Urteil über dich erlauben sollen.«
»Ist schon gut, Ana. Ich habe über mich selbst ein Urteil gefällt. Es ist ja nicht so, dass mir diese Sorge nicht schon früher in den Sinn gekommen wäre, doch bis jetzt hatte ich ihr nie Raum gelassen. Ich schätze, mein eigenes Bedürfnis, Chaya zu finden und das
wiedergutzumachen, was ich ihr durch mein Weggehen angetan hatte, ließ für mich die Frage gar nicht zu, dass sie mich abweisen könnte. Ich fürchte einfach, sie noch einmal zu verlieren.« Yaltha hielt inne. Ein Windhauch war aufgekommen und brachte die Kerze zum Flackern, und als meine Tante wieder das Wort ergriff, war ein ebensolches unstetes Flackern in ihrer Stimme hörbar. »Ich habe nicht bedacht, dass sie ja vielleicht das Bedürfnis hat … das zu bleiben, was sie ist.«
Ich hob zu einer Antwort an, unterbrach mich jedoch wieder.
»Nur zu«, sagte sie. »Sprich es nur aus.«
»Ich wollte nur das wiederholen, was du mir einmal gesagt hast: Wenn man sich einer Angst nicht stellt, wird sie nur noch größer.«
Sie lächelte. »Ja, auch ich habe mich meiner Angst nicht gestellt.«
»Was wirst du tun? Es bleibt nur noch so wenig Zeit.«
Draußen hatte es wieder begonnen zu regnen. Eine Weile lauschten wir stumm dem Prasseln. Schließlich sagte sie: »Ich kann nicht einschätzen, ob Chaya gefunden werden will, oder wie sehr es uns beide verändert, wenn es geschieht, doch die Wahrheit ist am Ende das, was zählt, stimmt’s?« Sie beugte sich nach vorn und blies die Kerze aus. »Morgen gehen wir zur Isis Medica.«
16.
Ich stand nackt auf der Kalksteinplatte im Baderaum und bibberte, während Pamphile kaltes Wasser über meinen Oberkörper, meine Arme und Beine goss. »Bereitet es dir Freude, mich zu quälen?«, fragte ich scherzhaft. Ich hatte Gänsehaut am ganzen Körper. Ich wusste die Annehmlichkeiten der Ägypter durchaus zu schätzen – ihre Badezimmer oder die wundersamen Latrinen, bei denen man auf einem Steinsitz seine Notdurft verrichtete und diese prompt mit vorbeirauschendem Wasser weggespült wurde –, doch wie schwer konnte es sein, etwas Badewasser heiß zu machen?
Pamphile stellte den Wasserkrug ab und reichte mir ein Badetuch.
»Ihr Galiläer habt wirklich wenig Durchhaltevermögen«, sagte sie grinsend.
»Durchhaltevermögen ist alles,
was wir haben«, gab ich zurück.
Wieder in meinem Gemach, frisch geschrubbt und mit angenehm prickelnder Haut, zog ich meine neue schwarz-rote Tunika über, die ich mir auf dem Markt gekauft hatte, gürtete sie unter den Brüsten mit einem grünen Band und legte mir dann einen Umhang aus rotem Leinen über die Schultern. Dies alles würde ich tragen, obwohl draußen eine mörderische Hitze herrschte. Auf Pamphiles Beharren erlaubte ich ihr, meine Augen mit einem grünen Farbpulver zu umranden, und dann meinen Zopf zu einer Schnecke auf meinem Kopf aufzutürmen.
»Du könntest glatt als Alexandrinerin durchgehen«, sagte sie und trat einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. Der Gedanke schien ihr ausgesprochen gut zu gefallen.
Alexandrinerin.
Noch als Pamphile längst gegangen war, wollte mir das Wort nicht mehr aus dem Sinn.
Ich betrat den Salon und hörte, wie sich Yaltha in ihrem Gemach zurechtmachte. Sie sang.
Als sie endlich in den Salon kam, blieb mir der Mund offen stehen. Auch sie trug eine neue Tunika, leuchtend blau wie das Meer, und ich sah, dass Pamphile ihre Schmink- und Frisierkünste auch an meiner Tante erprobt hatte, denn sie trug schwarzen Kohl um die Augen, und ihr ergrauendes Haar war frisch geflochten und in großen Spiralen hochgesteckt. Sie sah aus wie eine der löwenköpfigen Göttinnen, die an die Wand der Bibliothek gemalt waren.
»Dann gehen wir jetzt und suchen meine Tochter«, sagte sie.
DER TEMPEL ISIS MEDICA RAGTE WEITHIN SICHTBAR
wie ein Eiland im Königsviertel in der Nähe des Hafens auf. Kaum hatte ich aus der Ferne einen ersten Blick darauf erhascht, verlangsamte ich meine Schritte, um mir das alles genauer anzusehen – die komplex verschachtelten Mauern, die hohen Pfeiler, die Dächer. So gewaltig hatte ich es mir
nicht vorgestellt.
Yaltha zeigte auf etwas. »Siehst du das große Gebäude mit dem Ziergiebel dort drüben? Das ist der Haupttempel der Isis. Die kleineren sind anderen Gottheiten geweiht.« Sie kniff die Augen zusammen, um aus dem steinernen Wirrwarr schlau zu werden. »Dort drüben – das ist der Teil des Tempels, der der Heilkunst gewidmet ist und in dem Chaya dient; dahinter, nicht sichtbar, liegt die Schule, an der die Ärzte ausgebildet werden. Es kommen Menschen sogar aus Rom und Mazedonien, um sich hier heilen zu lassen.«
»Hast du dich denn selbst einmal hier kurieren lassen?«
»Nein. Ich bin nur einmal innerhalb der Mauern gewesen, und das aus reiner Neugier. Jüdische Bürger kommen nicht hierher. Damit bricht man das erste Gebot.«
Am Abend zuvor hatte ich gelernt, ihre Schwäche zu lieben, doch heute war es ihr Wagemut, der mich begeisterte. »Und hast du auch den Isis-Tempel besucht?«
»Natürlich. Ich erinnere mich, dass es dort einen Altar gab, auf dem die Leute kleine Figürchen als Opfer für Isis hinterließen.«
»Und die Heilstätte? Bist du dort auch hin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Um dort hineinzudürfen, muss man eine Krankheit vorweisen können und bereit sein, die Nacht dort zu verbringen. Wer Heilung sucht, wird in einen Opiumschlaf versetzt, in dem er dann die richtige Heilmethode für sein Leiden träumt. Es heißt, manchmal erscheine Isis höchstpersönlich in einem Traum und gebe Ratschläge bezüglich der Heilmethode.«
All das war so sonderbar, dass es mir die Sprache verschlug, doch auf einmal erklang in mir ein leises Summen, das nicht mehr zu überhören war.
DER AUSSENBEREICH DES TEMPELS
war voller Menschen, die Musik machten. Da wurde gerasselt und geklappert und geflötet, ein Klanggemisch, das sich durch die Luft wand wie viele bunte Bänder.
Eine lange Reihe von Frauen schlängelte sich tanzend zwischen den scharlachroten Säulen der Kolonnade hindurch wie ein leuchtender, wogender Tausendfüßler.
Yaltha, die des Ägyptischen mächtig war, legte den Kopf schief und lauschte dem Lied, das die Frauen sangen. »Sie lobpreisen die Geburt von Isis’ Sohn Horus«, sagte sie. »Offenbar haben wir einen Feiertag erwischt.«
Sie zog mich durch den Hof und an den Tänzerinnen vorbei, an kleineren, namenlosen Tempeln und an Wandreliefs mit blauen Blumen, gelben Monden und weißen Ibisvögeln, bis wir schließlich am Haupttempel anlangten, einem großen Marmorgebäude, das mehr griechisch als ägyptisch wirkte. Sofort hüllte uns eine Weihrauchwolke ein. Etwas, das man Kyphi nannte, brannte in den Weihrauchfässern – es roch nach in Wein getränkten Rosinen, nach Minze, Honig und Kardamom. Um uns herum reckten Menschen die Hälse, um etwas am anderen Ende der Halle zu erkennen. »Was hoffen sie denn da zu sehen?«, flüsterte ich.
Yaltha schüttelte den Kopf und führte mich zu einer niedrigen Nische an der hinteren Wand; wir stiegen auf den Steinvorsprung. Als ich den Blick über die Menge schweifen ließ, erkannte ich, dass es nicht etwas
war, das zu sehen sie gelüstete, sondern jemand
. Eine Frau. Sie stand aufrecht da und trug ein gelb-rotes Gewand mit einer schwarzen Schärpe darüber, die von ihrer linken Schulter bis zur rechten Hüfte reichte und mit silbernen Sternen und rotgoldenen Monden bestickt war. Auf ihrem Kopf saß eine Krone mit goldenen Kuhhörnern.
Ich hatte noch nie eine Frau gesehen, von der eine solche Faszination ausging. »Wer ist das?«
»Das wird eine Priesterin der Isis sein, vielleicht die höchste von allen. Sie trägt die Krone der Isis.«
Überall auf dem Boden rund um den Altar häuften sich die puppenähnlichen Figuren, die Yaltha zuvor erwähnt hatte, wie Berge von Muscheln, die das Meer ans Land gespült hat.
Glasklar wie eine klingende Schelle ertönte jetzt die Stimme der
Priesterin. Ich beugte mich zu meiner Tante. »Was sagt sie?«
Yaltha übersetzte. »O heilige Isis, Göttin aller Dinge, du führst die Sonne vom Aufgang zum Untergang und bringst Licht dem Mond und den Sternen. Du lässt den Nil über seine Ufer treten. Du bist die Herrin des Lichts und der Flammen, die Gebieterin des Wassers …«
Bewegt von ihrem wohlklingenden Singsang begann ich, mich in den Hüften zu wiegen. Als er zu Ende war, sagte ich: »Tante, ich bin froh darüber, dass deine Ängste dich so lange von deinem Plan abgehalten haben, Chaya zu suchen. Wären wir früher gekommen, so hätten wir dieses großartige Spektakel verpasst.«
Sie schaute mich an. »Pass du nur auf, dass du nicht aus der Nische fällst und dir den Schädel brichst.«
Eine Tempelbedienstete in einer weißen Tunika machte sich auf den Weg zum Altar; in der Hand eine Schüssel mit Wasser, bewegte sie sich auf leichten Füßen, wie eine Feder, damit die Flüssigkeit nicht überschwappte. Die Priesterin nahm die Schüssel entgegen und goss das Trankopfer über eine farbenfroh bemalte Isis-Statue, die auf einem Altar stand. Das Wasser rann plätschernd über die Göttin und spritzte auf den Boden. »O Isis, Himmelskönigin, bring deinen göttlichen Sohn hervor. Lass den Nil über seine Ufer treten …«
Als die Zeremonie vorüber war, verließ die Priesterin das Gemach durch eine niedrige Tür an der Rückseite des Tempels, und die Menge strömte in Richtung Eingang. Yaltha machte keine Anstalten, von der Wandnische hinabzuklettern. Sie stand da und blickte wie gebannt und voller Verzückung nach vorne. Ich sagte ihren Namen. Sie gab keine Antwort.
Als ich meinen Blick in die Richtung lenkte, in die sie schaute, sah ich nichts Ungewöhnliches. Nur den Altar, die Statue, die Schüssel, die Dienerin, die den feuchten Boden mit einem Lappen aufwischte.
Yaltha machte einen Schritt aus der Nische und kämpfte sich zielstrebig und gegen den Strom durch die Menschenmenge. Ich eilte hinter ihr her. »Tante? Wohin gehst du?«
Ein paar Schritte vor dem Altar blieb sie stehen. Ich begriff immer
noch nicht, was geschah. Dann schaute ich zu der Bediensteten, die sich gerade vom trocken gewischten Boden erhob. Ihr dunkles Haar sah aus wie Brombeergestrüpp.
Mit einer Stimme so erstickt, dass ich sie kaum hören konnte, sagte Yaltha: »Diodora?«
Und ihre Tochter drehte sich um und sah sie an.
DIODORA LEGTE DEN LAPPEN AUF DEN ALTAR.
»Was kann ich für Euch tun, liebe Dame?«, fragte sie auf Griechisch. Und tatsächlich sah sie mir sehr ähnlich – nicht nur ihr krauses, kringeliges Haar, sondern der kleine Mund mit den geschürzten Lippen, der große, gertenschlanke Körper, wie die gebündelten Zweige einer Weide. Wir sahen mehr wie Schwestern aus als wie Kusinen.
Yaltha war so gebannt, dass sie sich nicht von der Stelle rührte. Langsam ließ sie den Blick über ihre Tochter wandern, als handelte es sich nicht um einen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern um ein Wesen aus Luft und Fantasie, eine Erscheinung, die sie sich nur erträumt hatte. Ich sah, wie ihre Lippe zu zittern begann, nur ganz leicht, wie das Surren eines Bienenflügels. Dann straffte sie die Schultern, wie ich es schon Hunderte Male gesehen hatte. Sekunden vergingen, endlose Augenblicke, die sich dahinzogen wie eine Ewigkeit.
Gib ihr eine Antwort, Tante.
»Ich möchte mit Euch sprechen«, sagte Yaltha. »Gibt es hier irgendeinen Ort, an dem wir uns setzen können?«
Ein Ausdruck der Unsicherheit huschte über Diodoras Miene. »Ich bin nur eine einfache Bedienstete«, sagte sie und machte einen Schritt rückwärts.
»Dient Ihr denn auch in der Heilstätte des Tempels?«, fragte Yaltha.
»Dort diene ich sogar meistens. Doch heute wurde ich hier gebraucht.« Die junge Frau nahm den Lappen und wrang ihn über der Schüssel aus. »Habe ich Euch denn früher einmal dort aufgewartet? Wollt Ihr Euch erneut heilen lassen?«
»Nein, ich bin nicht hier, um mich heilen zu lassen.« Später würde mir der Gedanke kommen, dass sich Yaltha bei diesen Worten getäuscht hatte.
»Wenn Ihr mich dann nicht mehr braucht … Man hat mich beauftragt, die Opfergaben einzusammeln. Ich muss mich darum kümmern.« Mit diesen Worten eilte sie davon und verschwand durch die Tür in der Rückwand.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie so schön ist«, sagte Yaltha. »Schön und erwachsen und ganz und gar wie du.«
»Und jetzt ist sie verwirrt«, sagte ich. »Ich fürchte, wir haben sie in Verlegenheit gebracht.« Ich trat näher auf meine Tante zu. »Wirst du es ihr sagen?«
»Ich versuche, eine Möglichkeit zu finden.«
Die Tür ging auf, und Diodora kam heraus, zwei große leere Körbe in den Händen. Als sie sah, dass wir, diese seltsamen fremden Frauen, immer noch da waren, wurde sie langsamer. Ohne uns zu beachten, kniete sie vor dem Altar und begann die Isis-Püppchen in einen Korb einzusammeln.
Ich ging neben ihr in die Hocke und nahm eine der unbeholfenen Schnitzarbeiten in die Hand. Aus der Nähe sah ich, dass es sich um die Göttin handelte, ihren neugeborenen Sohn im Arm wiegend. Diodora warf mir einen Blick von der Seite zu, sagte jedoch nichts. Ich half ihr dabei, beide Körbe zu füllen. In meiner Seele war ich Jüdin, dennoch schloss ich die Finger um eine der Figuren. Sophia,
flüsterte ich vor mich hin, und sprach damit das Püppchen mit dem Namen an, den ich liebte.
Als alle Opfergaben eingesammelt waren, stand Diodora auf und schaute Yaltha an. »Wenn Ihr mit mir sprechen wollt, dann mögt Ihr dies im Portikus des Geburtshauses tun.«
***
DAS GEBURTSHAUS WAR EIN SCHREIN
zu Ehren der Mutterschaft der
Göttin Isis. Das kleine Gebäude mit dem Säulenvorbau lag in der Nähe des Innenhofes, in dem es still geworden war, nachdem die tanzenden Frauen vorbeigezogen waren.
Diodora führte uns zu einer Reihe von Bänken im Portikus, nahm Platz und schaute uns an. Die Hände fest im Schoß gefaltet, ließ sie ihre Augen von Yaltha zu mir und wieder zurück wandern. Sie schien zu ahnen, dass sich gleich etwas Bedeutungsvolles ereignen würde – es schwebte förmlich in der Luft über unseren Köpfen, wie ein Vogel, der sich im nächsten Moment vom Himmel stürzen will. Oder wie Hunderte von Vögeln.
»Mein Herz ist voll«, sagte Yaltha zu ihr. »So voll, dass es mir schwerfällt zu sprechen.«
Diodora legte den Kopf schief. »Woher kennt Ihr meinen Namen?«
Yaltha lächelte. »Ich habe dich unter einem anderen Namen gekannt. Chaya. Er bedeutet Leben.«
»Es tut mir leid, meine Dame. Ich kenne weder Euch noch den Namen Chaya.«
»Es ist eine lange, schwierige Geschichte. Alles, was ich mir wünsche, ist, dass du sie mich erzählen lässt.« Einen Moment lang saßen wir da, mit diesem Rascheln in der Luft, wie von hundert Flügeln, und dann sagte Yaltha: »Ich komme von weit, weit her, um dir zu sagen, dass ich deine Mutter bin.«
Diodora berührte mit der Hand die Kuhle zwischen ihren Brüsten, nur diese eine kleine Geste, und ich spürte, wie mich eine schmerzliche Wehmut überkam. Wehmut um Diodora und Yaltha und all die Jahre, die man ihnen gestohlen hatte, doch auch um mich selbst und Susanna. Um meine
verlorene Tochter.
»Und das ist Ana, deine Kusine«, sagte Yaltha.
Mir wurde die Kehle eng. Ich lächelte sie an, und dann führte ich, als wäre ich ihr Spiegelbild, die gleiche Geste aus und berührte mich über dem Herzen.
Sie saß schrecklich still da, ihr Blick so wenig zu deuten wie die Asche aus Buchstaben, die wir im Ofen hinterlassen hatten. Ich konnte mir
nicht vorstellen, wie ich selbst auf eine solche Nachricht reagiert hätte. Wäre Diodora uns mit heftigem Misstrauen, Kummer oder Zorn begegnet, ich hätte es ihr nicht zum Vorwurf gemacht. Fast wäre mir eine solche Reaktion lieber gewesen als diese schreckliche, undurchdringliche Stille.
Yaltha fuhr in gemessenen Sätzen mit ihrer Geschichte fort und schonte Diodora nicht, als sie ihr die Umstände von Ruebels Tod schilderte, von den Mordvorwürfen gegen sie erzählte und ihre achtjährige Verbannung zu den Therapeutae schilderte. »Der jüdische Rat verfügte, wenn ich aus irgendeinem Grunde die Therapeutae verlassen sollte, würde man mir hundert Stockschläge verpassen, mich verstümmeln und nach Nubien verbannen.«
Das hatte ich noch nie gehört. Wo lag dieses Nubien? Und – verstümmeln? Ich rückte auf der Bank näher an sie heran.
Als sie mit der gesamten Geschichte fertig war, sagte Diodora: »Was, wenn das, was Ihr sagt, stimmt, und ich Eure Tochter bin, wo war ich dann damals?« Ihre Stimme klang kleinlaut, doch ihr Gesicht glühte wie Kohle.
Yaltha griff nach Diodoras Hand, die diese ihr blitzschnell entzog.
»Oh, Kind, du warst kaum mehr als zwei Jahre alt, als man mich weggeschickt hat. Haran hat mir geschworen, in seinem Haushalt seist du sicher, und man würde sich um dich kümmern. Ich schrieb ihm Briefe, erkundigte mich nach dir, doch sie blieben unbeantwortet.«
Diodora runzelte die Stirn und rollte mit den Augen, schaute zu einer Säule hoch, deren Spitze ein Frauenkopf krönte. Nach einem Augenblick sagte sie: »Wenn Ihr zu den Therapeutae geschickt wurdet, als ich zwei war, und Ihr acht Jahre dort bliebt … dann war ich zehn, als Ihr von dort fortgingt. Warum habt Ihr mich dann nicht zu Euch geholt?« Sie berührte einen Finger nach dem anderen in ihrem Schoß, als würde sie nachzählen. »Wo wart Ihr in den vergangenen sechzehn Jahren?«
Während Yaltha um Worte rang, beschloss ich, einzugreifen. »Sie war in Galiläa. Sie war bei mir. Aber es ist nicht so, wie du denkst. Sie erhielt
nicht ihre Freiheit, als du zehn warst, sondern wurde noch einmal in die Verbannung geschickt, diesmal zu ihrem Bruder in Sepphoris. Sie hatte gehofft, dich zu sich holen und mitnehmen zu können, aber …«
»Haran sagte mir, er habe dich zur Adoption freigegeben und wollte mir deinen Aufenthaltsort nicht nennen«, warf Yaltha ein. »Dann reiste ich ab – ich hatte keine andere Wahl. Ich dachte, es würde für dich gesorgt, du hättest eine Familie. Ich hatte keine Ahnung davon, dass Haran dich an den Priester verkauft hatte, bis ich vor einem Jahr nach Ägypten zurückkehrte und mich auf die Suche nach dir machte.«
Diodora schüttelte heftig den Kopf. »Mir hat man gesagt, mein Vater sei ein Mann namens Choiak irgendwo im Süden gewesen, der mich verkauft habe, als er in wirtschaftliche Not geriet.«
Yaltha legte der jungen Frau erneut die Hand auf, doch auch diesmal zuckte Diodora zurück. »Es war Haran, der dich verkauft hat. Ana hat den Verkaufskontrakt gesehen, in dem er sich selbst als ein armer Kameltreiber namens Choiak ausgab. Ich habe dich niemals vergessen, Diodora. Jeden Tag hatte ich Sehnsucht nach dir. Ich bin hierher zurückgekommen, um dich zu finden, obwohl mein Bruder selbst jetzt noch droht, die Mordanklage gegen mich wiederaufleben zu lassen, wenn ich nach dir suche. Ich bitte dich um Vergebung dafür, dass ich dich damals zurückgelassen habe. Und ich bitte dich um Vergebung dafür, dass ich nicht früher gekommen bin.«
Diodora ließ den Kopf auf die Knie sinken und weinte, und wir konnten nichts tun, als sie weinen zu lassen. Yaltha stand auf und beugte sich über sie. Ich vermochte nicht zu sagen, ob Diodora noch traurig war oder schon ein wenig getröstet. Ob sie verloren war oder wiedergefunden.
Als das Weinen etwas abgeebbt war, fragte Yaltha sie: »War er denn gut zu dir, dein Herr?«
»Ja, er war gut zu mir. Ich weiß nicht, ob er mich geliebt hat, aber er hob weder die Hand gegen mich noch die Stimme, nicht ein einziges Mal. Als er starb, habe ich um ihn getrauert.«
Yaltha schloss die Augen und stieß den Atem aus.
Ich hatte nicht die Absicht, noch etwas zu sagen, doch ich dachte an meine Eltern und an Susanna, die ich verloren hatte, und an Jesus, meine Familie in Nazareth, an Judas und Tabitha, die alle so weit weg waren, und dass es für mich keinerlei Sicherheit gab, ob ich sie alle jemals wiedersehen würde. Ich sagte: »Lass uns mehr als Kusinen sein. Lass uns Schwestern sein. Wir drei werden eine Familie sein.«
Das Licht fiel in breiten Streifen zwischen den Säulen hindurch, und Diodora spähte wortlos zu mir empor. Ich hatte das Gefühl, ich hätte etwas Törichtes gesagt, wäre ihr irgendwie zu nahe getreten. In genau diesem Moment hörte ich, wie jemand klangvoll nach ihr rief. »Diodooooora … Diodooora.«
Sie sprang auf. »Ich habe meine Pflichten vernachlässigt.« Sie wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ihrer Tunika ab und setzte dann wieder ihre angespannte, ernste Miene auf.
»Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen kann«, sagte Yaltha. »Morgen kehrt Haran von seiner Reise zurück, und wie ich sagte, hat er uns verboten, das Haus zu verlassen. Aber irgendwie werden wir einen Weg finden.«
»Ich glaube nicht, dass ihr zurückkehren solltet«, sagte Diodora. Mit diesen Worten ging sie davon, ließ uns dort im Portikus des Geburtshauses zurück.
»Tochter, ich liebe dich«, rief Yaltha hinter ihr her.
17.
Einen Tag später saß ich im Skriptorium im Hause Harans und hörte Lavi zu, der mir radebrechend aus der Ilias
vorlas, konnte mich jedoch kaum konzentrieren. Im Geiste wanderte ich immer wieder zu Diodora und zu den Dingen zurück, die im Geburtshaus zur Sprache gekommen waren. Und ich sah sie wieder von uns weggehen.
»Was sollen wir tun?«, hatte ich Yaltha während unseres langen Fußweges von der Isis Medica zu Harans Haus gefragt.
»Wir warten«, hatte sie erwidert.
Mit Mühe lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Lavi, der über ein Wort gestolpert war. Als ich versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen, hob er die Hand. »Gleich, gleich hab ich’s!« Es dauerte eine ganze Minute. »Schiff!«, rief er und strahlte.
Lavi war in jenen Tagen in glücklicher, aber auch ein wenig nervöser Stimmung. An diesem Morgen erst hatte ihm ein Kurier die Nachricht überbracht, dass er die Stelle in der Bibliothek bekommen hatte. Seine Lehre würde am ersten Tag der darauffolgenden Woche beginnen.
»Ich habe mir geschworen, die gesamten Abenteuer des Achilles zu lesen, bevor ich meine Tätigkeit aufnehme«, sagte er und ließ den Kodex sinken. »Mein Griechisch lässt noch deutlich zu wünschen übrig.«
»Mach dir keine Gedanken, Lavi. Deine Lesekünste in Griechisch sind schon recht gut. Aber, ja, lies dieses Kapitel noch zu Ende. Du musst herausfinden, wer die Oberhand behält – Achilles oder Hektor.«
Er schien sich in meinem Lob zu sonnen und saß kerzengerade da. »Morgen gehe ich zu Pamphiles Vater und bitte ihn um ihre Hand.«
»Oh, Lavi, ich freue mich für dich.« Dann galt also seine Nervosität nicht nur seinen Leistungen beim Lesen. »Wann hofft ihr denn, heiraten zu können?«
»Es gibt hier keine offizielle Verlobungszeit wie in Galiläa. Wenn ihr Vater und ich erst einmal den Hochzeitskontrakt aufgesetzt und vor Zeugen unterzeichnet haben, gelten Pamphile und ich als Mann und Frau. Sie hat mir einen Teil ihres Lohnes gegeben, und davon habe ich ihm als Geschenk eine kleine Uschebti-Truhe gekauft. Einen Brautpreis werde ich nicht verlangen. Ich hoffe, all das wird genügen, um morgen den Vertrag unter Dach und Fach zu bringen.«
Ich ging zu Thaddäus’ Schreibtisch und nahm mir einen Stapel Papyri, die zu den kostbarsten und schönsten in ganz Ägypten gehörten. »Die hier kannst du ihm auch geben. Mir scheint, das ist ein angemessenes Geschenk von einem Bibliothekar der großen Bibliothek.«
Lavi zögerte. »Bist du sicher? Wird das nicht auffallen?«
»Haran besitzt mehr Papyrus, als es in Sepphoris und Jerusalem zusammengenommen gibt. Die paar Blätter werden ihm nicht abgehen.«
Als ich sie Lavi überreichte, kam ein Geräusch von der Tür. Es war Harans Leibdiener, der dort stand.
»Unser Herr ist gerade zurückgekehrt«, sagte er, und sein Blick wanderte zu den Papyri.
»Braucht er mich?«, fragte ich, und es klang schärfer als nötig.
»Er bat mich, den Haushalt von seiner Rückkehr zu unterrichten, das ist alles.«
Dann waren wir also wieder Gefangene.
***
UND YALTHA UND ICH
waren wieder zum Warten verurteilt. Wir saßen untätig herum, überlegten hin und her, stellten uns Fragen über Fragen. Sollten wir Diodoras Zurückweisung hinnehmen oder eine Möglichkeit finden, noch einmal zur Isis Medica zurückzukehren? Ich drängte Yaltha, endlich tätig zu werden, doch sie beharrte auf ihrem Warten und sagte, wenn man den Topf der Fragen nur lange genug am Brodeln hielt, würde die richtige Antwort irgendwann an die Oberfläche kommen. Dennoch verging eine Woche, und wir schienen uns kein Jota in Richtung Lösung bewegt zu haben.
Dann, eines Abends, als die Sonne gerade über den Dächern der Stadt versank, kam Pamphile atemlos in den Salon gestürzt, wo Yaltha und ich saßen. »Es ist Besuch für Euch da«, sagte sie. Ich stellte mir vor, es sei der lang ersehnte Kurier mit einem Brief von Judas – Komm nach Hause, Ana. Jesus bittet dich, nach Hause zu kommen
–, und mein Herz begann laut zu schlagen.
»Sie wartet auf Euch beide im Atrium«, fügte Pamphile hinzu.
Da wusste ich, wer es war. Yaltha nickte mir zu. Sie wusste es auch.
»Wo ist Haran?«
»Mein Herr ist schon den ganzen Nachmittag weg«, antwortete Pamphile. »Er ist noch nicht zurück.«
»Bring den Besuch zu uns herein und sag zu niemandem etwas, außer Lavi.«
»Mein Mann ist auch noch nicht zurück.« Sie ließ sich das Wort Mann
genüsslich auf der Zunge zergehen. Die Heiratsvereinbarung war unterzeichnet worden, ganz so, wie Lavi es sich erhofft hatte.
»Sorg dafür, dass er davon erfährt, sobald er heimkommt. Bitte ihn, außer Sicht im Garten zu warten. Wenn unser Besuch geht, soll er sie durch das Dienstbotenquartier hinausbringen.«
»Wer ist sie?«, fragte Pamphile mit sichtbarer Beunruhigung.
»Es bleibt keine Zeit für Erklärungen«, sagte Yaltha und winkte ungeduldig ab. »Sag Lavi, es sei Chaya. Er weiß dann Bescheid. Beeil dich jetzt.«
Yaltha öffnete die Tür zum Garten, wodurch heiße Luft in den Raum strömte. Ich beobachtete sie, wie sie sich bereit machte, ihre Tunika glatt strich und mehrmals tief durchatmete. Ich goss drei Becher Wein ein.
Diodora zögerte auf der Schwelle und schaute sich vorsichtig um, bevor sie das Zimmer betrat. Sie trug einen grob gewebten braunen Umhang über ihrer weißen Tunika und hatte sich das Haar mit zwei silbernen Spangen zurückgesteckt. Ihre Augen waren malachitgrün umrandet.
»Ich wusste nicht, ob ich dich jemals wiedersehen würde«, sagte Yaltha.
Wie sie dort mitten im Raum stand, sah Diodora schmächtig aus, wie ein Kind. Wusste sie eigentlich, wie gefährlich das war? Und doch lag auch eine wunderschöne Ironie in ihrer Anwesenheit; das Mädchen, das Haran unter größten Mühen hatte loswerden wollen, stand hier in seinem Haus, unter seinem Dach, direkt vor seiner Nase. Es war eine Rache, die so unauffällig und doch haarscharf war, dass ich am liebsten laut gelacht hätte. Ich bot Diodora einen Becher Wein an, doch sie lehnte ab. Ich nahm meinen und trank ihn in vier Schlucken aus.
Als Yaltha sich setzte, überließ ich Diodora die Bank und nahm auf dem Boden Platz, wo ich in den Garten blicken und nach Lavi Ausschau halten konnte.
»Die Nachricht, die du mir überbracht hast, hat mich erschreckt«, sagte sie. »Ich habe an nichts anderes mehr gedacht.«
»Ich auch nicht«, sagte Yaltha. »Es tut mir leid, dass ich dir so viel zugemutet habe. Ich bin nicht für Rücksichtnahme bekannt. Meine empfindsame Seite ist mir schon vor vielen Jahren abhandengekommen.«
Diodoras Mundwinkel hoben sich ganz leicht. Es war das allererste Mal, dass wir ein Lächeln auf ihrem Gesicht sahen, und es war, als würde eine kleine Sonne im Zimmer aufgehen. »Zunächst war ich froh, dass ihr euch von der Isis Medica ferngehalten habt, wie ich euch gebeten hatte, doch dann …«
Als sie nicht weitersprach, sagte Yaltha: »Ich wollte so gerne zurück, auch nur, um dich aus der Ferne zu sehen, doch ich hatte das Gefühl, deinen Wunsch respektieren zu müssen. Ich bin so froh, dass du gekommen bist.«
»Du sagtest mir ja, dein Bruder habe dich hier eingesperrt. Daher wusste ich nicht, ob es dir überhaupt möglich wäre, das Haus zu verlassen, selbst wenn du dich über meinen Wunsch hinweggesetzt hättest. Deshalb bin ich gekommen.«
»Hattest du denn keine Sorge, Haran zu begegnen?«, fragte ich.
»Ja, aber ich habe mir für diesen Fall eine Geschichte zurechtgelegt – ich war erleichtert, sie nicht benutzen zu müssen.«
»Bitte, erzähl doch.«
Diodora nahm einen Tragebeutel von ihrer Schulter und zog ein bronzenes Armband hervor, in das ein Geierkopf graviert war. »Ich hatte vor, ihm mein Armband zu zeigen und zu sagen: ›Einer Eurer Dienstboten hat das hier möglicherweise in der Heilstätte der Isis Medica vergessen. Man hat mich geschickt, um es zurückzubringen. Würdet Ihr mich freundlicherweise mit einem von ihnen sprechen lassen?‹«
Ihre Geschichte war raffiniert ausgedacht – doch sie hatte Mängel, die Haran nicht entgehen würden; dazu war er zu schlau. Er wusste bestimmt, dass Diodora Bedienstete an der Isis Medica war. Außerdem … war sie mir wie aus dem Gesicht geschnitten.
»Und wenn du mit der Bediensteten hättest sprechen dürfen, was hättest du gesagt?«, fragte ich.
Sie griff noch einmal in den Beutel und holte ein Ostrakon, eine kleine beschriebene Tonscherbe, hervor. »Ich plante, sie von Dienerin zu Dienerin zu bitten, das hier Yaltha zu geben. Es steht eine Nachricht darauf … eine Nachricht an meine Mutter.«
Sie blickte zu Boden. Das Wort Mutter
stand im Raum, golden und nicht zu überhören.
»Du kannst lesen und schreiben?«, fragte ich.
»Mein Herr hat es mir beigebracht.«
Sie übergab das Ostrakon an Yaltha, die die Botschaft darauf – ganze drei Wörter und eine Initiale – laut vorlas. »Bitte komm wieder. D.«
Draußen ergossen sich die letzten Sonnenstrahlen über den Garten, ein wildes Orangerot. Bald würde Haran nach Hause kommen, doch wir zündeten Lampen an und redeten, ja, wir lachten sogar. Yaltha fragte ihre Tochter nach ihrer Arbeit in der Heilstätte, und Diodora erzählte von Blutungen, von heiligen Bädern und von den berauschenden Pflanzen, die Träume hervorriefen. »Ich bin eine von nur zwei Bediensteten, die die Träume derer, die geheilt werden wollen, aufschreiben, wenn sie erwachen. Mein Herr hat mir Lesen und Schreiben beigebracht, damit ich diese hohe Stellung einnehmen kann.« Dann unterhielt sie uns mit kurzweiligen Schilderungen von allerlei grotesken Träumen, die sie aufgezeichnet hatte. »Diese Traumaufzeichnungen bringe ich dann dem Priester, der ihre Bedeutung entziffert und eine Kur verschreibt. Wie er das macht, weiß ich nicht.«
»Und helfen diese Kuren?«, fragte ich verblüfft.
»O ja, fast immer.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich im Garten etwas bewegte. Es
war Lavi, der durch die gezackten Schatten der Palmen stapfte. Als sich unsere Blicke begegneten, hob er den Finger an die Lippen und versteckte sich im Blattwerk nahe der offenen Tür.
»Wohnst du denn auf dem Gelände des Tempels?«, wollte Yaltha wissen.
»Als mein Herr starb – ich war sechzehn –, bekam ich ein Bett im Dienstbotenquartier des Tempels. Mittlerweile bin ich frei und erhalte einen kleinen Lohn.«
Wir stellten ihr noch viele Fragen, und sie schien die Aufrichtigkeit unseres Interesses zu genießen, doch nach einer Weile war sie an der Reihe mit dem Fragen und bat Yaltha, ihr von den zwei Jahren zu erzählen, die sie zusammen verbracht hatten, bevor man sie trennte. Meine Tante erzählte ihr von ihrer Angst vor Krokodilen, ihrem Lieblingsschlaflied, und wie ihr einmal eine Schüssel mit Weizenmehl heruntergefallen war, die sie auf dem Kopf balancierte.
»Du hattest eine kleine Paddelpuppe aus Holz«, erzählte ihr Yaltha. »Eine kunterbunt bemalte, die ich auf dem Markt gefunden hatte. Du hattest sie Mara getauft.«
Diodora richtete sich kerzengerade auf, ihre Augen waren riesig. »War ihr Haar aus Flachsflechten, mit jeweils einer Perle aus Onyx am Ende?«
»Ja, das war Mara.«
»Die habe ich immer noch! Sie ist alles, was mir von dem Leben, bevor mein Herr mich kaufte, geblieben ist. Er sagte, als ich zu ihm kam, drückte ich sie fest an mich. Aber an ihren Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern.« Sie schüttelte den Kopf. »Mara«, wiederholte sie.
So ging es weiter, und Diodora setzte sich aus den kleinen Häppchen, die Yaltha ihr gab, ganz allmählich eine Geschichte darüber zusammen, wer sie war. Ich saß stumm dabei und lauschte – in diesem Moment schienen sie sich ein kleines Reich aufzubauen, dem nur sie allein angehörten. Nach einer Weile jedoch bemerkte Diodora, wie still ich geworden war, und sie sagte: »Ana. Erzähl mir doch von dir.«
Ich zögerte einen Moment, weil ich eigentlich nichts von meinem Leben in Sepphoris – von Vater und Mutter, von Judas – preisgeben wollte, doch schließlich umriss ich grob die Geschichte, ließ aber vieles aus. Als ich von Jesus sprach, tat mir das Herz so weh, dass ich schon bald, nur um mir die Erleichterung eines Lächelns zu verschaffen, zu heiteren Geschichten aus Nazareth Zuflucht nahm und zum Beispiel von Delilah erzählte, die im Wassertrog stand.
Es wurde dunkel, eine weiche Stille senkte sich über uns herab, und Diodora wandte sich an Yaltha. »Als du mir sagtest, wer du bist, wusste ich nicht, ob ich es glauben sollte. Dass du meine Mutter sein könntest … es schien mir unmöglich. Doch ich sah mich selbst in dir. Tief in mir wusste ich, wer du warst. Nachdem ich dein Geständnis gehört hatte, stieg Enttäuschung in mir auf, wie bittere Galle. Ich sagte mir, sie hat mich einmal verlassen, dann werde nun ich sie verlassen, und deshalb ging ich weg. Doch dann riefst du mir hinterher, nanntest mich Tochter. Und wie du es sagtest … daraus sprach deine Liebe.« Sie ging zu Yalthas Stuhl und kniete daneben nieder. »Ich kann es nicht vergessen, dass du mich im Stich gelassen hast. Dieses Wissen wird immer in einem Winkel meines Bewusstseins bleiben, doch ich wünsche mir auch, geliebt zu werden.«
Es blieb keine Zeit mehr, über das nachzudenken, was sie gesagt hatte, oder sich darüber zu freuen. Die Tür wurde aufgestoßen, und Haran betrat den Raum. Gefolgt von seinem kriecherischen Diener.
18.
Yaltha, Diodora und ich sprangen auf und standen Seite an Seite, als wollten wir eine kleine Festung bilden. »Da du nicht angeklopft hast, gehe ich davon aus, dass du in einer dringenden Angelegenheit kommst«, sagte Yaltha zu Haran und klang dabei betont gemessen, doch als ich zu ihr blickte, glaubte ich ihren Zorn fast sehen zu können, kleine, helle Blitze, rund um ihren Kopf.
»Man hat mir gesagt, dass ihr eine Besucherin habt«, rief er. Seine Augen waren auf Diodora gerichtet. Er musterte sie neugierig, fragend, schien jedoch noch nicht begriffen zu haben, um wen es sich handelte. Mir wurde klar, dass sie für ihn im Moment nur das war – eine Besucherin.
»Wer seid Ihr?«, fragte er und baute sich vor ihr auf.
Ich zermarterte mir den Kopf auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre Anwesenheit zu erklären – dass Diodora zum Beispiel Pamphiles Schwester sei, die wegen der bevorstehenden Heirat gekommen war. Wir sollten nie erfahren, ob meine Ausflucht ihn vielleicht überzeugt hätte oder ob Yaltha, die ebenso Anstalten machte, zu sprechen, ihn hätte ablenken können, denn in genau diesem Augenblick zog Diodora das Armband mit dem Geier aus ihrem Beutel und setzte zu ihrer etwas unbeholfenen Geschichte an, zu verstört, um zu begreifen, dass sie nicht mehr glaubhaft war. »Ich bin Bedienstete an der Isis Medica. Einer Eurer Dienstboten hat dies in der Heilstätte des Tempels zurückgelassen. Man hat mich geschickt, um es zu überbringen.«
Harans Blick fiel auf die Becher mit Wein. Er wies auf Yaltha und mich. »Und das hier sind diejenigen, die das Armband dort vergessen haben?«
»Nein, nein.« Sie geriet ins Stottern. »Ich wollte sie nur fragen, ob sie wissen, wem es gehören könnte.«
Jetzt schaute Haran zu Yaltha. Es war ein brennender, ein triumphierender Blick. Dann wandte er sich wieder zu Diodora, trat einen Schritt näher. »Wie ich sehe, Chaya, bist du von den Toten zurück«, sagte er.
Wir erstarrten, wie geblendet von einem Blitz, der aus heiterem Himmel über uns eingeschlagen hatte. Selbst Haran rührte sich nicht. Im Raum war es still. Ich nahm nur den beißenden Geruch der Lampe wahr, ein kaltes Prickeln in meinen Armen, und die schwüle Hitze, die durch die offene Gartentür hereinkam. Als ich hinausschaute, sah ich Lavis kauernden Schatten.
Es war Yaltha, die den Bann brach. »Hast du wirklich geglaubt, ich
würde nicht nach meiner Tochter suchen?«
»Ich dachte, du wärst klug und vernünftig genug, es nicht zu tun«, antwortete er. »Und jetzt frage ich dich:
Glaubst du wirklich, dass ich mein Versprechen, zu den Römern zu gehen und dich festnehmen zu lassen, nicht wahrmache?«
Yaltha gab ihm keine Antwort. Sie schaute ihn nur an, finster, trotzig.
Auch ich hatte eine Frage, doch ich stellte sie nicht: Würdet Ihr, Onkel, es denn gerne sehen, wenn bekannt würde, dass Ihr Eure Nichte zuerst für tot erklärt und dann in die Sklaverei verkauft habt?
Es wäre eine Schande, die ihn teuer zu stehen käme. Es gäbe einen öffentlichen Skandal, man würde ihn schneiden, ja meiden, und ich sah, dass das seine allergrößte Angst war. Ich beschloss, ihn darauf hinzuweisen, was auf dem Spiel stand, doch zunächst wollte ich es behutsam angehen. »Wollt Ihr einer Mutter gegenüber, die nur ihre Tochter kennenlernen will, keine Gnade walten lassen? Uns ist es gleichgültig, wie Chaya in den Besitz des Priesters an der Isis Medica kam. Das ist lange her. Wir werden niemandem etwas sagen. Uns ist es nur wichtig, dass sie endlich wieder mit ihrer Mutter vereint ist.«
»Ich werde nicht so töricht sein, darauf zu vertrauen, dass drei Frauen ihren Mund halten, und schon gar nicht ihr drei.«
Ich versuchte es noch einmal. »Wir haben nicht vor, Eure Vergehen zu enthüllen. Stattdessen werden wir nach Galiläa zurückkehren, und Ihr seid uns los.«
»Was, du willst mich noch einmal im Stich lassen?«, rief Diodora, an ihre Mutter gerichtet.
»Nein«, sagte Yaltha. »Du würdest mit uns kommen.«
»Aber ich will nicht nach Galiläa.«
Oh, Diodora, du bist nicht sehr hilfreich.
Haran lächelte. »Ich gebe zu, du bist schlau, Ana, aber mich kannst du nicht an der Nase herumführen.«
Dann war er also ebenso sehr von Rachlust angetrieben wie von der Angst vor Schande, ging es mir durch den Kopf.
»Abgesehen davon fürchte ich, ihr könnt nirgendwohin. Ich weiß aus
verlässlicher Quelle, dass du einen Diebstahl begangen hast.«
Diebstahl? Ich versuchte, aus dem schlau zu werden, was Haran da gerade gesagt hatte. Als er meine Verwirrung bemerkte, fügte er hinzu: »Es ist ein Verbrechen, Papyrus zu stehlen.«
Ich hob den Blick zu dem Diener, der in der Tür stand, hörte Yaltha einatmen, ein kurzes, raues Schnaufen. Diodora schmiegte sich an sie.
»Klage mich dessen an, wenn du musst«, sagte Yaltha. »Aber nicht Ana.«
Ohne auf sie zu achten, sprach er weiter zu mir. »In Alexandria kann die Strafe für Diebstahl so rigide sein wie für Mord. Die Römer zeigen hier nur wenig Gnade, doch ich werde mein Bestes tun, um dich vor der Auspeitschung und Verstümmelung zu bewahren. Ich werde mich dafür einsetzen, dass ihr beide nach Westnubien verbannt werdet. Von dort gibt es keine Rückkehr.«
Ich hörte nichts als das Pochen meines Herzschlags in meinen Schläfen. Es wurde lauter und lauter, bis es den ganzen Raum erfüllte. Ich spürte, wie mir die Welt entglitt. Ich war also nicht schlau gewesen, sondern unbesonnen und voller Hochmut, als ich dachte, ich könnte meinen Onkel übertölpeln … stehlen und betrügen, ohne dass es Konsequenzen hatte. Doch ich würde mich eher siebenmal auspeitschen und verstümmeln lassen, als an diesen Ort ohne Wiederkehr verbannt zu werden. Ich musste frei sein, um zu Jesus zurückkehren zu können.
Ich schaute zu meiner Tante, deren Schweigen mich überraschte – warum beschimpfte sie ihn nicht? Doch auch meine Stimme war versiegt, war in den Tiefen meines Rachens verschwunden. Angst machte sich in mir breit. Es konnte doch nicht wahr sein, dass ich aus Galiläa geflohen war, um einer Festnahme zu entgehen, nur um in Ägypten erneut in die Fänge der Obrigkeit zu geraten!
Haran sprach zu Diodora. »Ich erlaube dir, zur Isis Medica zurückzukehren, doch nur unter der Bedingung, dass du niemals ein Wort über diesen Abend verlieren wirst, auch nicht über deine Herkunft, über mich und dieses Haus. Schwöre es, und du darfst
gehen.« Er wartete.
Diodoras Augen wanderten zu Yaltha, die ihr zunickte. »Ich schwöre es«, sagte sie.
»Wenn du diesen Eid brichst, werde ich davon erfahren und ebenfalls Anklage gegen dich erheben«, sagte er. Offenbar hielt er Diodora für ein schwaches, zerbrechliches Mädchen, das er leicht unter Druck setzen konnte. Damals wusste ich noch nicht, ob er sie damit falsch oder richtig einschätzte. »Geh jetzt«, sagte er. »Mein Diener bringt dich hinaus.«
»Geh«, sagte Yaltha zu ihr. »Ich komme zu dir, sobald ich kann.«
Sie umarmte ihre Mutter und trat dann durch die Tür, ohne sich noch einmal umzusehen.
Haran durchquerte das Zimmer und ließ die Tür zum Garten ins Schloss fallen. Dann schob er den Riegel vor und versperrte diesen mit einem Schlüssel, den er an einer Kordel um seine Tunika trug. Als er sich wieder uns zuwandte, war seine Miene etwas milder geworden. Er sagte: »Ihr bleibt heute Nacht hinter verschlossenen Türen. Morgen früh übergebe ich euch an die Römer. Es ist bedauernswert, dass es so weit kommen musste.«
Mit diesen Worten ging er und zog die Haupttür des Salons hinter sich zu. Dann glitt der Riegel von außen mit einem leisen Quietschen ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich.
***
ICH LIEF ZUR GARTENTÜR UND KLOPFTE,
zuerst leise, dann lauter. »Lavi ist draußen im Garten«, sagte ich zu Yaltha. »Er hat sich versteckt.« Wieder und wieder rief ich durch die dicke, undurchdringliche Tür seinen Namen. »Lavi … Lavi?«
Draußen war es mucksmäuschenstill. Ich rief wieder und wieder nach ihm, schlug mit der flachen Hand an das Holz, ohne auf den Schmerz zu achten, den ich mir damit selbst zufügte. Dann gab ich auf. Vielleicht hatte Haran ja auch ihn eingesperrt. Ich durchquerte den Raum,
rüttelte so fest an der Klinke der Haupttür, als könnte ich sie aus den Angeln heben.
Ich ging auf und ab. Meine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Die Fenster in unseren Schlafzimmern waren zu hoch und zu schmal, um hindurchzuklettern, und es kam mir sinnlos vor, um Hilfe zu rufen. »Wir müssen einen Weg hinaus finden«, sagte ich. »Nach Nubien gehe ich nicht.«
»Spar dir deine Kräfte«, sagte Yaltha. »Du wirst sie brauchen.«
Ich ließ mich neben sie auf den Boden sinken und lehnte mich mit dem Rücken an ihre Knie. Dann blickte ich von einer abgesperrten Tür zur anderen, und ein Gefühl der Ausweglosigkeit machte sich in mir breit. »Werden die Römer uns wirklich bestrafen, nur weil Haran es sagt?«, fragte ich.
Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Mir scheint, Haran will diesen Fall vor die römische Gerichtsbarkeit bringen, nicht vor die jüdische, deshalb bin ich mir nicht sicher, aber ich schätze, er wird durchaus mit Zeugen aufwarten können«, sagte sie. »Ruebels alte Freunde aus der Miliz werden begierig darauf sein, zu bekräftigen, ich hätte ihn vergiftet. Sag mir, wer hat denn gesehen, wie du die Papyri genommen hast?«
»Harans widerwärtiger Diener.«
»Ach der.« Sie gab ein angeekeltes Grunzen von sich. »Der wird mit Freuden gegen dich aussagen.«
»Aber wir werden ihre Anschuldigungen zurückweisen.«
»Wenn man uns gestattet zu reden, ja. Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben, Ana, aber wir sollten uns auch nicht den Tatsachen verschließen. Haran besitzt die römische Staatsbürgerschaft, und der römische Präfekt von Alexandria hört auf ihn. Er ist ein wichtiger Geschäftsmann und eines der höchstrangigen Mitglieder des jüdischen Rates. Ich hingegen bin ein Flüchtling und du Ausländerin.«
Meine Augen begannen zu brennen.
»Außerdem besteht die Möglichkeit, dass mein Bruder die Gerichtsbarkeit bestechen könnte.«
Ich ließ den Kopf auf die Knie sinken. Flüchtling. Ausländerin.
Klopf, klopf.
Wie auf Kommando schauten wir zur Gartentür. Dann klapperte ein Schlüssel.
Der Bart des Schlüssels fügte sich in den Schlossriegel, die Tür ging auf, und Pamphile trat ein, gefolgt von Lavi, der einen großen Eisenschlüssel mit einem kleinen Etikett aus Pergament in der Hand hielt.
Ich umarmte beide. »Wie seid ihr denn an den Schlüssel gekommen?«, fragte ich flüsternd.
»Haran hat für jede Tür zwei«, antwortete Pamphile. »Die Ersatzschlüssel bewahrt er in einem Beutel auf, der an einer Wand seines Arbeitszimmers hängt. Lavi konnte die Etiketten lesen.« Sie strahlte ihn an.
»Du weißt, womit Haran droht?«, fragte ich ihn.
»Ja, ich habe jedes Wort gehört.«
Ich wandte mich an Yaltha. »Wo sollen wir hin?«
»Ich kenne nur einen einzigen Ort, den Haran niemals betreten würde«, sagte sie. »Wir gehen zu den Therapeutae. Das Anwesen, auf dem sie leben, ist jedem Juden heilig. Dort sind wir in Sicherheit.«
»Werden sie uns denn aufnehmen?«
»Ich habe acht Jahre dort verbracht. Man wird uns Zuflucht gewähren.«
Seit Haran uns eingesperrt hatte, fühlte sich die Welt wie ein schwankendes, von Wind und Wellen gebeuteltes Schiff an, doch jetzt trat auf einmal Ruhe ein, das Schiff nahm endlich wieder Kurs auf.
»Die Gemeinschaft lebt am Ufer des Mareotis-Sees«, sagte Yaltha. »Wir werden fast vier Stunden brauchen, um diese Strecke zu Fuß zurückzulegen. Bei Dunkelheit vielleicht noch länger – wir müssen eine Lampe mitnehmen.«
»Ich bringe euch sicher hin«, sagte Lavi.
Yaltha schaute ihn an – ein Stirnrunzeln, ein Zucken ihrer Mundwinkel. »Lavi, du kannst auch nicht in Harans Haus bleiben.«
Pamphile sah aus, als hätte sich ein Abgrund vor ihr aufgetan. »Er kann hier nicht weg.«
»Er ist in Gefahr, wenn er bleibt«, entgegnete Yaltha. »Haran wird davon ausgehen, dass Lavi uns bei der Flucht geholfen hat.«
»Dann komme ich mit«, sagte sie. »Er ist jetzt mein Ehemann.«
Ich berührte sie am Arm. »Bitte, Pamphile, es ist wichtig, dass du wenigstens noch eine Weile hierbleibst. Ich warte immer noch auf den Brief, in dem man mir mitteilt, dass es in Galiläa nun sicher für mich ist. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieser Brief eintrifft und ich nichts davon weiß. Du musst unbedingt auf ihn warten und, wenn er da ist, dafür sorgen, dass ich ihn bekomme. Ich weiß, es ist selbstsüchtig, das von dir zu verlangen, doch ich bitte dich inständig darum. Bitte.«
Lavi sagte: »Wir haben niemandem etwas von unserer Heirat gesagt, weil wir befürchteten, Haran würde Pamphile sofort entlassen.« Er sah seine frischgebackene Ehefrau an. »Er würde folglich keinerlei Verdacht schöpfen, dass du etwas mit ihrer Flucht zu tun haben könntest.«
»Aber ich will nicht von dir getrennt sein«, sagte sie.
Lavi redete sanft auf Pamphile ein. »Du weißt ebenso gut wie ich, dass ich nicht hierbleiben kann. Die Bibliothek bietet Unterkünfte für Bibliothekare an, die nicht verheiratet sind. Dort werde ich unterkommen, und ich möchte, dass du hierbleibst, bis Anas Brief aus Galiläa eintrifft. Dann werde ich für uns beide eine Unterkunft suchen.«
Ich war mittlerweile ein Jahr und sechs Monate von Jesus getrennt. Eine Ewigkeit. Er reiste ohne mich durch Galiläa, predigte, dass das Reich Gottes nahe sei, während ich, seine Ehefrau, weit weg war. Ich fühlte mit Pamphile, doch ihre Trennung von ihrem Ehemann würde im Vergleich zu der meinen kaum mehr als ein Augenzwinkern sein.
»Es scheint, als hätte ich keine Wahl«, sagte sie. Man hörte ihr ihren Ärger deutlich an.
Lavi stieß die Tür zum Garten auf und spähte hinaus. Dann reichte er Pamphile den Schlüssel. »Bring ihn zurück, bevor er vermisst wird.
Und dann entriegele die Tür im Dienstbotenquartier, die nach draußen führt. Wenn dich jemand fragt, wo wir geblieben sind, sag, du wüsstest es nicht. Tu so, als hätte ich dich getäuscht. Und lass dir deine Verärgerung über mich ordentlich anmerken.«
Er küsste sie auf die Wangen und schob sie aus der Tür.
Rasch stopfte ich meine Habseligkeiten in zwei kleine Reisebeutel.
Der eine war schnell prallvoll mit meinen Schriftrollen, und in den anderen packte ich meine Kleidung, das Mumienporträt meines Gesichts, das Täschchen mit dem roten Faden und den Rest unseres Geldes. Die Zauberschale würde ich wieder einmal in den Armen tragen.
19.
Als Skepsis, die alte Frau, die die Therapeutae leitete, mich betrachtete, hatte ich das Gefühl, mit Haut und Haaren von ihrem Blick verschluckt zu werden. Sie erinnerte mich an eine Eule, wie sie da auf der Kante einer Bank hockte, mit ihren durchdringenden, goldbraunen Augen und dem weißen, fedrigen Haar, das vom Schlaf in alle Himmelsrichtungen abstand. Ihr stämmiger kleiner Körper war gebückt und reglos, doch ihre Augen huschten zwischen Yaltha und mir hin und her, während sie meiner Tante zuhörte, die zu erklären versuchte, warum wir da auf einmal mitten in der Nacht im Vestibül ihres kleinen Steinhauses standen und um Zuflucht baten.
***
WÄHREND UNSERES LANGEN, ANSTRENGENDEN FUSSMARSCHES
von Alexandria hatte mich Yaltha über alles in Kenntnis gesetzt, was es an seltsamen Dingen in dieser Gemeinschaft zu beachten gab. »Die Mitglieder werden in Jüngere und Ältere unterteilt«, hatte sie erklärt. »Jüngere sind nicht unbedingt die jüngsten Mitglieder, wie man meinen könnte, sondern die neuesten. Mich hat man erst als Ältere betrachtet,
als ich bereits sieben Jahre den Therapeutae angehörte.«
»Und gelten Ältere und Jüngere als gleichberechtigt?«, wollte ich wissen. Denn wenn es eine Hierarchie gab, dann war ich darin garantiert der niedrigste Wurm von allen, das war mir klar.
»Alle gelten als gleichberechtigt, doch die Arbeit wird unterschiedlich aufgeteilt. Die Gemeinschaft hat ihre Gönner, zu denen auch Haran gehört, weshalb man vermutlich sogar Dienstboten anheuern könnte, doch davon will man nichts wissen. Es sind die Jüngeren, die anpflanzen und ernten, die Essen kochen und es zu Tisch bringen, die sich um die Tiere kümmern und die Häuser bauen – was auch immer an Arbeit ansteht, wird von den Jüngeren getan, zusätzlich zu ihrer spirituellen Arbeit. Ich selbst habe morgens im Garten gearbeitet und konnte erst am Nachmittag wieder für mich allein sein.«
»Die Älteren haben überhaupt keine Arbeit?«
»Sie genießen das Privileg, sich ganz und gar der spirituellen Arbeit widmen zu können.«
Wir schleppten uns an schlafenden Dörfern, an Weinbergen, Weinpressen und Villen vorbei; Lavi ging uns mit der Lampe voraus und verließ sich darauf, dass Yaltha ihm die Richtung wies. Für mich war es das reinste Wunder, dass wir uns nicht verliefen.
Sie sagte: »Alle neunundvierzig Tage gibt es eine Nacht, in der alle wach bleiben, um zu essen, zu singen und zu tanzen. Die Mitglieder steigern sich in eine Art Ekstase hinein. Sie nennen es die nüchterne Trunkenheit.«
Was sollte das
denn bloß für eine Gemeinschaft sein?
Als wir uns den schilfbestandenen Ufern des Mareotis-Sees näherten, überlegte ich, ob Yaltha an jenes erste Mal denken musste, als sie nach der Trennung von ihrer Tochter hier angekommen war. Diesmal war das Gefühl vermutlich recht ähnlich. Ich sah den Mond, der wie eine große Scheibe über dem Wasser schwebte, sah den Sternenhimmel. Und ich konnte das Meer riechen, direkt hinter der Erhebung aus Kalkstein. Wie vor langer Zeit, als ich an der Höhle auf Jesus gewartet hatte, erfüllte mich eine Mischung aus Angst und überschäumender
Freude.
Als der Tiefpunkt der Nacht überschritten war, bogen wir von der Straße ab und stiegen einen außergewöhnlich steilen Hügel hoch. Oben auf der Kuppe angekommen, konnte ich mehrere aneinandergeschmiegte Häuschen mit Flachdach erkennen.
»Sie sind klein und einfach«, sagte Yaltha, die meinem Blick gefolgt war. »Jedes hat einen kleinen Garten, einen Schlafraum und ein sogenanntes heiliges Zimmer, in dem die spirituelle Arbeit stattfindet.«
Es war schon das dritte Mal, dass sie diesen sonderbaren Ausdruck verwendete. »Was ist denn diese spirituelle Arbeit?«, fragte ich. Nach zehn Jahren tagtäglicher Schufterei in Nazareth fand ich die Vorstellung befremdlich, einfach nur in einem heiligen Raum herumzusitzen.
»Studieren, lesen, schreiben, Lieder komponieren, Gebete, du wirst sehen.«
Kurz bevor wir an dem winzigen Pförtnerhaus anlangten, blieben wir stehen, und Lavi reichte uns die beiden Reisebeutel, die er für uns getragen hatte. Ich kramte in meinem nach ein paar Drachmen. »Hier, nimm das hier«, sagte ich. »Wenn der Brief von Judas ankommt, soll sich Pamphile für das Geld ein Fuhrwerk mieten und so schnell wie möglich damit hierherkommen.«
»Mach dir keine Sorgen – ich kümmere mich darum.«
Einen Moment lang zögerte er, dann wandte er sich ab, um zu gehen. Ich berührte ihn am Arm. »Lavi, ich danke dir. Du bist wie ein Bruder für mich gewesen.«
Ein nächtlicher Schatten lag auf seinem Gesicht, doch ich spürte sein Lächeln und streckte die Hände aus, um ihn zu umarmen.
»Schwester«, sagte er, verabschiedete sich dann von Yaltha und machte sich auf den langen Rückweg.
Einer der Jüngeren hielt Wache im Pförtnerhaus. Es handelte sich um einen dürren Mann, der sich zunächst weigerte, uns hereinzulassen. Seine Aufgabe, sagte er, sei es, Diebe, Scharlatane und Reisende abzuwehren, doch als Yaltha ihm sagte, sie sei einmal ein altgedientes
Mitglied der Therapeutae gewesen, öffnete er rasch die Tür.
***
ALS WIR NUN IN SKEPSIS’ HAUS STANDEN
und ich hörte, wie Yaltha ausführlich erklärte, warum ich die Papyri gestohlen hatte, fragte ich mich, ob ich jemals die Gelegenheit bekommen würde, auch nur eines der wundersamen Dinge selbst auszuprobieren, die Yaltha mir von den Therapeutae erzählt hatte. Zuvor hatte sie bereits erklärt, dass wir aus Galiläa geflohen waren, um meine Festnahme zu verhindern. Ich versuchte, aus Skepsis’ Gesichtsausdruck schlau zu werden. Vermutlich überlegte sie gerade, wie sie diese Unruhestifterin, die von einem Schlamassel ins nächste geriet, wieder loswerden sollte.
»Meine Nichte ist eine ausgezeichnete Schriftgelehrte, besser als jeder Mann, den ich jemals gekannt habe«, sagte Yaltha, die offenbar beschlossen hatte, die Auflistung meiner Missetaten mit etwas Lob auszugleichen.
Skepsis klopfte mit der Hand auf die Bank neben ihr. »Komm und setz dich zu mir, Yaltha.« Sie hatte meine Tante bereits vorher dazu aufgefordert, doch Yaltha hatte abgelehnt und war im Zimmer auf und ab gegangen, während sie von ihrem Wiedersehen mit Diodora und Harans Drohungen erzählte.
Jetzt seufzte Yaltha tief und ließ sich auf die Bank sinken. Im Schein der Lampe sah sie mitgenommen aus.
»Ihr seid aus Verzweiflung zu uns gekommen, doch das allein ist für uns kein Grund, euch aufzunehmen«, sagte Skepsis. »Wer hier verweilt, der tut dies aus Liebe zu einem ruhigen, beschaulichen Leben. Menschen kommen, um zu studieren und das Gedenken an Gott aufrechtzuerhalten. Kannst du sagen, dass ihr auch aus diesen Gründen hier seid?«
»Als man mich damals zum ersten Mal hierhergeschickt hat, habt ihr mich aufgenommen, damit ich nicht bestraft werde«, erwiderte Yaltha. »Ich hatte meine Tochter zurückgelassen und trauerte. Später habe ich
viel Zeit darauf verwendet, dich zu bitten, mir eine Flucht von hier zu ermöglichen. Mein glücklichster Tag war der, als du mit Haran eine Abmachung getroffen hattest, die es mir erlaubte, nach Galiläa zu gehen … obwohl du lange genug dafür gebraucht hattest: acht Jahre!« Skepsis kicherte. »Ich empfinde heute genauso wie damals«, fuhr Yaltha fort. »Ich würde dich anlügen, wenn ich sagte, ich käme aus den noblen Gründen, die du ansprichst.«
»Ich hingegen kann das sehr wohl sagen«, verkündete ich.
Beide wandten sich mir zu, auf den Gesichtern einen Ausdruck reinster Verblüffung. Hätte ich in jenem Moment noch meinen alten Kupferspiegel besessen und hineingeblickt, so hätte ich die gleiche Überraschung in meiner eigenen Miene gesehen, davon bin ich überzeugt. »Ich bin aus ähnlicher Verzweiflung hier wie meine Tante, doch ich habe auch all die Dinge im Gepäck, von denen Ihr sagtet, sie seien notwendig, um hierbleiben zu dürfen. Ich komme mit der Liebe zu einem ruhigen Leben. Ich wünsche mir nichts mehr als zu schreiben und zu studieren und das Gedenken an Sophia am Leben zu erhalten.«
Skepsis spähte prüfend auf den Beutel über meiner Schulter; er war vollgestopft mit Schriftrollen, deren Enden aus der Öffnung ragten. Und ich hielt immer noch meine Zauberschale umklammert, drückte sie fest gegen meinen Leib. Bei unserer Flucht hatte ich mir nicht einmal die Zeit genommen, sie in ein Tuch zu wickeln, und die weiße Oberfläche war schmutzig geworden, als ich die Schale irgendwo im Schilf abgestellt hatte, während ich meine Notdurft verrichtete.
»Darf ich die Schale sehen?«, fragte Skepsis. Es war das erste Mal, dass sie mich direkt ansprach.
Ich reichte sie ihr und beobachtete, wie sie die Lampe darüber hielt und meine ureigensten Gedanken las.
Skepsis gab mir die Schale wieder zurück, jedoch nicht ohne die Seiten und das Innere vorher mit dem Saum ihrer Tunika abzuwischen. »Ich erkenne an deinem Gebet, dass das, was du uns gerade eben gesagt hast, der Wahrheit entspricht.« Ihr Blick wanderte zu Yaltha. »Alte Freundin, weil du für deine und für Anas Vergehen Rechenschaft
abgelegt und mir nichts verschwiegen hast, bin ich mir sicher, dass du ehrlich bist. Wie immer weiß ich, wo du stehst. Ich werde euch beiden Zuflucht gewähren. Nur eines verlange ich von Ana dafür.« Sie wandte sich an mich. »Ich möchte, dass du ein Loblied auf Sophia schreibst und es bei unserer nächsten Nachtwache vorträgst.«
Es war, als hätte sie gesagt: Ana, steig auf die nächste Klippe, lass dir Flügel wachsen und flieg.
»Ich habe keine Ahnung, wie man ein Lied schreibt«, stieß ich hervor.
»Dann ist es doch umso besser, wenn du nun die Gelegenheit bekommst, genau das zu lernen. Zu jeder Nachtwache muss jemand ein neues Lied verfassen, und die Lieder sind sich bedauernswerterweise immer sehr ähnlich und wenig spannend. Die Gemeinschaft wird froh sein, wenn sich jemand etwas Neues einfallen lässt.«
Ein Loblied. Auf Sophia. Und sie wollte, dass ich es auch noch vortrug. Ich war starr vor Angst und begeistert zugleich. »Wer wird es mir beibringen?«
»Du wirst es dir selbst beibringen«, sagte sie. »Die nächste Nachtwache findet in sechsundvierzig Tagen statt – du hast also jede Menge Zeit.«
Sechsundvierzig Tage. So lange wäre ich ganz gewiss nicht mehr hier.
20.
Die ersten beiden Wochen bei den Therapeutae durchlebte ich in einem Zustand wohliger Verzückung. Stunden der Einsamkeit, Gebete, Lesen, Schreiben, Wechselgesänge, Philosophieunterricht – von all dem hatte ich immer geträumt, doch dass es mir nun im Überfluss geschenkt wurde, bescherte mir ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Und tatsächlich träumte ich vom Schweben, von Leitern, die sich bis in die Wolken erstreckten. Dann saß ich im heiligen Raum des Hauses, starrte verschwommen vor mich hin und grub die Nägel in das Fleisch meiner
Daumen, nur um mich selbst und meinen Körper zu spüren. Yaltha sagte, dieses Gefühl der Losgelöstheit komme schlicht und ergreifend von der überwältigenden Erkenntnis, tatsächlich hier zu sein.
Bald darauf übertrug mir Skepsis die Verantwortung für die Ställe mit den Tieren, was mich rasch kurierte. Hühner, Schafe und Esel. Mist und Urin. Grunzende Paarungslaute. Ein Gestöber aus Mücken am Wassertrog. Hufabdrücke im Schlamm. Mir kam sogar der Gedanke, dass auch diese Dinge heilig sein könnten, eine Gotteslästerung, die ich lieber für mich behielt.
***
AM ERSTEN KALTEN TAG NACH UNSERER ANKUNFT
schleppte ich den Wasserkrug den Hügel hinab, um an der Quelle in der Nähe des Pförtnerhauses Wasser für die Tiere zu holen. Die Überschwemmungen des Sommers, wenn der Nil über seine Ufer trat, waren vorüber, kühle Winde wehten sowohl vom Meer als auch vom See herbei und vereinten sich zu einem kleinen Mahlstrom. Ich trug einen zerschlissenen Umhang aus Ziegenleder, den mir einer der Jüngeren zur Verfügung gestellt hatte und der so groß und lang war, dass er über den Boden schleifte. Wenn ich richtig zählte, waren wir seit fünfeinhalb Wochen da. Ich versuchte zu errechnen, welchen Monat man in Galiläa schrieb – Marcheschwan, vermutete ich. Jesus würde noch nicht seinen Wollumhang tragen.
Ich dachte immer noch ständig an ihn. Wenn ich aufwachte, lag ich noch einen Augenblick lang da und stellte mir vor, wie er sich von seiner Schlafmatte erhob. Wenn ich die erste Mahlzeit des Tages verspeiste, sah ich ihn vor mir, wie er auf die gelassene Art, die ihm eigen war, das Brot brach. Und wenn ich, wie so oft in jenen Tagen, Skepsis lauschte, wie sie uns in der symbolischen Lesart der Heiligen Schrift unterwies, stieg in mir das Bild meines Liebsten hoch, wie er auf dem Berg, von dem uns Lavi erzählt hatte, den Massen predigte.
Als ich den Pfad hinabstieg, kam ich an der Halle vorbei, wo alle
neunundvierzig Tage eine Nachtwache abgehalten wurde. Die nächste war in acht Tagen, und obwohl ich viele Stunden mit dem Versuch verbracht hatte, besagtes Loblied zu schreiben, hatte ich noch keine Fortschritte zu verzeichnen. Ich würde Skepsis wohl mitteilen müssen, sie könne jegliche Hoffnung darauf, dass ich ein solches Lied verfassen oder gar vortragen könnte, fahren lassen. Sie wäre sicher nicht begeistert, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mich deshalb verstoßen würde.
Neununddreißig Steinhäuschen lagen verstreut am Hügel, ein jedes für eine Person gedacht, obwohl in den meisten zwei Menschen wohnten. Yaltha und ich teilten uns eine solche Hütte und schliefen Seite an Seite auf Schilfmatten. Skepsis hatte angeboten, Yaltha wieder ihren Status als Ältere zurückzugeben, doch meine Tante hatte abgelehnt, weil sie lieber im Garten arbeitete. Ihre Nachmittage verbrachte sie in unserem winzigen Gärtchen, wo sie unter einer einzelnen Tamariske saß.
Nun, da ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, gefiel es mir, den heiligen Raum für mich allein zu haben. Darin befanden sich eine hölzerne Schreibtafel und ein Pult, auf dem man eine Schriftrolle ausrollen konnte, und Skepsis hatte Papyrus und Tinte geschickt.
An der Quelle hockte ich mich auf den Boden, um mein Gefäß zu füllen. Als ich vom Pförtnerhaus Männerstimmen hörte, schenkte ich ihnen zunächst keine Beachtung – es kamen oft Hausierer vorbei, etwa eine Frau, die Mehl verkaufte, oder ein Junge, der sich mit Säcken voller Salz abschleppte –, doch dann vernahm ich etwas, das mich innehalten ließ. »Die Gesuchten sind hier … Ja, da bin ich mir sicher.«
Ich stellte den Krug ab, zog mir den zerschlissenen Umhang über den Kopf und kroch auf allen vieren in Richtung der Stimmen, so weit, wie ich mich traute. Der Jüngere, der sich um das Pförtnerhaus kümmerte, war weit und breit nicht zu sehen, doch einer der Älteren sprach mit zwei Männern, die kurze Tuniken, Ledersandalen, bis zum Knie hoch geschnürt, und kurze Messer in ihren Gürteln trugen. Das war die Kluft der jüdischen Miliz. »Meine Männer werden entlang der Straße Wache
halten, für den Fall, dass sie abhauen wollen«, sagte der Größere von ihnen. »Ich benachrichtige Haran. Wenn Ihr uns noch etwas mitteilen wollt, hinterlasst eine Nachricht am Pförtnerhaus.«
Es war keine Überraschung, dass Haran uns gefunden hatte; nur, dass er so lange dafür gebraucht hatte. Yaltha und Skepsis waren felsenfest davon überzeugt, dass er das Hausrecht der Therapeutae niemals verletzen würde, indem er jemanden schickte, um uns festzunehmen. »Die Juden von Alexandria würden sich mit Sicherheit gegen ihn wenden«, hatte Skepsis gesagt. Ich war mir da nicht so sicher.
Als die Soldaten gegangen waren, blieb ich noch eine Weile am Boden liegen und wartete, bis unser Verräter auf dem Weg den Hügel hoch an mir vorbeikam. Es handelte sich um einen dünnen, gebeugten Mann mit Augen wie getrocknete Weintrauben; er hieß Lucianus und kam in der Hierarchie der Therapeutae direkt nach Skepsis. Als er außer Sicht war, holte ich den Wasserkrug und lief zum Garten, um Yaltha zu erzählen, was ich gesehen hatte.
»Diese Schlange Lucianus war schon Harans Spitzel, als ich zum ersten Mal hier war«, sagte sie. »Wie es scheint, hat das Alter ihn nicht weiser gemacht. Er hat zu viel gefastet und zu lange den Frauen abgeschworen.«
ZWEI TAGE SPÄTER SAH ICH SKEPSIS
und Yaltha auf den Stall zulaufen.
Ich war dabei, Gras zu sammeln, um die Esel zu füttern, und legte den Rechen beiseite.
Ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, hob Skepsis ein Stück Pergament in die Höhe. »Das hier kam heute von Haran. Einer der Soldaten, der die Straße überwacht, brachte es ins Pförtnerhaus.«
»Du weißt von den Soldaten?«, fragte ich.
»Es ist meine Aufgabe, darüber Bescheid zu wissen, was unseren Frieden bedroht. Ich bezahle den Jungen mit dem Salz dafür, dass er mich über diese Männer auf dem Laufenden hält.«
»Lies schon vor«, sagte Yaltha.
Skepsis runzelte die Stirn, weil sie es nicht gewohnt war, herumkommandiert zu werden, doch sie folgte, hielt das Pergament auf Armeslänge von sich entfernt und las mit zusammengekniffenen Augen:
Ich, Haran ben Philippos Levias, getreuer Gönner der Therapeutae seit zwei Jahrzehnten, schreibe an Skepsis, die hochgeschätzte Leiterin der Gemeinschaft, und bitte darum, meine Schwester und meine Nichte, die sich gegenwärtig im Schutz der Therapeutae aufhalten, in meine Obhut zu übergeben, wo man ihnen jegliche Fürsorge und Gunst angedeihen lassen wird. Nur unter der Voraussetzung, dass die Therapeutae die beiden Frauen an die Männer ausliefern, die in der Nähe des Anwesens ihr Lager aufgeschlagen haben, werden sie auch weiterhin in den Genuss meiner Treue und Großzügigkeit kommen.
Sie ließ die Hand sinken, als hätte das schiere Gewicht des Schreibens sie ermüdet. »Ich habe ihm eine Nachricht geschickt und seine Bitte zurückgewiesen. Natürlich wird die Gemeinschaft ihn als Mäzen verlieren – die Drohung ist unmissverständlich. Dann müssen wir unsere Gürtel eben ein wenig enger schnallen und mehr fasten.«
»Danke«, sagte ich, traurig darüber, der Gemeinschaft Entbehrung zu bringen.
Sie schob die Nachricht in ihren Umhang. Als sie davonging, wurde mir bewusst, dass sie der einzige Mensch war, der jetzt noch schützend zwischen uns und Haran stand.
Ich würde das Loblied schreiben.
21.
Die Bibliothek war ein kleiner, vollgestopfter Raum im
Versammlungshaus; überall auf dem Boden, auf Regalen und Tischen, lagen Schriftrollen herum oder waren in Wandnischen wie Feuerholz gestapelt. Ich stieg über sie hinweg und um sie herum, der Staub brachte mich zum Niesen. Skepsis hatte mir gesagt, hier gebe es Lieder, von denen sowohl Text als auch Melodie niedergeschrieben seien, sogar griechische Gesangsnotationen, doch wie sollte ich sie bloß finden? Ein Katalog existierte nicht. Nichts war geordnet. Da herrschte sogar in meinem Stall mehr Ordnung und fand sich im Fell meines Esels weniger Staub.
Skepsis hatte mich vor der Unordnung gewarnt. »Theanus, unser Bibliothekar, ist schon alt und kann wegen eines Zipperleins fast nicht mehr gehen«, hatte sie gesagt. »Um die Bibliothek hat er sich schon seit mehr als einem Jahr nicht gekümmert, und niemand ist willens oder in der Lage, seinen Platz einzunehmen. Doch such nur nach den Liedern – sie werden lehrreich für dich sein.«
Jetzt kam mir jedoch der Gedanke, dass sie auch noch einen anderen Grund gehabt hatte, mich hierherzuschicken. Sie hoffte, ich würde als Bibliothekarin einspringen.
Ich räumte eine Stelle auf dem Boden frei, stellte in gebührendem Abstand von den Papyri meine Lampe auf und begann, Schriftrolle für Schriftrolle zu öffnen, nicht nur Teile der Heiligen Schrift und Texte aus der jüdischen Philosophie, sondern Werke von Platonikern, Stoikern und Pythagoräern, griechische Gedichte und sogar eine Komödie von Aristophanes. Dann ordnete ich die Manuskripte nach Themen. Bis zum späten Nachmittag hatte ich mehr als fünfzig Rollen kategorisiert und zu jeder eine kurze Beschreibung verfasst, so wie man es in der großen Bibliothek von Alexandria machte. Schließlich wischte ich den Boden und verstreute die Brösel von getrockneten Eukalyptusblättern in den Ecken. Gerade rieb ich mir den minzig-süßlichen Duft der Blätter von den Händen, als das Wunder geschah. Das Wunder, das sich schon den ganzen Tag angekündigt hatte, ohne dass ich es wusste.
Schritte. Ich drehte mich zur Tür. Und da, im gebrochenen Licht, stand Diodora.
»Du bist hier
«, sagte ich, weil ich das in Worte fassen musste, was ich sah, aber noch nicht glauben konnte.
»Ja, sie ist hier«, sagte Skepsis und trat hinter Diodora in den Raum. Ihre alten Augen funkelten vor Freude.
Ich zog meine Kusine an mich und spürte, dass ihre Wange feucht war. »Wie bist du denn hierhergekommen?«
Sie schaute Skepsis an, die eine Bank unter einem Tisch hervorzog und sich darauf sinken ließ. »Ich habe ihr eine Nachricht an die Isis Medica geschickt und sie gebeten, zu kommen.«
»Ich wusste nicht, was aus dir und meiner Mutter geworden war, bis ich ihren Brief bekam«, sagte Diodora, die immer noch meine Hand hielt. »Als ihr nicht mehr in die Isis Medica zurückgekehrt seid, ging ich davon aus, dass euch etwas zugestoßen war. Ich musste selbst kommen und mich vergewissern, dass es euch gut geht.«
»Wirst du lange bei uns bleiben?«
»Die Priesterin hat mich von meinem Dienst freigestellt, so lange ich es wünsche.«
»Du wirst bei Ana und Yaltha wohnen«, sagte Skepsis. »Das Schlafzimmer ist gerade breit genug für drei Nachtlager.« Sie schob sich ein paar entwischte Haarsträhnen hinters Ohr und betrachtete Diodora. »Ich habe dich hergeholt, damit du bei deiner Mutter sein kannst und sie bei dir, aber ich bat dich auch aus eigenem Interesse, hierherzukommen. Oder, genauer gesagt, im Interesse der Therapeutae. Wir brauchen dich hier. Einige unserer Mitglieder sind alt und krank, und es gibt niemanden, der sich ihrer annimmt. Du kennst dich mit Heilkunde aus. Wenn du bei uns bleibst, könnten wir aus deinen Fähigkeiten Nutzen ziehen.«
»Ihr wollt, dass ich bei euch lebe?«, fragte Diodora.
»Nur, wenn du dir ein ruhiges, beschauliches Leben wünschst. Nur, wenn du studieren und das Gedenken an Gott aufrechterhalten willst.« Es waren dieselben Worte, die sie am Abend unserer Ankunft zu Yaltha und mir gesprochen hatte.
»Aber euer Gott ist der Gott der Juden«, sagte Diodora. »Ich weiß
nichts über ihn. Ich diene Isis.«
»Wir werden dir alles über unseren Gott beibringen, und du uns alles über deine Göttin. Zusammen werden wir dann die Gottheit finden, die hinter ihnen steht.«
Diodora gab keine Antwort, doch ich sah, wie sich ihr Gesicht aufhellte.
»Weiß Yaltha, dass du hier bist?«, fragte ich.
»Noch nicht. Ich bin gerade erst angekommen, und Skepsis wünschte, dass du bei dem Wiedersehen dabei bist.«
»Ich wollte nicht, dass du Yalthas Gesichtsausdruck verpasst, wenn sie sieht, wer gekommen ist«, sagte Skepsis. Ihre Augen wanderten über die säuberlich gestapelten Schriftrollen. »Ich bete darum, dass wir bald eine Heilerin und
eine Bibliothekarin haben werden.«
YALTHA WAR IN DEM GÄRTCHEN
bei unserer Hütte auf der Bank eingeschlafen, den Kopf an die Wand gelehnt. Sie hatte die Arme über ihrer schmalen Brust gefaltet, und jedes Mal, wenn sie den Atem ausstieß, bebte ihre Unterlippe ein wenig. Als wir sahen, wie friedlich sie schlief, hielten Skepsis, Diodora und ich inne.
»Sollen wir sie wecken?«, flüsterte Diodora.
Entschlossen ging Skepsis zu Yaltha hinüber und rüttelte an ihrer Schulter. »Yaltha … Yaltha, da ist jemand.«
Meine Tante öffnete ein Auge. »Lass mich in Ruhe.«
»Was meinst du, Diodora?«, fragte Skepsis laut. »Sollen wir sie in Ruhe lassen?«
Yaltha zuckte zusammen und äugte an Skepsis vorbei zum Eingang, wo Diodora stand.
»Ich finde, wir sollten sie in Ruhe lassen«, sagte ich. »Schlaf ruhig weiter, Tante.«
Yaltha lächelte und bedeutete Diodora, näher zu treten und neben ihr auf der Bank Platz zu nehmen. Nachdem sie sich begrüßt hatten, winkte sie auch mich heran. Als ich mich auf der anderen Seite neben
ihr auf die Bank sinken ließ, sah sie Skepsis an. »Meine Töchter«, sagte sie.
22.
Diodora und ich folgten einem Fußpfad, der sich im Zickzackmuster bis hoch auf die Kalksteinklippen oberhalb des Grundstücks der Therapeutae wand. Sonnenlicht spielte auf dem Gipfel, und die Felsen schimmerten weiß wie Milch. Hier standen noch Mohnblumen, und während wir uns einen Weg durch ihre rote Pracht bahnten, war ich auf einmal von einem überschäumenden Gefühl der Freiheit erfüllt. Der Gedanke, ich könnte glücklich sein, obwohl Jesus so weit von mir weg war und ich nicht wusste, wie es ihm ging, gefiel mir nicht, und doch empfand ich es in diesem Moment – Glück. Kaum spürte ich es, stellten sich jedoch auch Schuldgefühle ein.
»Was ist mit dir? Du wirkst irgendwie gelöst«, sagte Diodora. Sie war darin ausgebildet worden, die körperlichen Regungen von Menschen zu beobachten, und ihr entging fast nichts.
»Ich habe an meinen Ehemann gedacht«, erwiderte ich. Ich erzählte ihr, wie wir voneinander getrennt worden waren, und wie sehr es mich schmerzte, dass er so weit weg war. »Ich warte immer noch auf einen Brief, der mir sagt, es sei ungefährlich für uns, zurückzukehren.«
Sie blieb abrupt stehen. »Uns?
Glaubst du denn, Yaltha wird mit dir zurückkehren?«
Ich starrte sie an, und um uns herum wurde es still. An dem Abend, als sie uns in Harans Haus aufgesucht hatte, war Diodora erschüttert gewesen, als Yaltha von ihrer Rückkehr nach Galiläa sprach, und hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie nicht vorhatte, mit uns zu kommen. Warum hatte ich überhaupt davon angefangen, dass wir möglicherweise bald abreisten?
»Ich weiß nicht, ob Yaltha gehen oder bleiben wird«, erwiderte ich, und dies entsprach auch der Wahrheit. Ich konnte es wirklich nicht
sagen.
Diodora wusste meine Aufrichtigkeit offenbar zu schätzen und nickte. Wir setzten unseren Weg in bedrückter Stimmung fort. Diodora erreichte die Anhöhe als Erste, und bei der Aussicht, die sich ihr bot, breitete sie begeistert die Arme aus. »Oh, Ana, schau doch nur!«
Ich beeilte mich, aufzuholen, und da lag es vor mir: das Meer. Eine gewaltige Wasserfläche, die sich bis nach Griechenland und Rom erstreckte, glitzernde Wogen in Blau und Grün, von weißer Gischt gekrönt. Mare Nostrum
, unser Meer, nannten es die Römer. Galiläa war eine Million Klafter entfernt.
Wir suchten uns eine windgeschützte Stelle und setzten uns, dicht aneinandergeschmiegt. Seit ihrer Ankunft war Diodora guter Dinge gewesen und hatte uns überschwänglich von ihrem Aufwachsen an der Isis Medica erzählt. Aber sie hatte auch Fragen gestellt und war begierig nach Geschichten von uns. Oft hatten wir uns bis spät in der Nacht auf unseren Matten im Flüsterton unterhalten, und es gab Tage, an denen ich gähnend und mit schweren Lidern meine Arbeit verrichtete. Doch das war es mir wert. Gerade erzählte sie mir von Theanus, der sich krankheitsbedingt nicht mehr um die Bibliothek kümmern konnte. »Er hat eine Herzschwäche. Sein Herz wird nicht mehr lange durchhalten.«
Während ich ihr lauschte, wie sie mir eine allzu genaue Schilderung der körperlichen Beschwerden gab, die sie sich jeden Tag anhörte, wurde mir bewusst, dass es allerhöchste Zeit für mich war, zurückzukehren und an meinem Loblied auf Sophia weiterzuschreiben. Die Nachtwache des neunundvierzigsten Tages würde morgen Abend stattfinden, und ich saß hier müßig auf einem Stein, während Diodora von Fußschwären sprach. »Eins überrascht mich«, sagte sie. »Nach all den Jahren, die ich an der Isis Medica verbracht habe, vermisse ich das Leben dort noch gar nicht.«
»Und was ist mit Isis? Vermisst du sie?«
»Es besteht für mich keine Veranlassung, sie zu vermissen. Ich trage sie in mir. Sie ist alles.« Diodora sprach noch einige Minuten weiter,
doch ich hörte nichts mehr von dem, was sie sagte. Ich spürte, wie das Lied, das ich schreiben würde, allmählich in mir Gestalt annahm. Auf einmal hielt mich nichts mehr an diesem Platz.
Ich stand auf. »Wir müssen gehen.«
Sie schlang die Arme um mich. »An dem Tag, als wir uns kennenlernten, sagtest du: ›Lass uns mehr als Kusinen sein. Lass uns Schwestern sein.‹ Möchtest du das immer noch?«
»Ich wünsche es mir mehr denn je.«
»Und ich wünsche es mir auch«, sagte sie.
***
WÄHREND WIR DEN PFAD HINABSTIEGEN
, erspähte ich eine Gestalt unter dem Eukalyptusbaum, dessen aromatische Blätter ich oft pflückte. Der Mann trug eine weiße Tunika und den zerschlissenen Umhang der Therapeutae, doch zunächst wusste ich nicht, wer es war. Als wir ein paar Schritte weitergegangen waren, hob ich die Hand zum Schutz vor der Sonne und sah, dass es der Spitzel Lucianus war.
»Es ist schon spät am Tag«, sagte er, als wir näher kamen. »Warum seid ihr nicht beim Studieren und Beten?«
»Das Gleiche könnten wir dich fragen«, entgegnete ich. Ich wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass er auf uns gewartet hatte.
»Ich saß hier zum Beten unter dem Baum.«
Jetzt regte sich auch bei Diodora der Stachel. »Und wir waren zum Beten oben auf den Klippen«, erwiderte sie. Ich warf ihr einen anerkennenden Blick zu.
»Die Felsen da oben sind gefährlich, und es gibt wilde Tiere«, sagte er. »Wir wären alle sehr traurig, wenn ihr zu Schaden kommen würdet.«
Aus seiner Miene sprach eine ruhige Gehässigkeit, und ich musste den Blick abwenden. Irgendwie hatte er uns gerade gedroht, doch ich wusste nicht genau, was er im Schilde führte. »Wir fühlen uns hier sicher genug«, sagte ich und versuchte, mich an ihm vorbeizudrängen. Diodoras Worte Sie ist alles
loderten in mir wie ein Feuer. Ich hatte keine Zeit für diesen Menschen.
Er trat uns in den Weg. »Wenn ihr spazieren gehen wollt, wäre es sicherer, den Hügel hinabzusteigen und entlang der Straße zum See zu gehen. An seinem Ufer gibt es verschwiegene Plätzchen, wo es genauso schön ist wie am Meer. Ich werde sie euch mit Freuden zeigen.«
Aha. Das war es. Der See lag unterhalb des Hügels und damit jenseits unseres Grundstücks. Der Schutz der Therapeutae galt dort nicht mehr.
»Der See klingt nach einem angenehmen Ort zum Beten. Wir werden ihn ein anderes Mal aufsuchen. Nun jedoch haben wir Pflichten, denen wir nachgehen müssen.«
Er lächelte. Ich lächelte zurück.
»Geh bloß nicht zum See«, sagte ich zu Diodora, als wir uns ein Stück entfernt hatten. »Das war gerade Lucianus, Harans Spitzel. Er will uns auf die Straße hinauslocken, wo die Miliz nur darauf wartet, uns festzunehmen. Der Junge, der uns das Salz bringt, hat gesagt, die Soldaten überprüfen jeden, der aus Richtung Westen vorbeikommt; sie halten nach einer alten Frau mit einem schlaffen Auge und einer jungen Frau mit wilden Locken Ausschau. Die könnten dich leicht mit mir verwechseln.«
Diodora wurde ernst, als sie das hörte.
Als wir an unserer Hütte ankamen, saß Yaltha an ihrem Lieblingsplatz im Garten und las in einem Kodex aus der Bibliothek. Kaum hatten wir sie erblickt, sagte Diodora leise zu mir: »Es geht nicht nur um die Frage, ob Yaltha lieber nach Galiläa geht oder in Ägypten bleibt, stimmt’s? Es geht darum, ob überhaupt jemand von uns hier wegkann.«
Sie hatte genau das ausgesprochen, was ich befürchtete.
ICH LIESS DIODORA UND YALTHA
im Garten zurück und wusch mir Hände und Gesicht, bevor ich den heiligen Raum betrat, um endlich das Loblied zu schreiben, das mir auf der Seele brannte. Ich stellte die Lampe auf den Tisch und goss Tinte in die Palette.
Dann tauchte ich meine Feder ein.
23.
Die Nachtwache des neunundvierzigsten Tages begann am darauffolgenden Tag bei Sonnenuntergang. Ich verspätete mich, und als ich den Speisesaal betrat, brannten die Lampen, und die Älteren lagen bereits auf ihren Sofas und speisten, während die Jüngeren mit Platten voller Essen umhergingen. Diodora stand hinter dem Serviertisch und füllte ein Tablett mit Fisch und Hühnereiern auf. »Schwester!«, rief sie, als ich näher kam. »Wo warst du denn?«
Ich hielt die Schriftrolle mit meinem Werk in die Höhe. »Ich habe meinem Loblied den letzten Schliff gegeben.«
»Lucianus hat schon gefragt, wo du bist. Er hat Skepsis zweimal auf dein Fehlen hingewiesen.«
Ich griff nach einer Servierschüssel mit Granatapfelkernen. »Gut zu hören, dass er mich vermisst.«
Sie lächelte und rollte über ihrer Servierplatte mit den Augen. »Die habe ich schon viermal nachgefüllt. Hoffentlich lassen sie uns auch einen Bissen übrig.«
Obwohl Yaltha auf eigenen Wunsch den Jüngeren angehörte, hatte Skepsis ihr gestattet, auf einem der Sofas zu lagern, die den Älteren vorbehalten waren. Lucianus erhob sich von seinem Platz und baute sich vor Skepsis auf. »Yaltha sollte uns zusammen mit den anderen Jüngeren aufwarten«, sagte er wütend und so laut, dass es im ganzen Saal zu hören war.
»Wut kommt von selbst, Lucianus, doch Freundlichkeit ist harte Arbeit. Versuch, dich anzustrengen.«
»Sie sollte überhaupt nicht hier sein«, beharrte er.
Skepsis winkte ab. »Lass mich in Frieden essen.«
Ich schaute zu Yaltha, die unbeirrt in ein Stück Rübe biss.
Als das Festmahl langsam zu Ende ging, machte sich die
Gemeinschaft auf den Weg zum anderen Ende des Raumes, wo eine halbhohe Trennwand mit Bänken auf beiden Seiten aufgebaut war. Hier nahmen Frauen und Männer getrennt voneinander Platz.
Ich setzte mich zusammen mit Yaltha und Diodora auf die letzte Bank. »Macht es euch gemütlich«, sagte Yaltha zu uns. »Ihr werdet für den Rest der Nacht hier sein.«
»Die ganze Nacht?«, rief Diodora aus.
»Ja, aber an Unterhaltung wird es nicht mangeln«, entgegnete Yaltha.
Skepsis, die sich uns von hinten genähert und unser Gespräch mit angehört hatte, sagte: »Unsere Zusammenkunft ist keine Unterhaltung – es ist eine Nachtwache. Wir verharren die ganze Nacht und warten auf das Morgengrauen, das für das wahre Licht Gottes steht.«
»Und davor singen wir uns in einen Rausch hinein«, sagte Yaltha.
»Ja, auch das stimmt«, gab Skepsis zu.
Skepsis begann die Messe mit einer längeren Ansprache, bei der mir nicht ganz klar war, worum es ging. Ich packte die Schriftrolle, auf der ich das Loblied verfasst hatte, mit beiden Händen. Auf einmal schien mir mein Lied viel zu gewagt.
Ich hörte, wie Skepsis meinen Namen sagte. »Ana … komm und trag uns dein Loblied auf Sophia vor.«
»Ich nenne mein Loblied ›Donner: Vollkommener Verstand‹, sagte ich zu ihr, als ich vor den anderen stand. Jemand schlug auf ein Tamburin. Als das Trommeln begann, hob ich meine Schriftrolle und trug mein Loblied auf Sophia vor.
Ich wurde ausgesandt aus der Kraft.
Seid nicht unwissend über mich.
Denn ich bin die Erste und die Letzte.
Ich bin die Geehrte und die Verachtete.
Ich bin die Hure und die Heilige.
Ich bin die Frau und die Jungfrau.
Ich bin die Mutter und die Tochter.
Ich hielt inne und betrachtete ihre Gesichter, sah eine Mischung aus Staunen und Verwirrung. Diodora hatte das Kinn auf die Hände gestützt und ließ mich nicht aus den Augen. Ein Lächeln huschte über Yalthas Gesicht. Ich spürte all die Frauen, die in mir lebten.
Und schaut nicht auf mich herab in dem Dreck,
und verlasst mich nicht, wenn ich ausgestoßen bin,
und ihr werdet mich in den Königreichen finden.
Und fürchtet euch nicht vor meiner Kraft!
Denn warum verachtet ihr meine Furcht
Und verflucht meinen Ruhm?
Ich aber bin die, die in jeglicher Furcht ist
Und die Stärke in einem Zittern.
Wieder hielt ich inne, um Luft zu holen. Die Worte, die ich gesungen hatte, kreisten wie ein Strudel über meinem Kopf. Ich fragte mich, woher sie gekommen waren. Und wohin sie gehen würden.
Ich, ich bin ohne Gott, und
ich bin die, deren Gott groß ist.
Ich bin das Wesen
Und die, die ohne Wesen ist …
Ich bin die Vereinigung und die Auflösung.
Ich bin das Verweilen, und ich bin das Lösen.
Ich bin das Hören, das für jeden erreichbar ist,
Und das Reden, das nicht fassbar ist.
Ich sang und sang, und als das Lied zu Ende war, ging ich langsam zu meinem Platz zurück.
Als ich an den Bänken vorbeikam, stand eine Frau auf, und dann eine weitere, bis am Ende alle standen. Ich schaute Skepsis unsicher an. »Sie wollen dir sagen, dass du Sophias Tochter bist«, teilte sie mir mit. »Sie sagen dir, dass sie sehr zufrieden sind.«
An den Rest der Nacht erinnere ich mich nur schwach. Ich weiß, dass wir ohne Unterlass sangen, zuerst die Männer, dann die Frauen, und dass wir dann einen gemeinsamen Chor bildeten. Die Sistren rasselten und die Ziegenledertrommeln lärmten. Wir tanzten und gaben vor, das Rote Meer zu überqueren, drehten uns links herum und rechts herum, erschöpft und berauscht zugleich, bis der Morgen kam, wir uns gen Osten wandten und dem Licht entgegenblickten.
24.
Eines Nachmittags gegen Ende des Winters betrat Skepsis unangekündigt meinen heiligen Raum. Sie hatte mehrere Lederstücke, Papyrus, einen Zollstock, Nadeln, Faden, Wachs und eine große Schere dabei. »Wir machen Kodizes aus deinen Schriftrollen«, sagte sie. »Als gebundenes Buch hat dein schriftstellerisches Schaffen weitaus größere Chancen, die Zeiten zu überdauern.«
Sie wartete gar nicht meine Zustimmung ab, die ich natürlich hundertfach gegeben hätte, sondern begann, die Utensilien zum Buchbinden auf dem Tisch auszubreiten. Die Schere sah genauso aus wie die, mit der ich Jesus die Haare geschnitten hatte, als ich ihm sagte,
dass ich ein Kind erwartete.
»Mit welchen Schriftrollen willst du denn beginnen?«, fragte sie.
Ich hörte sie, konnte jedoch den Blick von den langen Bronzeklingen der Schere nicht abwenden. Beim Gedanken an jenen Tag schlug mein Herz Purzelbäume in meiner Brust.
»Ana?«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu verscheuchen, holte die Schriftrollen, in denen ich die Geschichten unserer Stammmütter aufgezeichnet hatte, und legte sie auf den Tisch. »Ich möchte mit dem Anfang beginnen.«
»Schau genau zu und merk dir alles. Ich zeige dir beim ersten Buch, wie man es macht, doch den Rest musst du selbst binden.« Sie maß die Schriftrolle und das Leder für den Einband aus. Als sie mit dem Schneiden begann, schloss ich die Augen, denn es war alles immer noch da: das Klappern der Schere, das Gefühl seines Haares unter meinen Fingern.
»Siehst du, ich habe kein einziges Wort zerstört«, sagte sie, als sie fertig war; offenbar meinte sie, meine Sorge gelte ihrer Kunstfertigkeit beim Schneiden. Ich ließ sie in dem Glauben. Sie hielt eine leere Papyrusseite hoch und fügte hinzu: »Ich habe eine zusätzliche Seite geschnitten, damit du dem Werk einen Titel geben kannst.« Dann begann sie, die in den Ledereinband geschobenen Seiten zusammenzunähen.
»Und nun verrat mir, Ana«, sagte sie nach einer Weile. »Was bereitet dir Sorgen? Ist es Haran?«
Ich zögerte. Yaltha und Diodora hatte ich meine Ängste und Sehnsüchte anvertraut, doch Skepsis nicht. »Wenn der Frühling kommt«, sagte ich, »werden es zwei Jahre sein, seit ich meinen Mann zum letzten Mal gesehen habe.«
Sie lächelte milde. »Verstehe.«
»Mein Bruder hat mir versprochen, mich brieflich zu benachrichtigen, wenn es ungefährlich für mich ist, nach Galiläa zurückzukehren. Es gibt in Harans Haus eine Dienstbotin, die mir einen
solchen Brief bringen würde, doch Haran wird verhindern, dass ich gehen kann.«
Tatsächlich lag die jüdische Miliz nach all diesen Monaten immer noch auf der Lauer; ihr Lager war zu einem festen Posten geworden.
Skepsis war eifrig am Nähen; um die Nadel durch das Leder zu treiben, half sie mit einem kleinen Hammer nach. »Der Junge mit dem Salz hat mir erzählt, dass sich die Soldaten eine kleine Steinhütte gebaut haben, in der sie schlafen, ebenso einen Stall für eine Ziege, und dass sie eine Frau aus dem Dorf angeheuert haben, die für sie kocht. Das alles spricht Bände über Harans Geduld und seinen Rachedurst.«
All diese Dinge hatte ich schon von Yaltha gehört, doch sie wieder zu hören, stürzte mich umso mehr in Verzweiflung.
»Ich weiß nicht, warum der Brief immer noch nicht da ist«, sagte ich. »Aber ich habe das Gefühl, viel länger kann ich meine Zeit hier nicht mehr vertändeln.«
»Siehst du, wie ich den Rückstich durchfädele, um einen doppelten Knoten machen zu können?«, fragte Skepsis. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt wieder dem Buch. Ich sagte nichts mehr.
Als der erste Kodex fertig war, legte sie ihn mir in die Hände. »Wenn dein Brief kommt, werde ich alles tun, um dir zu helfen, damit du hier wegkannst«, sagte sie. »Aber es wird mich traurig machen, dich gehen zu sehen. Wenn dein Platz in Galiläa ist, dann sei es so. Du sollst nur wissen, wenn du hierher zurückkommen möchtest, ist immer ein Platz für dich frei.«
Sie ging. Ich schaute auf den Kodex hinab, diesen wundersamen Gegenstand.
25.
Dann kam ein milder Tag im Frühling. Ich hatte gerade die letzte Schriftrolle zu einem Buch gebunden, eine Aufgabe, der ich mich seit Wochen mit einer Dringlichkeit gewidmet hatte, die ich mir nicht
erklären konnte. Nun stand ich ganz allein im Haus vor dem Stapel Kodizes und betrachtete ihn. Vielleicht würden meine Worte ja tatsächlich die Zeiten überdauern.
Yaltha hatte das Haus verlassen, um in die Bibliothek zu gehen, und Diodora kümmerte sich um Theanus, der im Sterben lag. Skepsis hatte bereits angeordnet, für ihn einen Sarg zu schreinern – ein einfaches Behältnis aus Akazienholz. Als ich zuvor die Tiere getränkt hatte, war das beharrliche Hämmern aus der Schreinerwerkstatt deutlich zu hören gewesen.
Weil ich es kaum erwarten konnte, Diodora und Yaltha meine Sammlung von Kodizes zu zeigen, beeilte ich mich, eine letzte Aufgabe zu vollenden, bevor sie zurückkamen. Ich füllte Tinte in die Palette, begann, jeweils die erste leere Seite in den Kodizes mit einem Titel zu versehen.
Die Stammmütter.
Geschichten des Schreckens.
Phasaelis und Herodes Antipas.
Mein Leben in Nazareth.
Klagelied für Susanna.
Jesus, mein Liebster.
Yaltha aus Alexandria.
Chaya: Verlorene Tochter.
Das Leben bei den Therapeutae.
Donner: Vollkommener Verstand.
Mir fiel ein, dass Enheduanna ihren Namen unter ihre Werke gesetzt hatte, und so schlug ich die Bücher noch einmal auf und unterzeichnete sie mit dem Namen Ana. Nicht Ana, Tochter des Matthias,
oder Ana, Frau von Jesus
. Einfach nur Ana.
Nur einen einzigen Kodex unterzeichnete ich nicht. Als ich über Donner: Vollkommener Verstand
die Feder hob, stockte meine Hand. Die Worte in dem Buch stammten zwar von mir, doch gleichzeitig stammten sie auch von einer Kraft, die außerhalb meines Wesens lag. Ich klappte den Ledereinband wieder zu.
Ehrfurcht erfasste mich, als ich die Bücher in die Wandnische stellte und meine Zauberschale darüber. In diesem Moment, als ich einen Schritt zurücktrat und mein Werk bewunderte, kam Yaltha ins Zimmer.
Pamphile war bei ihr.
26.
Mein Blick fiel sofort auf den Ziegenlederbeutel in Pamphiles Hand. Sie hielt ihn mir wortlos hin. Ihre Miene war angespannt.
Ich nahm den Beutel entgegen und machte mich unbeholfen an dem Knoten in der Verschnürung zu schaffen; meine Finger fühlten sich so dick an wie Gurken. Als ich das Band endlich aufziehen konnte, spähte ich hinein. Der Beutel enthielt ein zusammengerolltes Pergament. Am liebsten hätte ich es auf der Stelle herausgeholt und gleich gelesen, doch ich band den Beutel lose wieder zu. Yaltha sah mich an; offenbar begriff sie, dass ich niemanden dabeihaben wollte, wenn ich das Schreiben las, nicht einmal sie.
»Vor drei Tagen kam ein Kurier mit dem Brief«, sagte Pamphile. »Sobald ich wegkonnte, habe ich mir einen Eselskarren gemietet. Apion denkt, dass ich meine Familie in Dionysias besuche. Ich habe ihm erzählt, mein Vater sei krank geworden.«
»Danke, Pamphile. Das hast du gut gemacht.«
»Das alles hast du Lavi zu verdanken«, erwiderte sie, und ihre Miene verhärtete sich. »Er ist derjenige, der darauf bestand, dass ich all die Monate bei Haran blieb und auf deinen Brief wartete. Ginge es nach mir, wäre ich schon lange dort weg. Ich glaube, mein Ehemann ist dir treuer ergeben als mir.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, aber wahrscheinlich hatte sie recht. »Geht es Lavi denn gut?«, fragte ich, um sie abzulenken.
»Er ist glücklich mit seiner Arbeit in der Bibliothek. Seine Vorgesetzten sind voll des Lobes für ihn. Ich gehe zu ihm, wann immer ich kann – mittlerweile hat er eine kleine Wohnung.«
Jeder Moment, in dem der Brief ungeöffnet blieb, war eine Qual, doch ich war es Pamphile schuldig, sie anzuhören.
»Hast du auf der Straße ein Fähnlein Soldaten gesehen, in der Nähe des Pförtnerhauses?«
»Ja, genau solche Soldaten habe ich auch bei Haran im Haus gesehen. Einer kommt einmal pro Woche zu ihm.«
»Weißt du, worüber sie sprechen?«, wollte ich wissen.
Sie starrte mich finster an. »Erwartest du etwa von mir, dass ich an Türen lausche?«
»Was ich will, ist, dass du nichts tust, was dich in Gefahr bringt.«
»Du solltest darauf vorbereitet sein, wenn du auf dem Rückweg wieder an den Soldaten vorbeikommst«, sagte Yaltha. »Für dich besteht keine Gefahr, doch sie überprüfen jeden, der nach Osten unterwegs ist, weil sie nach mir und Ana suchen. Man wird dich anhalten. Wenn sie nach uns fragen, sag ihnen, du wüsstest nichts, und dass du Papyrus verkaufen wolltest.«
»Papyrus verkaufen«, wiederholte sie und richtete ihren finsteren Blick wieder auf mich. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mehr für dich lügen soll.«
»Nur noch eine einzige Lüge, und bloß, wenn du gefragt wirst«, erwiderte ich.
»Ich will, dass das endlich vorbei ist«, sagte Pamphile bitter. »Jetzt, wo dein Brief da ist, wünsche ich mir nur noch, meinen Dienst bei Haran zu beenden und mit meinem Mann zusammenzuleben.«
Ich schloss die Finger fest um den Beutel mit dem Brief. Hab Geduld, Ana,
sagte ich mir. Du hast so lange gewartet – was sind da schon ein paar Minuten?
»Was gibt es Neues von Haran?«, wollte Yaltha wissen.
»An dem Morgen, als ihr gegangen wart, konnte man sein Geschrei im ganzen Haus hören. Er hat eure Zimmer wie eine Furie nach irgendwelchen Hinweisen durchsucht, wohin ihr gegangen sein könntet. Er zerriss Bettlaken und zertrümmerte Wassertöpfe. Und was glaubt ihr wohl, wer anschließend alles aufräumen und putzen musste? Ich natürlich. Auch das Skriptorium hat er verwüstet. Ich habe Schriftrollen am Boden gefunden, Tinte war verschüttet, ein Stuhl zerbrochen.«
»Hat er dich verdächtigt, uns geholfen zu haben?«, wollte ich wissen.
»Es kam ihm gut zupass, Lavi die ganze Schuld zu geben, aber mich und die anderen Dienstboten hat er trotzdem hart befragt. Selbst Thaddäus wurde nicht verschont.« Sie ballte die Fäuste und äffte Haran nach. »›Wie konnten sie denn fliehen? Haben sie sich einfach in Luft aufgelöst und sind unter der verschlossenen Tür hindurch entwischt? Oder sind aus dem Fenster geflogen? Wer von euch hat die Tür aufgesperrt?‹ Er hat gedroht, uns auspeitschen zu lassen. Nur durch Apions Eingreifen wurden wir verschont.«
Es war offensichtlich, wie sehr Pamphile unter Harans Dach seit der räumlichen Trennung von Lavi gelitten hatte. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Du bist uns eine tapfere und wahre Freundin gewesen.« Ich zog meine Bank zu ihr. »Hier, ruh dich aus. Ich bin gleich wieder da. Yaltha bringt dir Wasser und etwas zu essen. Du bleibst die Nacht über bei uns.«
Betont langsam verließ ich das Haus, ging an der Versammlungshalle und der Schreinerei vorbei, an mehreren Häuschen, dem Stall, und musste sehr an mich halten, um nicht in Laufschritt zu verfallen. Erst als ich den Eukalyptusbaum hinter mir gelassen hatte, beschleunigte ich meine Schritte und rannte den Steilhang zu den Klippen hoch.
Irgendwo auf halbem Wege fand ich einen Felsbrocken und setzte mich davor, den Rücken angelehnt, eine Stütze, die mir Kraft gab. Dann holte ich tief Luft, öffnete den Beutel und zog das Pergament heraus.
Liebste Schwester,
ich gehe davon aus, dass du mein voriges Schreiben bekommen hast, in dem ich dir erklärt hatte, es sei zu gefährlich für dich zurückzukehren.
Wie bitte? Judas hatte mir also schon einmal geschrieben – warum hatte ich diesen Brief nie bekommen?
Die Gefahr für dich in Galiläa ist noch nicht ganz vorüber, doch sie ist geringer geworden. Antipas geht ganz und gar in seinem Bestreben auf, durch Rom zum König der Juden ernannt zu werden.
Vergangene Woche durchquerten wir auf unserem Weg nach Jerusalem, wo wir über Pessach bleiben wollten, Judäa. Hier hat Antipas keine Macht. Komm auf dem schnellsten Wege zu uns. Nimm mit Lavi ein Schiff nach Joppa und begib dich nach Bethanien, wo wir bei Lazarus, Maria und Martha wohnen.
Das Reich Gottes ist nah. Große Menschenmengen in Galiläa und Judäa jubeln Jesus zu und feiern ihn als den neuen Messias. Er glaubt, die Zeit ist reif, und will dich deshalb an seiner Seite wissen. Er bat mich dringend, dir zu sagen, er sei in Sicherheit. Ich allerdings muss vor Gefahren warnen. Die Leute sind durch das Erscheinen eines Messias kühn geworden, es wird viel von einem Umsturz gesprochen. Jeden Tag unterrichtet Jesus im Tempel, und die jüdischen Behörden hetzen uns Spitzel auf den Hals, kaum dass wir die Tore durchschreiten. Wenn es zu Unruhen kommt, wird ihn die Tempelwache mit Sicherheit festnehmen. Jesus ist weiterhin der Ansicht, dass Gottes Reich ohne das Schwert
kommen kann, doch ich bin Zyniker und Zelot in gleichem Maße. Ich weiß nur, dass wir diesen Moment nicht verstreichen lassen dürfen. Wenn nötig, werde ich das, was ich tun muss, über Pessach tun, um dafür zu sorgen, dass die Massen sich erheben und die Römer endlich verjagen. Das Opfer eines Menschen für viele.
Während ich dies schreibe, sitze ich in Lazarus’ Hof, wo deine Freundin Tabitha auf der Lyra spielt und ihr die süßesten Klänge entlockt. Jesus ist auf den Ölberg gegangen, um zu beten. Er vermisst dich, Ana. Und er schickt dir all seine Liebe. Wir warten auf dich.
Dein Bruder
Judas
Am zehnten Tag des Schevat
Judas’ Worte waren wie ein Faustschlag. Wenn nötig, werde ich das, was ich tun muss, über Pessach tun … Das Opfer eines Menschen für viele.
Was meinte er damit? Was versuchte er mir zu sagen? Mein Atem ging plötzlich sehr schnell, als wäre ich eine weite Strecke gelaufen. Ich drehte das Pergament um, weil ich hoffte, Judas würde mit weiteren Erklärungen aufwarten, doch die Rückseite war leer.
Ich las den Brief noch einmal. Diesmal waren es andere Stellen, einzelne Worte, die mir ins Auge stachen. Er will dich an seiner Seite haben … Er schickt dir all seine Liebe … Er vermisst dich.
Wie hatte ich es nur diese zwei Jahre ohne ihn ausgehalten? Ich drückte den Brief an meine Brust und hielt ihn dort fest.
Rasch überschlug ich die Zeit. Judas hatte den Brief zu Beginn des Winters geschrieben; das war sieben Wochen her. Pessach in Jerusalem war in vierzehn Tagen. Ich schob das Pergament in den Beutel zurück und sprang auf. Ich muss nach Jerusalem, und zwar schnell.
27.
Yaltha stand allein im Garten. Ich drückte ihr den Brief in die Hand, ohne nach Pamphiles Verbleib zu fragen. Während meine Tante las, beobachtete ich ihr Gesicht und erkannte darin einen Hauch von Überraschung, als sie zum Ende des Briefes kam. »Dann wirst du also endlich zu deinem Mann zurückkehren«, sagte sie. Ich wartete, ob sie noch etwas anfügen würde, doch das war alles.
»Ich muss eine Möglichkeit finden, gleich morgen früh abzureisen.«
Würde sie Judas’ seltsame Bemerkung über die Massen, die er um jeden Preis zum Aufruhr anstacheln wollte, etwa nicht erwähnen? Hinter ihr schwand das Licht langsam dahin. Goldbraune Fünkchen schwebten weit entfernt über dem See. »Was meint mein Bruder, wenn er sagt, einer werde für viele geopfert?«, fragte ich. »Wovon spricht er?«
Ich sah, wie sie unter die Äste der Tamariske trat und nachdenklich wurde. Sie schien ihre Worte sehr genau abzuwägen, und das beunruhigte mich.
»Ich glaube, ich weiß schon, was er meint«, sagte ich leise. Ich wusste es bereits, bevor ich den Brief zu Ende gelesen hatte, doch ich konnte es mir noch nicht eingestehen. Es schien mir unmöglich, dass mein Bruder so weit gehen würde, doch als ich mit Yaltha dort unter dem Baum stand und mir den kleinen Jungen vorstellte, dessen Vater von den Römern ermordet und dessen Mutter in die Sklaverei verkauft worden war, den Jungen, der Rache geschworen hatte, da wusste ich – ja, so weit würde er gehen.
»Judas
«, zischte Yaltha. Aus dem Augenwinkel sah ich eine winzige grüne Eidechse, die die Steinmauer hochhuschte. »Ja, natürlich weißt du, was er meint. Du kennst ihn besser als jeder andere.«
»Bitte sprich du es aus. Ich kann es nicht.«
Wir nahmen auf der Bank Platz, und sie legte mir die Hand auf den Rücken. »Judas will unbedingt seinen Aufstand haben, Ana, und wenn Jesus ihn nicht mit friedlichen Mitteln herbeiführt, dann schreckt Judas nicht davor zurück, ihn mit Gewalt anzuzetteln. Und die Massen lassen sich am sichersten dadurch aufhetzen, dass ihr Messias von den
Römern hingerichtet wird.«
»Er wird Jesus an die Römer ausliefern«, flüsterte ich, und die Worte auszusprechen war, als stürzte ich über die Kante der Welt ins Nichts. Seit wir in Ägypten waren, hatte ich mir Tausende Tränen verkniffen, doch jetzt vergoss ich sie alle. Yaltha bettete meinen Kopf an ihre Schulter, damit ich mir alles vom Leibe schluchzen konnte – meine Angst, meine Hilflosigkeit, meine Wut.
Es war wie eine kleine Sintflut, die mehrere Minuten andauerte, doch dann überkam mich auf einmal eine große Ruhe. »Warum sollte Judas so unverfroren sein, ausgerechnet mir zu verraten, was er vorhat?«
»Das ist schwer zu sagen. Vielleicht wollte er sich von seinen Schuldgefühlen erleichtern, indem er dir dieses Geständnis machte.«
»Wenn es darum geht, die Römer aus unserem Land zu verjagen, gibt es für Judas keine Schuldgefühle.«
»Möglicherweise sammelt er gerade seinen ganzen Mut, die Sache auch durchzuziehen. Wie jemand, der seine Geldbörse über eine Mauer wirft, weil er weiß, er wird hinterherklettern.«
Sie bemühte sich, meinem Wunsch nach ein wenig Verständnis für Judas’ verdrehten Plan nachzukommen, doch es war ein sinnloses Unterfangen. »Ich werde das alles nie verstehen«, sagte ich. »Außerdem ist es jetzt sowieso egal. Wichtig ist nur, dass ich nach Jerusalem komme.« Ich stand auf und spähte über die Mauer, die zur Straße hin lag, denn dort lauerte ein weiterer Grund für meine Ängste – Haran und seine Soldaten.
In genau diesem Moment traten Skepsis und Diodora in den Garten. »Theanus ist gestorben«, verkündete Skepsis. »Diodora und ich sind gerade mit den Vorbereitungen für das Begräbnis fertig …«
»Ist etwas passiert?«, unterbrach Diodora sie, weil sie meine geröteten Augen bemerkt hatte. Vielleicht lagen Bedrohung und Anspannung auch einfach in der Luft.
Ich nahm Judas’ Brief zur Hand und las ihn den beiden vor, versuchte dann, ihnen zu erläutern, worin genau sein Plan bestand. Diodora, die nichts von jüdischen Messiassen und radikalen Zeloten wusste, schaute
mich verwirrt an und schloss mich in die Arme. »Ich freue mich für dich, dass du deinen Mann wiedersehen wirst, aber es macht mich auch traurig, dass du uns verlassen wirst.« Sie wandte sich an ihre Mutter. »Wirst du auch gehen?« Sie fragte es ohne Wertung, doch man sah ihr an, wie groß ihre Angst war.
»Ich bleibe hier«, sagte Yaltha und schaute an Diodora vorbei mich an. »Nun, da ich Diodora gefunden habe, kann ich sie nicht wieder verlassen. Langsam werde ich sowieso zu alt für eine solche Reise, und Ägypten ist meine Heimat. Ich bin zufrieden hier bei den Therapeutae. Ich werde es sehr bedauern, von dir getrennt zu sein, Ana, aber ich kann nicht von hier weg.«
Ich spürte, wie etwas in mir zerbrach, ließ mir aber meine Enttäuschung nicht anmerken. »Das verstehe ich, Tante«, sagte ich. »Deine Entscheidung ist vollkommen richtig.«
Diodora war so rücksichtsvoll, ihre Freude nicht zu zeigen. Wir ließen uns um den Lichtkreis der Lampe nieder, und ich stellte die Frage, die wie ein Damoklesschwert über allem schwebte. »Wie schaffe ich es an den Soldaten vorbei?« Ich blickte in ihre Gesichter – ich hatte keine Antwort auf diese Frage. Und sie ebenso wenig.
»Gibt es keine andere Möglichkeit, von hier wegzukommen, als über die Straße, die von den Soldaten überwacht wird?«, wollte Diodora wissen. »Zum Beispiel irgendeinen Fußweg, der an ihnen vorbeiführt?«
Skepsis schüttelte den Kopf. »Wir sind auf allen Seiten von Klippen umgeben. Die Straße ist unsere einzige Möglichkeit, und die Miliz ist so nah beim Pförtnerhaus postiert, dass sie niemanden, der hier ein- und ausgeht, übersehen kann.«
»Und wenn du dich irgendwie verkleidest?«, fragte Diodora. »Als alte Frau zum Beispiel? Du könntest deinen Kopf verhüllen und eine Krücke benutzen.«
»Ich bezweifele, dass man sie damit übertölpeln könnte«, sagte Yaltha. »Das ist viel zu riskant. Aber …«
Ich bedeutete ihr ungeduldig, weiterzusprechen. »Ja? An was denkst du? Wir müssen alles in Erwägung ziehen.«
»Pamphile fährt morgen ab. Das Fuhrwerk, in dem sie gekommen ist, ist so groß, dass du dich hinten verstecken könntest.« Sie blickte zu Skepsis und hob, etwas ratlos, die Schultern. »Was, wenn wir sie unter den Säcken mit Gemüsesaatgut verstecken?«
»Die Soldaten überprüfen jeden Wagen, der Mehl oder Salz bringt«, sagte Skepsis. »Sie würden also auch Pamphiles Wagen durchsuchen.«
Alle wurden still. Eine dünne, graue Hoffnungslosigkeit lag auf einmal in der Luft. Es war richtig, dass ich nicht mehr an den rettenden Gott glaubte – wenn auch an seine Gegenwart –, doch ich glaubte auch an Sophia, die mir Tag und Nacht Unerschrockenheit und Weisheit einflüsterte, wenn ich ihr denn zuhörte, und genau das versuchte ich jetzt: ihr zuzuhören.
Doch was ich hörte, war ein Hämmern. Ganz leise, aber doch so deutlich, dass ich einen Moment lang glaubte, Pamphile sei aufgewacht und klopfe von innen an die Tür des Hauses. Die Erkenntnis, dass das in meinem Kopf widerhallende Geräusch in Wirklichkeit eine Erinnerung war, überraschte mich, doch ich wusste sofort, um welche Erinnerung es sich handelte. Ich hatte das Klopfen heute Morgen gehört, als ich die Tiere tränkte. Das Hämmern war aus der Schreinerwerkstatt gekommen, wo man Theanus’ Sarg zimmerte.
Plötzlich wurde aus dem Geräusch eine Idee. »Es gibt eine Möglichkeit, hier unbemerkt hinauszukommen, und das ist in Theanus’ Sarg«, sagte ich.
Sie starrten mich alle verständnislos an.
»Ich müsste nicht lange in dem Sarg bleiben, nur bis Pamphile den Wagen weit genug von den Soldaten weggefahren hat. Ich würde jedes Risiko eingehen, um zu Jesus zu gelangen, doch das hier stellt die geringste Gefahr für mich dar. Den Soldaten würde es nie in den Sinn kommen, den Sarg zu öffnen.«
»Das stimmt«, sagte Diodora. »Die Störung der Totenruhe ist ein ernst zu nehmendes Vergehen. Man kann zum Tode verurteilt werden, wenn man ein Grab öffnet.«
»Und für Juden ist eine Leiche unrein«, fügte ich hinzu. Ich
versuchte, aus Yalthas Miene schlau zu werden, doch ihr Blick war unergründlich. »Ich glaube, die Idee ist so tollkühn, dass sie aus genau diesem Grunde klappen könnte«, fuhr ich fort. »Siehst du das anders, Tante?«
Sie sagte: »Ich finde die Idee, dass du in Theanus’ Sarg von hier verschwindest, ebenso absurd wie einfallsreich, Kleiner Donner.«
Ich schaute sie mit großen Augen an. Niemand außer Jesus hatte mich jemals Kleiner Donner genannt, doch dass sie es jetzt tat, verstand ich als Aufforderung zum Handeln. Lass Wolken sich zusammenbrauen, geh Blitze schleudern und reiß den Himmel auf, dass es nur so kracht!
»Na dann«, sagte sie, »überlegen wir mal gemeinsam, wie du diese wahnsinnige Tat vollbringen willst.«
Wir alle wandten uns betont Skepsis zu, die die blauen Adern auf ihren Handrücken studierte. Nichts von alldem konnte ohne sie vonstattengehen. Schließlich schlug ich nicht nur vor, mir Theanus’ Sarg zu eigen zu machen – es bedurfte auch eines zweiten Sarges, der rasch gezimmert werden musste. Und wenn Skepsis tatsächlich bei der Täuschung mit von der Partie war, würde sie die gesamte Gemeinschaft an der Nase herumführen müssen.
»Lucianus ist unsere größte Sorge«, sagte sie. »Wenn er Verdacht schöpft, dass nicht Theanus in diesem Sarg liegt, wird er sofort die Soldaten benachrichtigen, und dann wird Ana ganz gewiss entdeckt.« Sie verstummte, dachte nach. Als sie das Gesicht hob, funkelten ihre Eulenaugen. »Eigentlich wollte Theanus auf dem Gelände hier begraben werden, doch ich werde das Gerücht in die Welt setzen, er habe den Wunsch geäußert, im Grab der Familie in Alexandria beigesetzt zu werden. Das ist nicht unüblich bei unseren wohlhabenderen Mitgliedern. Natürlich ist Theanus’ Familie nicht reich, aber für eine Backsteingruft dürfte es reichen, da bin ich mir sicher. Ich werde herumerzählen, die Dienstbotin, die den Brief gebracht hat – wie hieß sie doch gleich?«
»Pamphile«, antwortete ich, erstaunt über die Vielschichtigkeit des
Plans, den Skepsis da ausheckte. Ich selbst hatte bis dahin noch gar nicht an Lucianus gedacht.
»Ich werde erklären, Pamphile sei von Theanus’ Familie geschickt worden, um seine Leiche nach Alexandria zu bringen. Damit ist die Sache erledigt.«
»Und es wird auch die Belagerung unseres Tores durch die Soldaten beenden«, sagte Yaltha. »Wenn Ana nicht mehr da ist, sind sie nicht mehr nötig.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Diodora und schaute Yaltha an. »Haran will dich doch bestimmt immer noch festnehmen lassen.«
Skepsis hob einen Finger. Ich wusste, das war ein gutes Zeichen. »Wenn Ana weg ist, werde ich der Gemeinschaft mitteilen, sie sei zu ihrem Ehemann nach Galiläa zurückgekehrt, und Yaltha habe das Gelübde abgelegt, für immer Mitglied der Therapeutae zu sein. Es wird nicht lange dauern, bis Lucianus diese Nachricht an Haran weitergibt. Ich glaube, Haran wird erleichtert sein, endlich einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit ziehen zu können.«
»Zumindest wird mein Bruder froh sein, die Soldaten nicht mehr aus seinem eigenen Geldsäckel bezahlen zu müssen. Der einzige Grund, warum er die Überwachung so lange aufrechterhalten hat, ist, dass es nicht so aussehen sollte, als würde er einen Rückzieher machen.«
Ich bewunderte den schlauen Plan, den Skepsis vorgelegt hatte, fürchtete aber in gleichem Maße, er könnte scheitern.
»Was machen wir denn in der Zwischenzeit mit dem armen Theanus?«, fragte Diodora.
»Das ist einfach. Wir verstecken ihn in seinem Haus, bis Ana weg ist«, sagte Skepsis. »Dann bekommt er von uns dreien sowie Gaius, unserem Zimmermann, ein anständiges Begräbnis, ohne dass Lucianus etwas davon erfährt.«
In meinen Ohren klang das alles andere als einfach.
»Und ist Gaius vertrauenswürdig?«, wollte Yaltha wissen.
»Gaius? Voll und ganz. Ich werde ihn gleich bitten, noch heute Nacht einen zweiten Sarg zu zimmern und in einen von beiden zwei kleine
Atemlöcher zu bohren.«
Bei dieser Erwähnung lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich stellte mir vor, wie eng es in einem solchen Sarg war, wie wenig Luft man bekam, und fragte mich zum ersten Mal, ob ich diese Sache überhaupt durchstehen konnte.
»Die Gemeinschaft wurde für morgen früh gleich nach Sonnenaufgang zusammengerufen, um die Gebete für den Verstorbenen zu sprechen«, sagte Skepsis. »Du solltest auch dabei sein, Ana.«
»Und wann kommt sie in den Sarg?«, fragte Diodora. Ihre Augen waren riesig und blickten voller Sorge. Vielleicht ging ihr ja auch gerade durch den Kopf, wie eng und stickig es dort drinnen war.
»Nach den Gebeten wirst du, Ana, heimlich in die Werkstatt gehen und dich in den Sarg legen, den Gaius zunageln wird. Vier kurze Nägel, nicht mehr. Ich werde ihn anweisen, für Pamphile eine Ahle in das Fuhrwerk zu legen, aber auch eine in den Sarg, damit du den Deckel zur Not selbst öffnen kannst. Dann werden er und sein Gehilfe den Sarg auf den Wagen legen. Ich sorge in der Zwischenzeit dafür, dass Lucianus beschäftigt ist.«
Yaltha streckte mir ihre knotigen Hände hin, und ich ergriff sie. »Ich gehe mit Ana in die Werkstatt, damit alles nach Anweisung geschieht«, sagte sie.
Ein Geräusch kam aus dem Inneren des Hauses. Pamphile rief: »Yaltha? Ana?«
Ich sah zum Haus. »Ich denke, die allergrößte Gefahr ist, dass sich Pamphile weigert, den Sargdeckel zu öffnen!«
Yaltha lachte. Sie war die Einzige, die meinen bitteren Scherz verstand.
28.
Zunächst schien Pamphile mit unserem wohldurchdachten Plan
einverstanden zu sein, doch als ich ihr sagte, Lavi müsse mich auf meiner Reise nach Judäa begleiten, schob sie wie ein trotziges Kind die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann mache ich es nicht.«
Hinter mir hörte ich, wie Yaltha, Skepsis und Diodora gleichzeitig seufzten. In der vergangenen halben Stunde hatten sie mich nach Kräften unterstützt und wie ein kleiner griechischer Chor mit mehrfachen Wiederholungen und einträchtigem Seufzen meinen Versuch begleitet, Pamphile davon zu überzeugen, sich unserer List anzuschließen. Wir hatten uns alle zusammen in den heiligen Raum gezwängt, es roch intensiv nach dem Palmöl der Lampen. Yaltha hatte die Tür zum Garten offen gelassen, aber es war dennoch stickig. Ein Rinnsal aus Schweiß lief zwischen meinen Brüsten hinab.
»Bitte, Pamphile«, flehte ich. »Das Leben meines Mannes könnte von deiner Antwort abhängen. Ich muss unbedingt nach Jerusalem, um meinen Bruder aufzuhalten.«
»Ja, das sagtest du.«
Sie genießt es,
dachte ich, die Macht, die sie auf einmal hat.
»Es ist für mich zu gefährlich, allein zu reisen«, sagte ich, doch die Worte waren schwer wie Stein in meinem Mund. »Ohne Lavi kann ich nicht fahren!«
»Dann musst du eben jemand anderen finden«, sagte sie.
»Es gibt
niemand anderen.«
»Wir müssen das jetzt schnell klären«, warf Skepsis ein. »Wenn du in dem Sarg hier raus willst, dann muss ich Gaius sogleich Bescheid geben. Und Pamphile muss mit mir kommen und bei mir im Haus übernachten. Sonst wird sich noch irgendjemand fragen, warum eine Dienerin aus Theanus’ Familie ausgerechnet bei dir wohnt.«
Ja, bitte, nimm sie mit.
Ich machte noch einen Versuch. »Wenn du dir Sorgen machst, Lavi könnte nicht nach Alexandria zurückkehren, versichere ich dir, dass ich genug Geld habe, um ihm die Überfahrt zu bezahlen. Ich kann es dir zeigen, wenn du willst.«
»Ich will dein Geld nicht sehen. Ich vertraue darauf, dass du ihn zurückschickst.«
»Was ist es dann?«, fragte Diodora.
Pamphiles Augen wurden schmal. »Ich habe wegen dir bereits fünf Monate ohne meinen Mann verbracht. Ich habe nicht vor, dies noch länger zu tun.«
Ich wusste einfach nicht, wie ich zu ihr durchdringen sollte. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Mann. Wie konnte ich ihr das zum Vorwurf machen? Hilflos blickte ich zu Yaltha, die an mir vorbeiging und näher an Pamphile heranrückte, offenbar, um einen letzten Versuch zu unternehmen. Ich erinnere mich noch, gedacht zu haben: Da ist sie, die Stelle, an der sich Fluss gabelt.
Und ich hatte das Gefühl, jetzt würde sich mein Leben entscheiden. Der Fluss würde in die eine Richtung fließen oder in die andere.
Yaltha sprach mit ungewohnter Sanftheit. »Wusstest du, dass Ana schon zwei Jahre von ihrem Mann getrennt ist?«
Da sah ich es – Pamphiles Miene wurde weich.
»Es tut mir leid, dass du all die Monate von Lavi getrennt warst«, sagte ich zu ihr. »Ich weiß, wie weh das tut. Ich weiß, wie es ist, im Bett zu liegen und sich nach seinem Mann zu verzehren, aufzuwachen und zu wissen, dass er nicht da ist.« Selbst als ich diese Worte sprach, spürte ich, dass Jesus sich nur am Rande meines Bewusstseins bewegte, wie ein verlorener Traum.
»Wenn Lavi mit dir ginge, wie lange wäre er dann weg?«, fragte sie.
Ein Funke Hoffnung. »Drei Wochen vielleicht. Nicht länger.«
»Und was wird aus seiner Stellung an der Bibliothek? Werden sie ihn zurücknehmen?«
»Ich führe eine Korrespondenz mit einem Gelehrten dort«, sagte Skepsis. Sie klopfte ungeduldig mit dem Finger auf den Tisch. »Ich werde dafür sorgen, dass deinem Mann Urlaub gewährt wird.«
Pamphile ließ die Arme sinken. »Dann sei es so, wie du wünschst«, sagte sie.
***
IN JENER NACHT TAT ICH KEIN AUGE ZU,
nicht einmal Yalthas Kamillentee half. Meine Gedanken kreisten. Mitten in der Nacht stand ich von meiner Matte auf und stahl mich an Diodora und Yaltha vorbei, die leise Schlummergeräusche von sich gaben.
Als ich in dem abgedunkelten heiligen Raum stand, wurde mir bewusst, dass mein Aufenthalt bei den Therapeutae sich dem Ende zuneigte. Mein großer Reisebeutel aus Wolle lag auf dem Tisch, prall gefüllt. Diodora und Yaltha hatten mir schweigend dabei zugesehen, wie ich ihn packte. Er enthielt das Täschchen mit meinem roten Faden, Judas’ Brief, das Mumienporträt, Geld, zwei Tuniken, einen Umhang und Unterwäsche. Das neue schwarz-rote Kleid aus Alexandria hatte ich Diodora überlassen. Ich hatte keine Verwendung mehr dafür.
Der Anblick meiner zehn Kodizes, die zu einem hübschen schiefen Turm in einer Nische gestapelt waren, mit der Zauberschale obendrauf, war kaum zu ertragen. Es war nicht möglich, sie mitzunehmen. Ich hätte mir eine zweite Tasche besorgen und fünf, vielleicht sechs Kodizes hineinzwängen können, doch ich empfand den unerklärlichen Wunsch, die Schriftstücke nicht voneinander zu trennen, sondern zusammenzulassen. Und ich wollte sie hier haben, bei den Therapeutae, wo man sie lesen und erhalten und vielleicht sogar wertschätzen würde. Langsam bewegte ich mich durch den Raum und nahm von allem Abschied.
Yalthas Stimme kam von der Tür. »Ich werde auf deine Worte aufpassen, solange du weg bist.«
Ich wandte mich zu ihr um. »Wahrscheinlich kehre ich nie wieder zurück, Tante. Das weißt du.«
Sie nickte und nahm das, was ich gesagt hatte, hin, ohne es infrage zu stellen.
»Wenn ich weg bin, stell meine Schriften zu den anderen Manuskripten in die Bibliothek«, sagte ich. »Ich bin jetzt bereit dafür, dass andere sie lesen.«
Sie trat zu mir. »Erinnerst du dich noch an jenen Tag in Sepphoris, als du deine Zedernholztruhe geöffnet und mir zum ersten Mal gezeigt hast, was du geschrieben hattest?«
»Ich habe es nicht vergessen und werde es nie vergessen«, sagte ich.
»Du warst damals schon ein Mensch, mit dem man rechnen musste. Vierzehn Jahre warst du alt, und voller Widerspenstigkeit und Sehnsüchte. Du warst das störrischste, entschlossenste, ehrgeizigste Kind, das ich jemals erlebt hatte. Als ich sah, was in deiner Zederntruhe war, wusste ich es.« Sie lächelte.
»Was wusstest du?«
»Dass da auch diese Weite in dir war. Ich wusste, dass du über einen solchen Reichtum an Möglichkeiten verfügtest, wie es ihn nur selten auf der Welt gibt. Auch du wusstest das, denn du schriebst es in deine Schale. Aber wir haben alle eine solche Weite in uns, nicht wahr, Ana?«
»Was meinst du damit, Tante?«
»Was dich von allen anderen unterscheidet, das ist dein Geist, der aufbegehrt und beharrt. Es ist nicht die Weite in dir, die den Unterschied macht, sondern deine Leidenschaft, sie zum Vorschein zu bringen.«
Ich schaute sie an, konnte jedoch nichts sagen. Stattdessen fiel ich vor ihr auf die Knie; ich weiß nicht, warum, vielleicht hatten mich ihre Worte einfach überwältigt.
Sie legte die Hand auf meinen Kopf. »Meine eigene Weite bestand darin, deiner Weite den Segen zu geben.«
29.
Der Sarg stand mitten in der Zimmermannswerkstatt auf dem Boden und roch nach frisch geschlagenem Holz. Yaltha, Diodora und ich hatten uns daneben versammelt und blickten ernst in das noch leere Innere.
»Betrachte ihn einfach nicht als Sarg«, riet mir Diodora.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Gaius. »Jetzt, wo die Gebete für Theanus vorüber sind, stellen sich die Mitglieder der Gemeinschaft am Pfad auf, um das Fuhrwerk mit dem Sarg bis zum Tor zu begleiten. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass jemand vorbeikommt und dich hier stehen sieht. Schnell jetzt.« Er fasste mich am Ellbogen, als ich in den Sarg stieg. Einen Augenblick lang stand ich da, bevor ich mich setzte, weil es mir nicht gelang, diese Holzkiste als etwas anderes zu sehen als das, was sie war. Besser, überhaupt nicht zu denken, schärfte ich mir ein.
Diodora beugte sich zu mir herab und küsste mich auf beide Wangen. Dann kam Yaltha. Als sich meine Tante über mich beugte, versuchte ich, mir ihr Gesicht einzuprägen. Gaius legte meinen Reisebeutel zu meinen Füßen und drückte mir die Ahle in die Hand. »Halt sie gut fest.« Ich legte mich zurück und schaute in den hellen Raum empor. Dann schloss sich der Deckel über mir. Dunkelheit.
Der Sarg bebte, als Gaius die vier Nägel hineintrieb, und mein Kopf schlug gegen den Boden des Sarges. In der Stille, die folgte, wurde ich zweier winziger Lichtstrahlen gewahr, die ins Innere hereinfielen. Sie erinnerten mich an die feinen Fäden eines Spinnennetzes, auf denen das Sonnenlicht und ein paar Tautropfen funkeln. Als ich den Kopf drehte, sah ich jeweils eine kleine Öffnung an beiden Sargwänden. Durch diese Löcher würde ich atmen.
Ruckartig wurde der Sarg angehoben. Weil ich darauf nicht vorbereitet war, stieß ich einen kleinen Schrei aus. »Du musst dich schon stiller verhalten«, sagte Gaius. Seine Stimme klang, als käme sie von weit weg.
Während sie mich nach draußen trugen, machte ich mich auf weitere Erschütterungen gefasst, doch der Sarg glitt geschmeidig auf die Ladefläche des Fuhrwerks. Ich konnte nicht sagen, wann Pamphile hinaufkletterte, oder ob sie bereits da war, aber ich hörte den Esel schreien und spürte, wie der Karren ruckelnd anzog und wir den Hügel hinabfuhren.
Ich schloss die Augen, um den Sargdeckel nicht zu sehen, der kaum
mehr als eine Handbreit von meiner Nase entfernt war. Stattdessen lauschte ich dem Rumpeln des Wagens und dann dem gedämpften Gesang der Trauergemeinde, die sich in Bewegung setzte, um uns zu folgen. Nicht denken. Nicht denken. Bald ist es vorbei.
Als wir scharf nach Norden abbogen, verhallte das Singen langsam in der Ferne, und ich wusste, dass wir am Pförtnerhaus vorbei und auf der Straße waren. Momente später schrie einer der Soldaten: »Halt!«, und die Räder des Karrens kamen knirschend zum Stehen. Mein Herz pochte so laut, dass ich mir sicher war, man könne es durch die Atemlöcher hören. Ich hatte Angst zu atmen.
»Man hat uns gesagt, bei den Therapeutae ist ein Mann verstorben«, wandte sich der Soldat an Pamphile. »Wohin bringst du ihn?«
Ihre Antwort war schwer zu hören. »Zu seiner Familie in Alexandria«, glaubte ich zu verstehen.
Erleichterung durchströmte mich, denn ich dachte, nun würde man uns bestimmt durchwinken, doch der Karren bewegte sich nicht. Stattdessen kamen die Stimmen der Soldaten immer näher und schienen sich zum hinteren Teil des Gefährts zu bewegen. Panik machte sich in mir breit. Ich klappte die Augen auf, sah den Sargdeckel direkt über mir. Ich holte tief Luft und schloss sie wieder. Nicht bewegen. Nicht denken.
Wir blieben endlos lange stehen, aus Gründen, die sich mir nicht erschlossen. Dann hörte ich einen von ihnen sagen: »Da hinten ist nichts außer dem Sarg.«
Plötzlich fuhr der Karren an.
Wir rumpelten weiter und weiter auf der holprigen Straße entlang, viel länger, als es nötig schien. Pamphile war angewiesen worden, den Wagen sofort anzuhalten, sobald die Soldaten außer Sicht waren, bevorzugterweise auf einem Stück Straße, das verlassen war, und mich aus meinem hölzernen Gefängnis zu befreien. Die Hitze im Sarg wurde immer unangenehmer. Ich nahm die Ahle und klopfte damit seitlich an den Sarg. Ich konnte nicht wissen, ob irgendwelche Leute in der Nähe waren, aber das war mir gleichgültig. Ich schob das spitze Ende der
Ahle unter den Sargdeckel und versuchte, ihn aufzustemmen, doch es war nicht genug Platz, um meine Arme als Hebel einzusetzen. Ich klopfte noch fester an die Seite des Sarges. »Pamphile!«, rief ich. »Bleib jetzt stehen und lass mich raus!«
Der Karren fuhr noch ein paar Minuten weiter, bevor sie ihn endlich zum Stehen brachte.
Ich hörte Holz splittern, als sie die Ahle unter den Deckel schob und den Sarg öffnete. Blendendes Sonnenlicht flutete herein.
***
AM FÜNFTEN TAG DES MONATS NISAN
gingen Lavi und ich an Bord eines Schiffes nach Judäa.