1.
Als Lavi und ich die Ausläufer von Jerusalem erreichten, kamen die Hänge des Kidron-Tales in Sicht, an denen Tausende Lagerfeuer von Pilgern brannten. Blasser Rauch stieg wie ein Trichter zum Nachthimmel empor, es duftete nach gebratenem Lamm. Es war der dreizehnte Tag des Nisan. Pessach.
Ich hatte gehofft, das Haus von Lazarus, Maria und Martha vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, früh genug, um das Festmahl zusammen mit Jesus einnehmen zu können. Ich seufzte. Mittlerweile würde es längst vorüber sein.
Lavi und ich hatten eine qualvolle Verzögerung nach der anderen erleiden müssen. Zuerst hatten uns auf See die Winde im Stich gelassen und die Ankunft unseres Schiffes verzögert. Dann, während unseres Fußmarsches nach Joppa, stellte es sich als schwierig heraus, aufgrund der Massen, die unterwegs waren, etwas zu essen zu finden, weshalb wir uns gezwungen sahen, Abstecher zu abgelegeneren Dörfern zu machen, um Brot und Käse zu kaufen. In Lydda waren wir stundenlang von römischen Soldaten aufgehalten worden, die auf der verstopften Straße nach Jerusalem versuchten, Passanten zu überprüfen.
Den ganzen Weg über hatte ich mir zurechtgelegt, was ich zu Judas sagen würde, und mir immer wieder selbst versichert, er würde mich schon anhören. Ich war seine kleine Schwester; er liebte mich. Er hatte versucht, mich vor der Ehe mit Nathaniel zu retten. Und er hatte meine Nachricht an Phasaelis überbringen lassen, obwohl er selbst dagegen war. Ja, er würde mich anhören, und ich würde ihn von diesem Wahnsinn abbringen können, der unweigerlich dazu führen würde, dass er Jesus verriet.
Als ich meinen Blick über die Hügel schweifen ließ, war diese Furcht so groß und bedrängend, dass es mir fast den Atem nahm.
»Musst du dich ausruhen?«, fragte Lavi. »Wir sind schon seit
Morgengrauen auf den Beinen.«
»Mein Mann und mein Bruder sind irgendwo da drüben, jenseits des Tales«, erwiderte ich. »Ich werde mich ausruhen, wenn ich bei ihnen bin.«
Das letzte Stück bis Bethanien legten wir schweigend zurück. Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich begonnen, zu laufen.
»Im Hof brennt noch Licht«, sagte Lavi, als wir das Haus von Jesus’ Freunden erreichten, die jetzt auch meine Freunde waren. Lavi klopfte ans Tor und rief, Ana, Jesus’ Frau, sei gekommen.
Ich hatte erwartet, Jesus würde herbeieilen und uns hereinlassen, doch an seiner Stelle kam Lazarus. Er sah gut aus, längst nicht mehr so gelblich und bleich wie bei unserer letzten Begegnung. Er gab mir einen Kuss zur Begrüßung. »Kommt rein, ihr beiden.«
»Wo ist Jesus?«, fragte ich.
Seine Schritte wurden langsamer, doch er ging weiter in den Hof hinein, als hätte er mich nicht gehört. »Maria. Martha«, rief er. »Schaut mal, wer da ist.«
Die Schwestern kamen aus dem Haus gelaufen und breiteten die Arme aus. Irgendwie kamen sie mir kleiner vor, ihre Gesichter runder. Lavi begrüßten sie mit der gleichen Herzlichkeit, mir der sie einst Tabitha willkommen geheißen hatten. Beim Gedanken an Tabitha schaute ich mich um, doch auch sie war nirgendwo zu sehen. Ein Stapel Schlafmatten lehnte an der äußeren Mauer. Darauf lag, gefaltet, ein abgetragener Flachsumhang.
»Du und Lavi, ihr müsst ausgehungert sein«, sagte Martha. »Ich bringe euch gleich das, was vom Pessachmahl übrig ist.«
Während sie davoneilte, ging ich zu dem Umhang hinüber und hob ihn hoch. Ich selbst hatte ihn mit meinen bescheidenen Webkünsten hergestellt, das sah ich deutlich an der unregelmäßigen Webart. Ich hielt mir das Kleidungsstück unter die Nase – es duftete nach ihm. »Der gehört Jesus«, sagte ich zu Maria.
Sie lächelte auf ihre unverwechselbar heitere Art. »Ja, das ist seiner.«
»Und der auch«, warf Lavi ein und hielt einen Stock aus Olivenholz hoch, den Jesus sich in Nazareth unter dem Baum in unserem Gehöft geschnitzt hatte.
Ich nahm den Stock entgegen, schlang die Finger um das Holz, spürte die glatte, wie polierte Stelle, wo er ihn gehalten hatte.
»Jesus und seine Jünger haben eine Weile bei uns gewohnt«, sagte Maria und wies mit dem Kinn zu dem Stapel Schlafmatten. »Sie verbringen ihre Tage in der Stadt und kehren abends zurück, um auf dem Hof zu schlafen. Vergangene Woche hat Jesus jedes Mal, wenn er durchs Tor kam, gefragt: ›Ist Ana gekommen?‹ Offenbar hat er viel an dich gedacht.« Sie lächelte mich an. Ich biss mir auf die Lippe.
»Wo ist er?«, fragte ich.
»Er hat Pessach mit seinen Jüngern in Jerusalem gefeiert.«
»Nicht hier bei euch?«
»Wir waren davon ausgegangen, dass sie mit uns essen würden, doch Jesus hat es sich erst an diesem Morgen anders überlegt. Er sagte, er wolle Pessach allein mit seinen Jüngern in der Stadt begehen. Ich gebe zu, dass Martha darüber nicht sehr glücklich war. Sie hatte ein großes Essen und genug für sie alle vorbereitet, und ich kann dir sagen, die essen eine Menge.« Sie lachte, doch irgendwie klang ihr Lachen falsch, viel zu schrill, als wäre ihr nicht wohl dabei.
»War Judas auch dabei?«
»Dein Bruder? Ja. Er ist Jesus kaum von der Seite gewichen, bis auf …«
Ich wartete, doch sie fuhr nicht fort. »Bis auf – was?«
»Es ist nichts. Nur dass gestern, als Jesus und die anderen aus der Stadt zurückkamen, Judas nicht dabei war. Ich hörte, wie Jesus Petrus und Johannes fragte, ob sie wüssten, wo er geblieben sei. Als Judas dann kam, war es ziemlich spät, und auch dann blieb er für sich. Er aß ganz allein da drüben in der Ecke.« Sie zeigte quer über den Hof. »Ich hatte den Eindruck, es ging ihm nicht gut.«
Ich bezweifelte, dass dieses seltsame Verhalten von Judas keine Bedeutung haben sollte, obwohl ich nicht sagen konnte, was wirklich
dahintersteckte. Ich hielt immer noch Jesus’ Stock und seinen Umhang umklammert, ja, ich hielt sie so fest, dass mir die Finger wehtaten. Dann endlich ließ ich beides los, ging zu der Lücke in der Mauer des Hofes und schaute nach Westen, gen Jerusalem. »Müsste Jesus denn nicht schon längst zurück sein?«
Maria trat an meine Seite. »Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Abend am Ölberg zu beten, doch er müsste trotzdem längst hier sein.« Ein Schatten lag über ihrem Gesicht, doch es war mehr als nur Sorge aufgrund seiner Verspätung. Ich sah Angst.
»Ana?« Die Stimme kam von der anderen Seite des Hofes, eine Stimme, die ich sieben Jahre lang nicht gehört hatte.
»Tabitha!«, rief ich und lief bereits auf sie zu, und auch sie hatte zu rennen begonnen. Lange Zeit lagen wir uns in den Armen, ihr Ohr an meine Wange gedrückt. Wir sprachen kein Wort, wiegten uns nur hin und her wie in einem Tanz. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an jene blinden Mädchen zurück, die getanzt hatten.
»Ich kann es kaum glauben, dass du hier bist«, sagte sie. »Und du darfst nie wieder weggehen.« Sie sprach langsam, gemessen und mit dicker Zunge, als wären die Worte zu unförmig, um ihr über die Lippen zu kommen, doch es fehlte keine Silbe.
»Du sprichst ja ganz klar und deutlich!«
»Ich hatte viele Jahre Zeit zum Üben. Die Zunge ist ein anpassungsfähiges Ding. Sie findet ihren Weg.«
Ich ergriff ihre Hände und küsste sie.
In diesem Augenblick erschien Martha, in den Händen ein Tablett mit Essen, gefolgt von Lazarus, der einen fast überschwappenden Krug mit Wein trug. Während sich Lavi und ich die Hände wuschen, bat Maria Tabitha, ihre Lyra zu holen und für uns zu spielen. »Eine solche Musik hast du noch nie gehört«, sagte sie.
Ich wollte Tabitha spielen hören, ich wollte es wirklich, doch nicht in diesem Moment. In diesem Moment wollte ich, dass sie mir von meinem Ehemann erzählten, von den Dingen, die er gesagt und getan hatte. Ich wollte von der Gefahr wissen, in der er sich befand und über
die niemand redete. Ich sah, wie Tabitha davonhuschte, und sagte nichts.
In einem hatte Maria recht – eine solche Musik hatte ich wirklich noch nie gehört. Es handelte sich um ein leichtfüßiges, kühnes, sogar lustiges Lied über eine Frau, die ihrem Peiniger den Bart abschnitt, während er schlief, wodurch er seine Kräfte verlor. Tabitha wiegte sich im Takt, während sie spielte, sie wirbelte, anmutig wie immer, auf dem Hof umher, und mir ging durch den Kopf, wie sehr sie die Rituale genießen würde, die bei den Therapeutae alle neunundvierzig Tage stattfanden. All das endlose Musizieren und Tanzen.
Als sie das Lied zu Ende gesungen hatte, legte ich das Brotstück beiseite, das ich gerade in meinen Becher mit Wein getunkt hatte, und umarmte sie noch einmal. Sie war atemlos, ihr Kopf hochrot. »Erst gestern habe ich etwas auf der Lyra zum Besten gegeben, als dein Mann und seine Jünger aßen. Ich werde nie vergessen, was Jesus zu mir sagte, als ich mit meinem Lied fertig war: ›Jeder von uns muss einen Weg finden, die Welt zu lieben. Du hast deinen gefunden.‹ Er ist sehr gütig, dein Mann.«
Ich lächelte. »Er hat auch ein feines Gespür. Denn du hast wirklich deinen Weg gefunden.« Die tiefste Verletzung in uns findet immer einen Weg
, dachte ich.
Ich sah es in ihren Augen, dass sie mir noch etwas anvertrauen wollte. »Tabitha«, sagte ich. »Was ist denn?«
»In all den Jahren, die ich hier war«, sagte sie, »habe ich mir etwas Geld damit verdient, Gewänder für Witwen zu weben, und einen Teil davon Martha gegeben, um meinen Unterhalt hier zu bezahlen. Vom Rest habe ich mir einen Tiegel Nardenöl gekauft.«
Ich runzelte die Stirn, weil ich mich fragte, wieso sie ein so teures Duftöl gekauft hatte, bis mir einfiel, wie wir uns damals mit jenem Öl gegenseitig die Stirn gesalbt und damit unsere Freundschaft besiegelt hatten.
»Ich verbinde eine angenehme Erinnerung mit dem Duft«, sagte sie. »Gestern jedoch, nachdem Jesus so freundlich zu mir gesprochen
hatte, holte ich das Öl und salbte damit seine Füße. Ich wollte ihm für das danken, was er zu mir gesagt hatte, und das Nardenöl war alles, was ich hatte.« Sie blickte an mir vorbei zu den anderen, die unser Gespräch mitangehört hatten, und senkte die Stimme. »Was ich tat, hat deinen Bruder verärgert. Er tadelte mich, sagte, ich hätte das Salböl besser für dreihundert Silbergroschen verkauft und das Geld den Armen gegeben.«
Judas, was ist mit dir geschehen?
»Und hat Jesus ihn deswegen gerügt?«, fragte ich, kannte jedoch schon die Antwort.
»Er sagte zu Judas, er solle mich in Ruhe lassen, und dass ich etwas sehr Schönes getan hätte. Er sagte es in scharfem Ton, und Judas ging erzürnt von dannen. Oh, Ana, ich fürchte, ich habe einen Keil zwischen sie getrieben.«
Ich legte meine Hände auf die ihren. »Der Keil war längst da.« Und er war immer schon da gewesen, das wurde mir bewusst, tief verborgen unter ihren unterschiedlichen Ansichten darüber, wie man das Reich Gottes errichten solle.
Ich kehrte zu meinem Teller zurück, doch essen konnte ich nichts mehr. Ich schaute Maria, Lazarus und Martha an. »Werdet ihr mir jetzt endlich erzählen, was euch Sorge bereitet? Ich weiß, dass Jesus in Gefahr ist. Judas schrieb darüber in seinem Brief. Sagt mir, was ihr wisst.«
Lazarus rutschte auf der Bank zwischen seinen beiden Schwestern hin und her. »Jesus ist berühmt geworden, Ana. Die Leute glauben, er sei der Messias, der König der Juden.«
»Davon habe ich gehört, als ich in Alexandria war«, sagte ich, fast erleichtert darüber, dass er mir nichts Neues gesagt hatte. »Das hat auch bei mir Besorgnis erregt. Herodes Antipas versucht schon sein ganzes Leben lang, König der Juden zu werden. Wenn er das erfährt, wird er Vergeltung üben.«
Stille. Eine unbehagliche Stille. Keiner von ihnen schaute mich an.
»Was ist?«, fragte ich.
Maria stupste ihren Bruder in die Seite. »Sag es ihr. Wir sollten nichts vor ihr verbergen.«
Tabitha legte ihre Lyra auf den Tisch und zupfte eine der Saiten. Es klang wie ein Wimmern. Ich bedeutete ihr, neben mir Platz zu nehmen, und wir saßen eng aneinandergedrückt.
»Antipas weiß bereits, dass die Leute Jesus als König der Juden bezeichnen«, sagte Lazarus. »Es gibt nicht eine Menschenseele in Jerusalem, die davon noch nichts gehört hat, einschließlich der Römer. Doch Pontius Pilatus, der Statthalter, stellt eine noch größere Gefahr dar als Antipas. Er ist für seine Brutalität bekannt. Er wird jede Bedrohung für den Frieden in der Stadt im Keim ersticken.«
Mir lief es eiskalt über den Rücken, und das lag nicht an der sich langsam abkühlenden Nachtluft.
»Letzten Sonntag zog Jesus auf einem Eselfohlen in Jerusalem ein«, sagte er. »Und es gibt diese Prophezeiung, nach der der Messias und König voller Demut und auf dem Rücken eines jungen Esels nach Jerusalem kommen wird.«
Ich kannte diese Prophezeiung. Wir alle kannten sie. Dass Jesus etwas Derartiges getan hatte, machte mich sprachlos. Damit nahm er die Rolle als Messias offen an. Doch warum erschreckte mich das? Ich dachte an den Moment der Erleuchtung zurück, den er bei seiner Taufe erlebt hatte, an die Offenbarung, dass er handeln solle, und wie er sich damals Johannes dem Täufer angeschlossen hatte.
»Die Menge folgte ihm«, sagte Lazarus. »Sie riefen: ›Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!‹«
»Wir waren dort«, fügte Maria hinzu. »Die Menschen waren außer sich, sie sangen und jubilierten, denn sie glaubten, schon bald vom Joch der Römer befreit zu werden, und dann würde das Reich Gottes beginnen. Du hättest sie sehen sollen, Ana. Sie brachen Zweige von den Bäumen ab und verstreuten sie vor Jesus auf dem Weg. Wir gingen zusammen mit seinen Jüngern hinter ihm und schlossen uns der Menge an.«
Wäre ich selbst dort gewesen – hätte ich versucht, Jesus zu bremsen?
Oder hätte ich dem wilden Verlangen, das ihn antrieb, meinen Segen gegeben? Ich wusste es nicht; ich wusste es wirklich nicht.
Lazarus ging zu der Lücke in der Mauer, so wie ich es vor einer Weile getan hatte, und blickte über das Tal hinweg zur Stadt, als versuchte er zu erraten, wo sich inmitten dieses Netzes aus schmalen, gewundenen und vom Fieber des Pessachfestes ergriffenen Gassen sein alter Freund befand. Wir schauten ihn an. Er stand von uns abgewandt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und rieb sich ohne Unterlass die Finger. »Jesus hat erklärt, er sei der Messias«, sagte er und drehte sich wieder zu uns um. »Er sagte es in dem Glauben, dass Gott handeln wird, doch es war nicht nur eine religiöse Verlautbarung. Es war auch eine politische. Und das ist es, was mir am meisten Sorgen bereitet, Ana. Pilatus weiß, dass der Messias der Juden den Aufstand gegen Rom herbeiführen soll – und er wird es ernst nehmen.«
Die ganze Zeit hatte Martha nichts gesagt, doch ich sah, wie sie sich auf einmal kerzengerade auf der Bank aufrichtete und tief Luft holte. »Da ist noch etwas, Ana«, sagte sie. »Einen Tag, nachdem sich Jesus dort auf dem Eselsrücken erklärt hatte, kehrte er nach Jerusalem zurück und – sag du es ihr, Maria.«
Maria warf ihr einen kläglichen Blick zu. »Ja, er kehrte in die Stadt zurück und stiftete … Unruhe im Tempel.«
»Es war mehr als Unruhe«, sagte Martha. »Es war ein Aufruhr.«
Nun war Marias Blick verzweifelt.
»Was meint ihr mit Aufruhr?«, fragte ich.
»Diesmal waren wir nicht dabei«, sagte Maria. »Doch die Jünger sagten, er sei wütend gewesen über die Bestechlichkeit der Geldwechsler und der Männer, die Opfertiere verkaufen.«
»Er stieß ihre Tische um, schleuderte Münzen auf den Boden und trat nach den Stühlen der Taubenverkäufer«, warf Martha ein. »Und er rief, sie hätten den Tempel zu einer Räuberhöhle gemacht. Die Leute balgten sich um die Münzen. Man rief die Tempelwache.«
»Aber ihm ist nichts zugestoßen, oder?«
»Nein«, sagte Maria. »Überraschenderweise haben die
Tempelbehörden ihn nicht ergreifen lassen.«
»Ja, aber Kaiphas, der Hohepriester, ist aufgebracht über ihn«, sagte Lazarus. »Ich sage es nur ungern, aber Jesus ist in großer Gefahr.«
Tabitha lehnte sich an mich. Mehrere Augenblicke saßen wir da, bevor ich meine Frage stellen konnte. »Glaubt ihr, sie werden ihn festnehmen?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Lazarus. »Die Stimmung in der Stadt schwankt. Pilatus und Kaiphas wollen nichts anderes, als ihn loswerden. Jesus könnte leicht einen Aufstand anzetteln.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das sein Wunsch ist«, erwiderte ich. Mein Mann leistete Widerstand gegen Rom, doch Gewalt lehnte er ab. Er war nicht wie mein Bruder.
»Ich habe mich gefragt, was er vorhat«, sagte Lazarus. »Mir schien, er hat die Behörden vorsätzlich herausgefordert. Aber an demselben Abend stand er genau da, wo ich jetzt stehe, und beschwor seine Jünger, nicht zum Schwert zu greifen, was auch immer geschehe. Judas widersprach ihm und sagte: ›Glaubst du wirklich, wir können uns kampflos von Rom befreien? Du sprichst von Liebe – wie sollen wir allein durch Liebe die Römer loswerden?‹ Ich weiß, er ist dein Bruder, Ana, aber er war wütend, beinahe feindselig.«
»Judas ist Zelot«, sagte ich. »Die Römer haben seinen Vater ermordet und seine Mutter in die Sklaverei geschickt. Er sucht schon sein ganzes Leben lang nach einer Möglichkeit, sich dafür zu rächen.« Noch während ich sprach, wunderte ich mich selbst darüber, dass ich meinen Bruder in Schutz nahm. Judas wollte unter allen Umständen die römische Herrschaft stürzen, selbst wenn er dafür Jesus ausliefern musste, um einen Aufstand zu entfachen. Und dafür würde ich ihn nie und nimmer in Schutz nehmen. Wut durchströmte mich. »Wie hat ihm Jesus geantwortet?«
»Sehr streng. Er sagte nur: ›Ich habe gesprochen, Judas.‹ Das brachte ihn zum Schweigen.«
Für einen Augenblick zog ich in Erwägung, Judas’ Brief aus meinem Reisebeutel zu ziehen und ihnen vorzulesen, doch das hätte meine
Freunde nur noch mehr beunruhigt.
Lazarus legte Martha seine Hand auf die Schulter und sagte: »Heute Morgen, bevor Jesus nach Jerusalem aufbrach, flehte ich ihn an, das Pessachfest in aller Stille zu begehen und sich zurückzuhalten. Er stimmte mir zu. Wenn die Obrigkeit ihn also festnehmen will, dann müssen sie ihn hier erst einmal finden.«
Sie würden keine Probleme haben, ihn zu finden, sofern Judas ihnen dabei half. Bei dem Gedanken sprang ich auf. »Sollen wir ihn nicht selbst suchen gehen?«
»Nach Jerusalem? Jetzt?«, fragte Martha.
»Maria sagt, er betet manchmal im Garten Gethsemane«, sagte ich. »Vielleicht finden wir ihn ja dort.«
»Es schlägt schon fast die zweite Stunde«, warf sie ein.
Lavi hatte die ganze Zeit zusammengesunken an der Mauer gekauert, fast unscheinbar in ihrem Schatten, doch jetzt trat er nach vorne. »Ich gehe mit dir.«
»Es wäre töricht, sich zu dieser späten Stunde ins Tal vorzuwagen«, gab Lazarus zu bedenken. »Mir scheint, Jesus hat beschlossen, die Nacht in den Hügeln zu verbringen. Am Morgen ist er bestimmt zurück.«
Maria nahm mich am Arm. »Komm, du bist hundemüde. Lass uns zu Bett gehen. Martha hat dir in Tabithas Zimmer eine frische Matte ausgelegt.«
»Bei Morgengrauen breche ich auf«, sagte ich, schenkte Lavi ein dankbares Lächeln und ließ es dann zu, dass man mich wegführte. Im Vorübergehen hob ich Jesus’ Umhang auf und nahm ihn mit. Ich würde mich in seinen Falten vergraben und darin einschlafen.
2.
Ich wachte spät auf, lange nach Tagesanbruch. Ich tastete nach Jesus’ Umhang neben mir auf der Matte, richtete mich auf und zog ihn über
meine Tunika.
Auf Zehenspitzen schlich ich mich durchs Zimmer, um Tabitha nicht zu wecken. An der Wasserschüssel spritzte ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht und kramte dann in der Tasche mit meinen Habseligkeiten, bis ich den kleinen Beutel mit dem roten Faden gefunden hatte. Ich schlang ihn mir ums Handgelenk, nestelte eine Weile daran herum, bis mir der Knoten gelungen war.
Lavi wartete im Hof auf mich. Vielleicht wunderte er sich darüber, dass ich Jesus’ Umhang trug, doch er sagte nichts. Auch über mein spätes Aufstehen ging er wortlos hinweg. Er reichte mir ein Stück Brot und einen Brocken Käse, was ich beides hungrig verzehrte.
»Wie werden wir ihn finden?«, flüsterte Lavi.
»Wir beginnen im Garten Gethsemane. Vielleicht hat er dort geschlafen.«
»Weißt du denn, wo der Garten ist?«
»Er liegt am Fuße des Ölbergs. Gestern Abend hat mir Tabitha von einem Pfad erzählt, der vom Dorf aus dorthin führt.«
Ich muss schrecklich besorgt ausgesehen haben, denn er blickte mich prüfend an. »Ist alles in Ordnung mit dir, Schwester?«
Schwester.
Bei dem Wort musste ich an Judas denken. Ich wusste nicht, wie ich weiter seine Schwester sein sollte. So gern hätte ich Lavi geantwortet, es gehe mir gut, und er solle sich keine Gedanken machen, doch ich spürte bereits diese unheilvolle Finsternis da draußen, vor der ich einfach nicht mehr die Augen verschließen konnte.
»Bruder«, sagte ich, und meine Stimme brach ein wenig.
Ich stand auf und ging zum Tor.
»Wir werden ihn finden«, sagte Lavi.
»Ja, wir werden ihn finden.«
Während wir den Abhang hinabstiegen, versteckte sich die Sonne hinter dicken Wolken. Überall wachten Pilger unter den Olivenbäumen auf, der ganze Hügel schien in Bewegung zu sein. Wir gingen schnell und schweigend. Das Loblied auf Sophia, das ich geschrieben hatte, klang in meinen Ohren.
Ich wurde ausgesandt aus der Kraft.
Seid nicht unwissend über mich.
Ich aber bin die, die in jeglicher Furcht ist
Und die Stärke in einem Zittern.
***
IM GARTEN GETHSEMANE
lief ich zwischen den Bäumen hindurch, rief Jesus’ Namen. Niemand antwortete. Er trat auch nicht mit ausgebreiteten Armen aus den wabernden Schatten, um zu rufen: »Ana, da bist du ja endlich.«
Wir durchsuchten den ganzen Garten. »Er ist nicht da«, sagte Lavi.
Ich blieb stehen, doch das panische Gefühl in meiner Brust wollte nicht weichen. Ich war mir so sicher gewesen, dass wir ihn hier finden würden. Die ganze Nacht, als ich abwechselnd eingedöst und aus dem Schlaf hochgeschreckt war, waren mir Bilder aus diesem Garten am Fuße des Ölbergs durch den Kopf gegangen.
Wo ist er?
In der Ferne sah ich den Tempel, der jenseits der Stadtmauer sein blendend weißes Antlitz in die Luft reckte, und daneben die Türme der römischen Festung Burg Antonia. Lavi folgte meinem Blick. »Wir sollten in die Stadt und nach ihm suchen«, sagte er.
Ich überlegte fieberhaft, wo Jesus inmitten dieses riesigen Labyrinths an Gassen in Jerusalem sein könnte – in den Vorhöfen des Tempels etwa? Bei der Bethesda-Zisterne? –, als ich jemanden stöhnen hörte. Es war ein tiefer, kehliger Laut, der von den Bäumen hinter uns kam. Ich ging darauf zu, doch Lavi trat mir in den Weg. »Lass mich gehen und nachschauen, dass keine Gefahr besteht.«
Ich wartete, während er sich in den Olivenhain vorwagte und schließlich hinter einem Felsvorsprung verschwand. »Ana, komm schnell.«
Judas saß auf dem Boden, den Oberkörper vornübergebeugt, und
wiegte sich vor und zurück. Aus seinem Mund kam ein schreckliches, zutiefst verzweifeltes Wimmern.
»Judas! O du mein Herr und mein Gott, was ist denn passiert?« Ich kniete neben ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm.
Das Wimmern hörte abrupt auf, als ich ihn berührte. Ohne den Blick zu heben, sagte er: »Ana … ich sah dich … aus der Ferne. Ich wollte nicht, dass du mich findest … Schau mich nicht an … Ich kann es nicht ertragen.«
Auf einmal wurde mir eiskalt. Ich sprang auf. »Judas, was hast du getan?« Als er mir nicht antwortete, schrie ich: »Was hast du getan?«
Lavi hatte taktvoll Abstand bewahrt, doch jetzt war er an meiner Seite. Ich hielt mich nicht damit auf, ihm zu erklären, was vorging, sondern bückte mich noch einmal zu meinem Bruder hinab und versuchte verzweifelt, die Angst und Wut, die aus meiner Kehle aufstiegen, zu bändigen. »Sag es mir, Judas. Jetzt.«
Er blickte auf, und ich sah es in seinen Augen. »Du hast Jesus an die Römer ausgeliefert! Stimmt das?«
Ich hatte ihm den Vorwurf entgegenschleudern wollen, wie einen Schlag ins Gesicht, doch was aus meinem Mund kam, war kaum mehr als ein entsetztes Flüstern, das in die Stille hineinschwebte wie ein Nachtfalter. Ich konnte nicht begreifen, dass mein Bruder das wirklich getan hatte. Judas ballte die Faust und schlug sich damit auf die Brust. Neben ihm auf dem Boden lag ein offener Lederbeutel mit Silberlingen darin; er packte ihn und schleuderte das Geld in die Bäume. Atemlos sah ich dabei zu, wie die Münzen zu Boden fielen und liegen blieben, schimmernd wie die Schuppen eines Untiers.
»Ich habe ihn nicht an die Römer
ausgeliefert.« Auf einmal war Judas sehr gefasst, und er begann, die Litanei seiner Selbstanklage herunterzubeten. Die wie der Schwanz eines Skorpions geformte Narbe unter seinem Auge zuckte bei jeder Bewegung seines Kinns. »Gestern Nacht habe ich, sein Freund und Bruder, ihn an die Tempelwache übergeben, von der ich wusste, dass sie
ihn an die Römer ausliefern würde. Ich habe die Wachen hierhergeführt, an die Stelle, wo Jesus sich
aufhielt. Ich küsste ihn auf die Wange, damit die Soldaten wussten, wer er war.« Er zeigte auf einen Fleck vor ihm. »Hier war es. Hier stand Jesus, als ich ihn küsste.«
Ich schaute auf die Stelle, auf die er gezeigt hatte: brauner Grund, weißes Felsgestein, die Abdrücke von Sandalen.
Judas redete weiter, seine gequälte, aber ruhige Stimme hallte durch den Olivenhain. »Ich wollte die Menschen zu Gewalt aufstacheln. Ich wollte Gottes Reich herbeiführen. Ich dachte, das sei auch das, was er wollte. Wenn ich ihn zum Handeln zwang, so glaubte ich, würde er einsehen, dass es der einzige Weg war. Er würde den Soldaten Widerstand leisten und den Aufstand anführen, und falls das nicht gelang, dann würde sein Tod die Menschen anstacheln, sich selbst aufzulehnen.«
Gewalt. Aufstand. Tod. Was für lächerliche, bedeutungslose Worte.
»Aber weißt du, was Jesus mir entgegnete, als ich ihn küsste? Er sah, wie sich die Soldaten mit gezogenen Schwertern von hinten näherten, und er sagte: ›Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?‹ Ana, du musst mir glauben – ich wusste bis zu jenem Moment nicht, was ich getan hatte, und wie sehr ich in die Irre gegangen war. Es tut mir leid.« Er ließ den Kopf auf seine Knie sinken. Wieder Stöhnen.
Jetzt
tat es ihm leid? Am liebsten hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihm die Haut vom Gesicht gekratzt.
»Ana, bitte«, sagte Judas. »Ich erwarte nicht von dir, dass du verstehst, was ich getan habe, aber ich bitte dich, das zu tun, was mir selbst nicht möglich ist – mir verzeihen.«
»Wo ist mein Mann?«, fragte ich. »Wo haben sie ihn hingebracht?«
Er schloss die Augen. »Sie haben ihn zum Haus von Kaiphas gebracht. Ich bin ihnen gefolgt. Im Morgengrauen wurde er in den Palast des Herodes verbracht. Dort residiert der römische Statthalter, wenn er sich in Jerusalem aufhält.«
Der römische Statthalter Pilatus. Der, den Lazarus als brutal bezeichnet hatte. Ich schaute zur Sonne, in der Hoffnung, in etwa die Zeit abschätzen zu können, doch der Himmel war zu einer festen,
grauen Masse geronnen. »Ist Jesus noch dort?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich konnte es nicht ertragen, dort zu bleiben und zu verfolgen, was aus ihm wird. Als ich ihn zum letzten Mal sah, stand er im Vorhof des Palastes vor Pilatus.«
»Und der Palast, wo ist der?«
»Er liegt in der Oberstadt, in der Nähe des Mariamne-Turms.«
Ich sprang auf und begann zu rennen. Lavi folgte mir.
»Ana! … Ana!«, rief Judas.
Ich gab keine Antwort.
3.
Wir betraten Jerusalem durch das Goldene Tor, durchquerten den Hof der Heiden und tauchten dann in die engen, gewundenen Gassen der Altstadt ein, in denen sich die Pessachpilger drängten. Ich schaute nach Westen, um den Mariamne-Turm auszumachen. Rauch vom Altar des Tempels hing wie ein dünner, schlaffer Baldachin über der Stadt, vermischt mit dem widerlichen Gestank verbrannter Tiereingeweide. Ich konnte nichts sehen.
Mit quälender Langsamkeit kämpften wir uns durch die Menschenmenge in der Oberstadt. Weiter. Weiter. Weiter!
Verzweiflung machte sich in mir breit, ein verängstigter Vogel, der in meiner Brust mit den Flügeln schlug. »Da!«, rief ich. »Da ist der Turm.« Das Bauwerk reckte sich von einer Seite des Herodes-Palastes in den stinkenden Dunst empor.
Wir bogen um eine Ecke, dann noch eine, schlingerten wie ein Schiff in eine Ansammlung von Menschen hinein, die an der Straße standen; auch auf den Dächern hatten sich viele versammelt. Waren wir mitten in eine Steinigung geraten? Ich hielt nach einer bedauernswerten Frauengestalt Ausschau, die man des Ehebruchs oder des Diebstahls bezichtigt hatte und die nun ganz allein auf der Straße kauerte und auf den Tod wartete – diesen Schrecken hatte ich selbst durchlebt. Doch
die Menge schien nicht von Zorn angestachelt zu sein. Vielmehr wirkte sie wie betäubt, voller Trauer, von einer unnatürlichen Ruhe ergriffen. Ich wusste weder, was passierte, noch hatte ich Zeit zu fragen. Ich drängte mich einfach hindurch, immer weiter die Straße entlang, entschlossen, endlich zum Palast zu gelangen und zu erfahren, was mit Jesus geschehen war.
Als ich den Rand der Menschenmenge erreicht hatte, hörte ich Hufgetrappel und dann das durchdringende kratzende Geräusch eines schweren Gegenstandes, der über das Kopfsteinpflaster gezogen wurde. »Platz da!«, schrie eine Stimme.
Ich schaute mich nach Lavi um und entdeckte ihn, einige Schritte entfernt hinter mir. »Ana«, rief er. »Ana, bleib stehen!« Doch ich konnte unmöglich stehen bleiben – das musste ihm bewusst sein.
Ich trat auf die Straße. Und auf einmal sah ich alles. Den römischen Zenturio auf dem schwarzen Pferd. Den feuerroten Federbusch auf seinem Helm, ein leuchtender Fleck inmitten des vielen Graus. Vier Soldaten zu Fuß, ihre wehenden Umhänge, während sie marschierten, ihre nach oben zeigenden Lanzenspitzen, die im Gleichschritt wippten. Ein Mann in einer schmutzigen, blutverkrusteten Tunika taumelte hinter ihnen her, tief gebeugt unter einem großen, grob gesägten Holzbalken. Ein Ende des Balkens lag auf seiner rechten Schulter, das andere schleifte über den Boden. Einige Momente vergingen, während ich wie benommen den Mann beobachtete, der sich mit seiner hölzernen Last abmühte.
Dann war Lavi bei mir, packte mich am Arm und riss mich herum, von der Straße weg. »Schau nicht hin«, sagte er. Seine Augen blickten scharf, wie die Spitzen der Lanzen.
Ich spürte, wie ein Wind sich erhob, ein hohles Zischen. Lavi redete und redete, doch ich hörte ihn nicht mehr. Ich dachte an die Holzkreuze, die kerzengerade auf dem kahlen, kleinen Hügel außerhalb von Jerusalem standen, den man Golgatha, Ort des Schädels, nannte. Erst gestern hatten Lavi und ich die Kreuze gesehen, als wir uns nach unserem langen Marsch von Joppa her der Stadt näherten. Im
Halbdunkel wirkten sie wie ein kleiner Wald aus abgestorbenen Bäumen, denen man die Wipfel abgeschlagen hatte. Wir wussten, dass dies die aufrechten Balken der Kreuze waren, an die die Römer ihre Opfer nagelten, doch keiner von uns hatte es ausgesprochen.
Das durchdringende Kratzen auf dem Platz wurde lauter. Ich drehte mich zu der traurigen Prozession um. Die Soldaten bringen den Mann zum Ort des Schädels. Er trägt den Querbalken seines Kreuzes.
Ich betrachtete ihn näher. Irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor, etwas an der Form seiner Schultern. Er hob den Kopf, und hinter seinem dunklen Haar wurde sein Gesicht erkennbar. Es war mein Ehemann.
»Jesus«, sagte ich leise, zu mir, zu Lavi, zu niemandem.
Lavi zog mich am Arm. »Schau nicht hin, Ana. Tu es dir nicht an.«
Ich machte mich los, unfähig, den Blick von Jesus zu lösen. Er trug eine Art Krone aus Dornenzweigen, wie man sie zum Anschüren von Feuer verwendet. Und man hatte ihn ausgepeitscht. Seine Arme und Beine waren nur noch eine Masse aus zerfetzter Haut und getrocknetem Blut. Ein Heulen stieg aus meinem Bauch auf und drängte sich in meine Mundhöhle, doch es kam ohne Laut, nur ein heftiger Schmerzenskrampf.
Jesus strauchelte, und obwohl er mindestens zwanzig Armlängen von mir entfernt war, streckte ich die Hand aus, um ihn aufzufangen. Er fiel hart auf ein Knie und schwankte, während sich ein Rinnsal Blut um das Bein bildete. Dann brach er zusammen, der Holzbalken landete mit einem lauten Schlag auf seinem Rücken. Ich schrie auf, hörbar diesmal, ein schriller, spitzer Schrei.
Ich lief auf ihn zu, doch Lavi hielt mich am Handgelenk fest. »Du kannst nicht zu ihm. Wenn du diesen Männern entgegentrittst, werden sie nicht zögern, auch dich zu töten.« Ich zerrte an meinem Arm, versuchte, mich loszureißen.
Jetzt schrien die Soldaten Jesus zu, er solle aufstehen, stießen mit den Schäften ihrer Lanzen nach ihm. »Steh auf, Jude! Steh auf, wird’s bald?« Jesus versuchte es, stützte sich auf den Ellbogen auf, sackte dann wieder auf seine Brust zurück.
Mein Handgelenk brannte, so fest war Lavis Griff. Er ließ nicht los. Der Zenturio stieg von dem schwarzen Pferd und stieß den Balken mit einem Fußtritt von Jesus’ Rücken. »Lasst ihn«, befahl er seinen Männern. »Er kann ihn nicht weiter tragen.«
Meine Augen wurden schmal und hart. »Du lässt mich jetzt los, oder ich werde dir nie verzeihen.« Lavi ließ die Hand sinken, und ich preschte auf die Straße hinaus, an den Soldaten vorbei, wobei ich den Zenturio, der mit dem Rücken zu mir vor der Menge auf und ab stolzierte, nicht aus den Augen ließ.
Ich kniete neben Jesus. Eine unheimliche Ruhe hatte sich meiner bemächtigt, und ich war zu einem Wesen geworden, das ich selbst nicht mehr kannte. Alles rückte weit, weit weg – die Straße, die Soldaten, der Lärm, die Stadtmauern, die Leute, die den Hals lang machten, um alles mitanzusehen. Dieser ganze Festzug des Schreckens trat in den Hintergrund, bis nichts mehr da war außer Jesus und mir. Seine Augen waren geschlossen. Er rührte sich nicht, schien kaum zu atmen, und ich fragte mich, ob er bereits tot war. Dann würde er niemals erfahren, dass ich hier war. Doch für ihn wäre es auch eine Erleichterung, die grausame, barbarische Kreuzigung nicht mehr zu erleben. Ich rollte ihn sanft auf die Seite und spürte auf einmal, wie er Luft holte.
»Liebster«, sagte ich und beugte mich ganz nah an sein Ohr.
Er blinzelte, dann hatte sein Blick mich gefunden. »Ana?«
»Ich bin hier … Ich bin zurückgekommen. Ich bin hier.« Ein Tropfen Blut lief ihm über die Stirn, sammelte sich in seinem Augenwinkel. Ich nahm den Ärmel meines Umhangs, seines
Umhangs, und tupfte es ab. Sein Blick fiel auf den roten Faden an meinem Handgelenk, den Faden, der den Beginn markiert hatte und bleiben würde bis zum Ende.
»Ich werde dich nicht verlassen«, sagte ich.
»Hab keine Angst«, flüsterte er.
Von weit weg hörte ich, wie der Zenturio einem Schaulustigen befahl, nach vorne zu treten und den Querbalken zu tragen. Jetzt blieb Jesus und mir nicht mehr viel Zeit. In diesen letzten Minuten – was wollte er am allersehnlichsten hören? Dass man ihn in dieser Welt gesehen und
gehört hatte? Dass er das erreicht hatte, was er hatte erreichen wollen? Dass er geliebt hatte und geliebt worden war?
»Die Güte deines Herzens wird niemals vergessen werden«, sagte ich. »Nichts von dem, was du aus Liebe getan hast, wird umsonst gewesen sein. Du hast uns das Reich Gottes gebracht, so wie du hofftest. Du hast es in unsere Herzen gepflanzt.«
Er lächelte, und ich sah, wie mein Gesicht sich in den goldbraunen Sonnen seiner Augen spiegelte. »Kleiner Donner«, sagte er.
Ich legte meine Hände um sein Gesicht. »Wie sehr ich dich liebe.«
Nur ein Wimpernschlag blieb uns noch, dann kehrte der Zenturio zurück und riss mich hoch. Er schleuderte mich auf die Seite der Straße, wo ein Mann die Hand ausstreckte, um mich aufzufangen, doch ich stürzte trotzdem. Als Lavi auftauchte und mir hochhalf, schaute ich zu Jesus zurück, der grob hochgerissen und auf die Beine gestellt wurde. Noch einmal richtete er das Licht seiner Augen auf mich, dann stolperte er hinter dem beleibten Mann her, dem man befohlen hatte, den Balken zu tragen.
Während der Zug sich wieder in Bewegung setzte, bemerkte ich, dass der Riemen einer meiner Sandalen gerissen war, als ich fiel. Ich bückte mich und zog beide Sandalen aus. Ich würde genau so zur Hinrichtung meines Mannes gehen wie er. Barfuß.
4.
Ich rief auf Aramäisch: »Ich bin hier, Liebster. Ich gehe direkt hinter dir.« Der Zenturio drehte sich in seinem Sattel um und schaute mich an, doch er sagte nichts.
Die meisten der Schaulustigen waren uns in Richtung des Gennat-Tores, das zur Schädelstätte Golgatha führte, vorausgeeilt, zu ungeduldig, um auf den Mann zu warten, der einen qualvollen Schritt nach dem anderen machte. Als ich mich umblickte, sah ich, dass all diejenigen, die noch mit ihm gingen, Frauen waren. Wo waren
eigentlich seine Jünger? Die Fischer? Die Männer? Waren wir Frauen denn die Einzigen, deren Herzen groß genug waren, ein solches Grauen zu ertragen?
Auf einmal trat ein Grüppchen Frauen auf mich zu und nahm mich in die Mitte, zwei rechts und zwei links. Eine ergriff meine Hand und drückte sie. Ich erschrak, als ich sah, dass es meine Schwiegermutter war. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, ihre Miene erschüttert. »Ana, oh, Ana«, sagte sie. Neben ihr ging Maria, die Schwester von Lazarus, sah mich von der Seite an und schenkte mir einen Blick, der sagte: Bleib ruhig.
Die Frau auf meiner anderen Seite schlang den Arm um meine Leibesmitte und hielt mich wortlos fest. Salome.
Ich ergriff ihre Hand und zog sie an meine Brust. Neben ihr war eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, mit kupferrotem Haar und flammenden Augen; sie hatte in etwa das Alter meiner Mutter zu dem Zeitpunkt, als ich sie das letzte Mal sah.
Wir gingen dicht aneinandergedrückt, Schulter an Schulter. Als wir das Stadttor durchschritten und der Hügel von Golgatha in Sicht kam, blieb Jesus stehen und schaute zu der kleinen Erhebung empor. »Liebster, ich bin immer noch da«, sagte ich.
Er taumelte vorwärts, stemmte sich gegen den aufkommenden Wind.
»Mein Sohn, auch ich bin hier«, rief Maria mit zitternder Stimme, doch ihre Worte zerfetzten im Wind, sobald sie ihr über die Lippen kamen.
»Und auch deine Schwester geht mit dir«, sagte Salome.
»Und hier ist Maria von Bethanien. Auch ich bin bei dir.«
Dann rief die mir unbekannte Frau: »Jesus, ich bin es, Maria Magdalena.«
Während Jesus sich mit schweren Beinen den Hügel hochschleppte, beschleunigte ich meinen Schritt und näherte mich ihm von hinten. »An dem Tag, als wir die Gebeine unserer Tochter aus der Höhle geholt haben, stand das Tal voller wilder Lilien. Erinnerst du dich?« Ich rief die Worte laut genug, damit er sie hören konnte, ohne jedoch die
Aufmerksamkeit der Soldaten auf mich zu lenken. »Du sagtest mir, ich solle die Lilien anschauen, und dass Gott der Herr für sie sorgt, und ganz gewiss werde er auch für uns sorgen. Dann sieh sie dir jetzt an, mein Liebster. Sieh dir die Lilien an.« Ich wünschte mir so sehr, dass etwas Schönes seinen Geist erfüllte. Ich wünschte mir, dass er an unsere Tochter dachte, an unsere Susanna. Bald schon würde er bei ihr sein. Ich wünschte mir, er würde an Gott denken. Und an mich. Und an die Lilien.
Als wir den Gipfel Golgathas erreicht hatten, legte der Mann, der den Querbalken getragen hatte, diesen neben einem der aufgerichteten Kreuze nieder, und Jesus stand, leicht schwankend, und schaute darauf hinab. Wir Frauen durften uns nicht weiter nähern als bis zu einer kleinen Erhebung, etwa zwanzig Schritt von ihm entfernt. Es roch nach Verwesung, und ich fragte mich, ob der faulige Geruch, der in der Luft lag, von all den Gräueltaten rührte, die an diesem Ort verübt worden waren. Ich zog mir den Schal über die Nase. Mein Atem kam stoßweise, wurde immer matter.
Schau nicht weg. Schreckliche Dinge werden jetzt passieren. Unerträgliche Dinge. Ertrag sie trotzdem.
Die anderen neben mir stöhnten und weinten, doch ich gab keinen Laut von mir. Später, wenn ich allein wäre, könnte ich heulen und zu Boden fallen und mit den Fäusten auf die Leere einschlagen. Jetzt jedoch würde ich all meine Ängste hinunterschlucken und meine Augen auf meinen Mann richten.
Ich werde nur an ihn denken. Ich werde ihm mehr geben als nur meine Anwesenheit. Ich werde ihm die ganze Aufmerksamkeit meines Herzens schenken.
Das war mein Abschiedsgeschenk an ihn. Ich ging mit ihm, bis ans Ende seiner Sehnsüchte.
Ich sah, wie die Soldaten Jesus die Tunika auszogen und ihn zu Boden stießen, wie sie seine Unterarme mit ihren Knien auf den Querbalken drückten. Der Henker tastete die Unterseite seines Handgelenks ab, suchte nach dem Hohlraum zwischen den Knochen – in dem Moment
wusste ich jedoch noch nicht, warum der Soldat seine Finger in die weiche Stelle drückte. Dann hob der Henker den Hammer und trieb einen kleinen Nagel durch die Öffnung und bis ins Holz hinein. Bei dem Schrei, den Jesus dabei ausstieß, sank seine Mutter auf die Knie, doch mir gelang es irgendwie, mich aufrecht zu halten. Ich flüsterte Sophia, Sophia, Sophia,
während auch das andere Handgelenk abgetastet und mit dem Nagel durchbohrt wurde.
Dann wurde der Querbalken angehoben und an dem bereits stehenden Balken befestigt. Jesus wand sich einen Moment und zappelte mit den Füßen, bis der Querbalken mit einem Ruck an Ort und Stelle war. Die Soldaten hielten Jesus die Knie zusammen, beugten leicht seine Beine und legten dann mit geübter Genauigkeit den rechten Fuß über den linken. Ein einzelner Nagel wurde durch die Füße getrieben. Ich erinnere mich nicht, dass der Gemarterte einen Laut von sich gab. Woran ich mich erinnere, das ist das schreckliche hohle und laute Schlagen des Hammers und der dröhnende Aufruhr, der in meinem Kopf begann. Ich schloss die Augen, hatte das Gefühl, Jesus im Stich zu lassen, indem ich mich in das Dunkel hinter meinen Lidern zurückzog. Das Dröhnen in meinem Kopf schlug gegen die Wände meines Schädels wie Wellen. Dann erklang in der Ferne groteskes Gelächter. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen, ließ einen schmerzlichen Lichtstrahl herein. Ein Soldat nagelte ein Schild aus Pinienholz über Jesus’ Kopf und schien sich daran zu ergötzen.
»Was steht dort?«, fragte Maria Magdalena.
»Jesus von Nazareth, König der Juden«, las ich. Es stand da auf Hebräisch, Aramäisch und auf Latein, damit niemandem der Spott entging.
Hinter uns schrie jemand: »Wenn du der König der Juden bist, so hilf dir selber.«
»Er hat andern geholfen und kann sich selber nicht helfen«, höhnte ein weiterer.
Salome schlang ihrer Mutter den Arm um den Leib und zog sie an sich. »Möge Gott ihn schnell zu sich holen«, sagte sie.
Und wo ist Gott,
hätte ich am liebsten gerufen. Sollte denn nicht sein Reich kommen? Und die Menschen – warum kam es nicht zum Aufstand, so wie Judas das erwartet hatte? Stattdessen verhöhnten sie Jesus.
»Wenn du der Messias bist, dann steig herab vom Kreuz und hilf dir selber!«, gellte die Stimme eines Mannes.
Wütend wirbelte ich herum, um den Pöbel zurechtzuweisen, und mein Blick fiel auf meinen Bruder, der ganz allein am Rand des Hügels stand. Als er merkte, dass ich ihn gesehen hatte, streckte er die Hände nach mir aus, wie es schien, als wollte er mich um Gnade bitten. Ana, verzeih mir.
Erstaunt darüber, ihn zu sehen, blickte ich ihn an und dachte, wie fehlgeleitet er gewesen war, und wie kaltschnäuzig sein Streben und seine Selbstgefälligkeit geworden waren.
Ich suchte in mir selbst nach der Wut, die ich zuvor für ihn empfunden hatte, doch sie hatte mich verlassen. Kurz versuchte ich, sie wieder heraufzubeschwören, doch bei Judas’ Anblick, wie er so verloren und verlassen dastand, war sie verschwunden. Auf einmal überkam mich die Vorahnung, dass ich Judas nie wiedersehen würde. Ich kreuzte die Hände auf meiner Brust und nickte ihm zu. Es war nicht Vergebung, die ich ihm schickte. Es war Mitleid.
Als mein Blick zurück zu Jesus wanderte, sah ich, wie er sich aufbäumte und versuchte, sich aufzurichten, um Luft zu bekommen – ein Anblick, der mich fast zusammenbrechen ließ. Danach verlor ich jegliches Zeitgefühl. Ich wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergingen. Immer wieder versuchte Jesus, sich zu strecken, und schnappte nach Luft.
Donner grollte über dem Ölberg. Salome und die drei Marias knieten auf dem Boden und stimmten Psalmen an, während ich Jesus von jenem dunklen, kummervollen Tor meines Herzens aus beobachtete, ohne ein einziges Wort zu sagen. Von Zeit zu Zeit murmelte Jesus etwas, doch ich konnte nicht hören, was er sagte. Er schien so weit, weit weg zu sein, und so allein. Zweimal versuchte ich, zu ihm zu gelangen, und beide Male drängten mich die Soldaten ab. Einmal versuchte auch
ein Mann, sich Jesus zu nähern, und rief: »Jesus, Meister«, doch auch er wurde abgewiesen. Als ich mich nach Judas umschaute, war er verschwunden.
Es war Nachmittag, als die Soldaten, gelangweilt vom langsamen Sterben ihres Opfers, ihren Posten verließen und sich etwas abseits hinhockten und mit einem Würfelspiel begannen. Ich zögerte keinen Moment und lief zu ihm hin. Als ich dort unter dem Kreuz stand, war die plötzliche Nähe zu Jesus wie ein Schock. Er bekam kaum noch Luft, sein Atem rasselte. Seine Beine zuckten. Er war schweißüberströmt, eine große Hitze ging von ihm aus. Ich streckte die Hand nach dem Holz aus, zog sie erschrocken wieder zurück.
Dann atmete ich tief durch und hob den Blick zu ihm. »Jesus.« Sein Kopf sank auf die Schulter, und ich sah, dass er mich anblickte. Er sprach kein Wort, ebenso wenig wie ich, doch später sagte ich mir, dass alles, was jemals zwischen uns geschehen war, in jenem Moment präsent war, irgendwo verborgen unter der Qual.
Maria eilte zu ihm, gefolgt von den anderen. Sie schlang die Hände um die Füße ihres Sohnes, so behutsam, als hielte sie einen kleinen Vogel, der aus seinem Nest gefallen war. Auch ich legte meine Hände darüber, die anderen Frauen taten es uns nach. Unsere Hände sahen aus wie die Blätter einer Lotusblüte. Keine von uns weinte. Stumm und tief ergriffen standen wir da und boten ihm die Blüte unserer Hände dar.
Die Soldaten waren so versunken in ihr Glücksspiel, dass sie uns nicht verscheuchten.
Es schien ihnen gleichgültig zu sein, dass wir dort standen. Wir sahen, wie Jesus’ Augen glasig wurden, wie entrückt. Ich spürte den Moment kommen, den Moment, der das Band durchtrennt. Er kam sanft, wie eine Berührung an der Schulter.
»Es ist vollbracht«, sagte Jesus.
Aus den dunklen Wolken kam ein Geräusch wie Flügelschlagen, und ich wusste, seine Seele hatte ihn verlassen. Ich stellte sie mir wie einen großen Vogelschwarm vor, der auf und davon flog, sich zerstreute und
sich anderswo, irgendwo und überall, niederließ.
5.
Beim Schein zweier Öllampen bereiteten wir Jesus auf die Bestattung vor. Als ich dort auf dem Höhlenboden neben seinem Leichnam kniete, fühlte ich mich seltsam benommen, wie betäubt. Wie konnte das mein Ehemann sein?
Ich blickte zu den anderen Frauen im Felsengrab, als beobachtete ich sie von einer Ecke des Himmels aus. Maria, seine Mutter, wusch seine Füße und Beine, während die anderen Klagelieder sangen. Ihre Gesichter waren tränennass, ihre Stimmen hallten an den Höhlenwänden wider. Ein Handtuch und ein Krug Wasser standen neben mir und warteten darauf, von mir benutzt werden, um Jesus auf die Bestattung vorzubereiten. Nimm das Handtuch. Nimm es.
Doch als mein Blick auf das Tuch fiel, überkam mich Panik. Ich begriff, wenn ich jetzt dieses Handtuch nahm und Jesus berührte, dann würde ich von meinem Platz dort oben am Himmel hinabstürzen. Sein Sterben würde Wirklichkeit werden. Die Trauer würde mich verschlingen.
Mein Blick wanderte über die Gebeine, die im hinteren Teil der Höhle aufgestapelt waren – fein säuberlich getrennt in Schädel, Rippen, lange Knochen, kurze Knochen, Finger, Zehen –, unzählige Verstorbene, die hier in trauter Gemeinschaft ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Wie es schien, hatte niemand, der hier bestattet war, die Mittel gehabt, um sich ein eigenes Ossuarium für seine sterblichen Überreste zu leisten. Es war ein Armengrab.
Wir konnten froh sein, überhaupt ein Grab zu haben, denn bei den Römern war es Sitte, einen Gekreuzigten wochenlang am Kreuz hängen zu lassen und dann den Leichnam zur endgültigen Verwesung in eine Grube zu werfen. Auch an Jesus hätte man dieses grausame Ritual vollzogen, wäre da nicht dieser Fremde gewesen, der Erbarmen zeigte.
Der Mann war kaum älter als Jesus, trug ein kostspieliges Gewand
und einen aufwändig gefärbten blauen Hut. Kurz nachdem einer der Soldaten Jesus die Lanze in die Seite gestochen hatte, um seinen Tod festzustellen, war der Mann auf uns zugetreten. Was der Soldat getan hatte, war so schrecklich und abstoßend gewesen, dass ich mich abwenden musste und fast mit dem Mann zusammengestoßen wäre. Seine Augen waren rot und von einem Tränenschleier überzogen.
Er sagte: »Ich habe ein Felsengrab nicht weit von hier entfernt gefunden. Wenn ich den Zenturio dazu bewegen kann, uns Jesus’ Leichnam zu überlassen, werden meine Diener ihn dorthin bringen.«
Ich sah ihn prüfend an. »Wer seid Ihr, Herr?«
»Ich bin einer von Jesus’ Anhängern. Mein Name ist Joseph, und ich komme aus Arimathäa. Ihr Frauen seid wohl seine Familie.«
Maria trat nach vorne. »Ich bin seine Mutter.«
»Und ich bin seine Frau«, erklärte ich ihm. »Eure Freundlichkeit ist willkommen.«
Er verbeugte sich leicht und ging davon, zog eine Geldbörse aus der Schärpe seines Gewandes. Ich sah, wie er dem Zenturio zunächst einen Denar in die Hand drückte und das Geld auf der offenen Handfläche des Römers schließlich zu einer silbernen Säule heranwuchs.
Als Joseph zu uns zurückkehrte, hielt er uns einige Münzen hin. »Geht in die Stadt und besorgt alles, was Ihr braucht, um den Leichnam für die Bestattung vorzubereiten. Doch Ihr müsst Euch beeilen. Der Zenturio will, dass der Leichnam schnell von hier wegkommt.« Er spähte gen Himmel, wo es allmählich dunkel wurde. »Und er muss vor Sonnenuntergang begraben werden. Der Sabbat steht kurz bevor.«
Salome nahm die Münzen entgegen und packte Maria von Bethanien an der Hand, zog sie den Hügel hinab. »Wir warten hier auf Euch. Macht schnell!«, rief Joseph hinter ihnen her.
Hier warfen nun die Öllampen ein flackerndes Licht auf die Wände der Höhle, auf Jesus’ Haut. Seine Haut. Seine.
Ich streckte die Hand aus und berührte sie, strich sanft mit den Fingern über die Innenseite seines Ellbogens. Dann feuchtete ich das Tuch an und begann, den Schmutz und das Blut von seinen Händen, seinen Armen, der Brust und dem
Gesicht zu wischen, aus den Muscheln seiner Ohren und den Falten seines Halses. Und ich spürte, wie ich fiel, tiefer und tiefer, hinein in einen Schmerz, der grenzenlos und unfassbar war.
Wir salbten seine Haut mit Olivenöl und ein wenig Myrrhe, mehr hatten wir nicht. Es war das einzige süße Duftkraut, das Salome zu so später Stunde in der Stadt aufgetrieben hatte, sehr zum Kummer Marias. »Wenn der Sabbat vorüber ist«, hatte sie gesagt, »kehren wir noch einmal zum Grab zurück und salben ihn so, wie es sich gehört, mit Nelken und Aloe und Minze.«
Ich sah, wie Salome ihm mit einem zerbrochenen Holzkamm durch das Haar fuhr. Ich war Zeugin seines grausamen Todes gewesen und hatte keine einzige Träne geweint, doch jetzt, als ich sah, wie der Kamm durch seine Locken glitt, weinte ich leise und bitterlich.
Maria Magdalena packte die Kante des Leichentuchs und zog es langsam über ihn, doch im allerletzten Moment, bevor sein Gesicht vor mir verborgen wurde, beugte ich mich hinab und küsste ihn auf beide Wangen.
»In der Ewigkeit sehen wir uns wieder«, flüsterte ich.
6.
An jenem Abend machte Martha das Sabbatmahl zum Leichenschmaus, doch an Essen war nicht zu denken. Wir saßen auf den feuchten Fliesen des Hofes, unter einem Zeltdach aneinandergeschmiegt, während es dunkel wurde und der Regen prasselte. Um uns herum war Stille, eine große, wie betäubte Stille. Seit wir das Grab verlassen hatten, war der Name Jesus nicht mehr gefallen. Wir hatten uns durch die schmale Öffnung des Felsengrabes gezwängt, wo Lavi auf uns wartete und den Felsen vor die Öffnung wälzte. Unsere Stimmen waren dort drinnen geblieben. Dann waren wir langsam nach Bethanien gegangen – erschüttert, erschöpft und stumm vor Entsetzen, ich immer noch barfuß. Lavi trug meine Sandalen.
Nun schaute ich sie alle an – Maria und Salome; Lazarus, Maria und Martha; Maria Magdalena; Tabitha; Lavi. Und sie erwiderten meinen Blick mit ernsten, traurigen Mienen.
Jesus ist tot.
Ich sehnte mich nach Yaltha. Nach Diodora und Skepsis. Ich zwang mich dazu, sie mir vorzustellen, wie sie unter der Tamariske neben dem kleinen Steinhaus saßen, beschwor den Anblick der leuchtend weißen Klippen oben auf dem Hügel herauf, sah den Mareotis-See an seinem Fuße schimmern wie ein Stück Himmel. Es gelang mir, all das ein paar Augenblicke im Kopf zu behalten, bevor die schrecklichen Erinnerungen sich wieder nach vorne drängten. Ich wusste nicht, wie all das, was in mir in Scherben lag, jemals wieder heil werden konnte.
Während die Nacht sich über uns herabsenkte, zündete Martha drei Lampen an und stellte sie in unsere Mitte. Ein honiggelber Schein ergoss sich über die Gesichter, die Wangen schimmerten. Endlich hörte es auf zu regnen. Ein Käuzchen schrie klagend in der Ferne. Meine Kehle wurde eng, und mir war bewusst, das war das Bedürfnis, zu sprechen, eine Geschichte zu erzählen. Sie in die Schwärze der Nacht hinauszurufen, so wie das Käuzchen.
Und so durchbrach ich das Schweigen, erzählte ihnen von dem Brief, den mir Judas geschickt hatte. »Er schrieb, Jesus sei in Gefahr, die Obrigkeit sei hinter ihm her, doch heute weiß ich, dass die größte Gefahr von Judas selbst ausging.« Ich zögerte, verspürte eine Mischung aus Abscheu und Scham. »Es war mein Bruder, der Jesus die Tempelwachen auf den Hals gehetzt hat, sodass diese ihn festnahmen.«
»Woher weißt du das?«, rief Lazarus aus.
»Ich habe ihn heute Morgen im Garten Gethsemane getroffen. Er hat es mir gestanden.«
»Möge Gott ihn zur Strecke bringen«, sagte Martha voller Zorn. Niemand widersprach ihr. Auch ich nicht.
Ich sah ihren entsetzten, erschütterten Mienen an, wie viel Mühe es sie kostete, zu begreifen. Maria Magdalena schüttelte den Kopf, das bernsteinfarbene Licht schimmerte in ihrem Haar. Als sie aufblickte
und mich ansah, fragte ich mich, ob sie wusste, warum ich nicht mit meinem Mann durch die Dörfer und Städte Galiläas gezogen war, so wie sie es getan hatte. Waren die Umstände meines Exils unter seinen Gefolgsleuten bekannt? War ich
unter ihnen bekannt?
»Judas kann Jesus unmöglich verraten haben«, sagte Maria Magdalena. »Er hat ihn geliebt.
Ich war monatelang mit den Jüngern unterwegs. Judas war Jesus zutiefst ergeben.«
In mir regte sich der Stachel. Ich war zwar nicht dabei gewesen, als Jesus predigte, aber ich kannte meinen Bruder. Meine Antwort fiel gereizt aus. »Ich weiß sehr wohl, dass Judas Jesus geliebt hat; er hat ihn wie einen Bruder geliebt. Aber viel mehr noch hat er Rom gehasst.«
Auf einmal wirkte sie niedergeschlagen, und meine Verärgerung war wie weggeblasen. Mir wurde bewusst, dass ich sie nur aus Neid angegriffen hatte, weil ich ihr die Freiheit missgönnte, mit Jesus durchs Land zu ziehen, während ich in Harans Haus in der Falle saß.
»Ich hätte nicht so barsch sein sollen«, sagte ich zu ihr. Sie lächelte, und die kleinen Fältchen um ihre Augen machten sie nur noch schöner.
Dann trat wieder Schweigen ein. Meine Schwiegermutter legte mir eine Hand auf die Schulter und strich mit dem Finger über den Blutfleck auf Jesus’ Umhang. In den zwei Jahren meiner Abwesenheit war Maria schwer gealtert. Ihr Haar wurde silbrig weiß, und ihr Gesicht verwandelte sich langsam in das einer alten Frau – die faltigen, schlaffen Wangen, die schweren Augenlider.
Sie streichelte meinen Arm, was als Geste des Trostes gemeint war, doch sie erweckte damit auch die Gerüche im Stoff des Umhangs zum Leben. Schweiß, Kochdünste, Wein, Nardenöl. Düfte, die so frisch und lebendig waren, dass sie mir einen bitteren Schmerz zufügten, und mir wurde klar, dass ich deshalb mit ihnen über Judas gesprochen hatte, weil ich es nicht ertragen hätte, über Jesus zu sprechen. Ich fürchtete mich davor. Ich fürchtete mich vor der Macht der Worte, die Schmerz entfesseln konnten, an Orten, wo man ihn nicht erwartet hätte.
Dennoch gab es noch so viel zu sagen, zu verstehen. Ich richtete mich auf. »Heute Morgen war ich auf dem Weg zum Palast, als ich Jesus
auf der Straße begegnete und er diesen Balken trug. Ich weiß nichts darüber, warum man ihn verurteilt hat oder warum er diese schreckliche Dornenkrone auf dem Kopf hatte.« Ich schaute in die Runde der Frauen, die zusammen mit mir den Hügel von Golgatha erklommen hatten. »War denn eine von euch dabei, als er Pilatus vorgeführt wurde?«
Maria Magdalena beugte sich zu mir. »Wir waren alle dort. Als wir ankamen, hatte sich bereits eine große Menge vor dem Palast versammelt, und Jesus stand im Vorhof, von wo der römische Statthalter seine Ratschlüsse verkündet. Pilatus verhörte ihn, doch an der Stelle, wo wir standen, war nichts von dem zu hören, was gesagt wurde.«
»Auch wir konnten ihn nicht hören«, sagte Salome. »Allerdings gab Jesus auf die meisten Fragen, die Pilatus ihm stellte, sowieso keine Antwort. Man konnte sehen, wie sehr das den Statthalter verärgerte. Irgendwann schrie er, jetzt werde Jesus zu Herodes gebracht.«
Als sie Antipas’ Namen erwähnte, flammte der Hass in mir auf. Dieser Mann war schuld daran, dass Jesus und ich zwei Jahre getrennt gewesen waren. »Warum sollte Pilatus Jesus zu Herodes schicken?«, fragte ich.
Jetzt ergriff Maria Magdalena das Wort. »Ich hörte einige in der Menge sagen, Pilatus sei es lieber, wenn Antipas das Urteil sprach, damit ihn für den Fall, dass es zu einem Aufstand und gar zu Blutvergießen käme, keine Schuld traf. Wegen eines solchen Vorfalls könne man ihn nach Rom zurückbeordern. Folglich wasche er lieber seine Hände in Unschuld und überlasse dem Tetrarchen diese unangenehme Aufgabe. Wir warteten dort vor dem Palast, um zu sehen, was geschehen würde, und einige Zeit danach kam Jesus wieder heraus, mit der Dornenkrone auf dem Kopf und einem purpurroten Umhang um die Schultern.«
»Es war schrecklich, Ana«, sagte Salome. »Antipas hatte Jesus so ausstaffiert, um ihn als König der Juden zu verspotten. Pilatus’ Soldaten verbeugten sich vor ihm und lachten. Ich konnte sehen, dass man ihn
gegeißelt hatte – er konnte sich kaum auf den Beinen halten, hielt aber dennoch den Kopf kerzengerade und verzog keine Miene, als sie sich über ihn lächerlich machten.« Der Drang zu weinen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Wer hat ihn denn dann zum Tode verurteilt – Antipas oder Pilatus?«, fragte Lazarus, der wieder und wieder die Faust ballte.
»Es war Pilatus«, sagte Maria Magdalena. »Er sprach zur Menge und sagte, an Pessach sei es Sitte, einen Gefangenen zu begnadigen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Hoffnung ich auf einmal schöpfte, denn ich dachte, jetzt würde er Jesus freilassen. Stattdessen fragte er die Menge, wer es denn nun sein solle, Jesus oder jemand anders. Wir Frauen waren getrennt vor dem Palast erschienen, doch inzwischen hatten wir einander gefunden und riefen Jesus’ Namen, so laut wir konnten. Doch es waren auch viele Anhänger eines Mannes namens Barabbas anwesend, eines Zeloten, der wegen aufrührerischer Tätigkeit in der Burg Antonia festgehalten wird. Sie schrien so lange seinen Namen, bis man nichts anderes mehr hörte.«
Die Erkenntnis, dass Jesus hätte gerettet werden können, was am Ende aber nicht geschah, traf mich wie ein Messerstich. Wäre ich doch nur da gewesen … hätte ich doch nicht verschlafen … und wäre ich nicht im Garten Gethsemane aufgehalten worden, dann wäre auch ich dort gewesen, um seinen Namen zu rufen.
»Es ging alles so schnell«, sagte Maria, an mich gewandt. »Pilatus zeigte mit dem Finger auf Jesus und rief: ›Kreuzigt ihn!‹«
Ich schloss die Augen, um das Bild zu verscheuchen, das mich so quälte und das doch Mauern, Augenlider und jedes andere denkbare Hindernis durchdrang, und ich sah meinen Liebsten, wie er auf römisches Holz genagelt wurde, wie er den Kopf hob und verzweifelt nach Luft rang.
So war das also, um seinen Ehemann zu trauern?
Eine Erinnerung stieg in mir auf, eine kleine, törichte Erinnerung. »Maria, erinnerst du dich noch, wie Judith Delilah gegen einen Stoffballen eingetauscht hat?«
»Ich erinnere mich gut«, sagte Maria. »Ich habe dich nie so verzweifelt gesehen.«
Ich blickte in die Runde, weil ich wollte, dass sie mich verstanden. »Wisst ihr, meine Aufgabe war es, mich um die Tiere zu kümmern, und Delilah war mehr als nur eine Ziege; sie war mein Haustier.«
»Und jetzt ist sie mein
Haustier«, sagte Maria.
Einen Augenblick lang freute ich mich – Delilah war also immer noch da und wurde gehegt und gepflegt. »Judith hasste diese Ziege«, sagte ich.
»Ich glaube, was sie hasste, war, wie sehr du sie geliebt hast«, warf Salome ein.
»Es ist wahr, dass Judith mich kaum mehr mochte als Delilah, doch dass sie die Ziege nach Sepphoris bringen und sie verkaufen würde, ohne mir etwas zu sagen – damit hatte ich nicht gerechnet. Als ich sie dafür zur Rede stellte, sagte sie, der Stoff, den sie gegen die Ziege eingetauscht habe, sei feinstes Leinen, besser als alles, was sie selbst weben könne, und dass Jakobus kürzlich eine neue, jüngere Ziege mit nach Hause gebracht habe, weshalb Delilah nicht mehr gebraucht werde.«
Alle schienen sich zu fragen, warum ich ihnen eigentlich all das erzählte. Mit einer Tragödie umzugehen ist schwierig
, las ich in ihren Mienen. Gerade hat man ihren Mann gekreuzigt – lasst sie doch sagen, was ihr in den Sinn kommt, so sonderbar es auch sein mag.
Ich fuhr fort: »Am selben Tag, als Judith Delilah eingetauscht hatte, kam Jesus nach einem langen, anstrengenden Marsch aus Kapernaum zurück, wo er die ganze Woche gearbeitet hatte. Ich war am Boden zerstört. Es war später Nachmittag, er hatte nichts gegessen, und doch kehrte er um, ging den ganzen Weg nach Sepphoris und kaufte Delilah mit dem Geld, das er in jener Woche verdient hatte, zurück.«
Marias Augen glitzerten. »Er kam durch das Tor und trug Delilah auf seinen Schultern!«
»Ja, das tat er!«, rief ich aus. »Er hat sie mir zurückgebracht.«
Ich sah ihn immer noch vor mir, wie er grinsend durch den Hof auf
mich zukam, mit der laut meckernden Delilah auf den Schultern, und auf einmal erschien mir dieses Bild von ihm ebenso lebendig wie das seiner Kreuzigung. Ich legte den Kopf in den Nacken und holte so tief Luft, wie ich nur konnte. Über uns hing eine zerklüftete Wolkenbank, der Mond irgendwo dahinter verborgen. Das Käuzchen war weggeflogen.
»Erzähl ihnen, was dann passiert ist«, sagte Maria.
Eigentlich hatte ich nichts mehr sagen wollen, kam ihrem Wunsch dann aber gerne nach. »In der darauffolgenden Woche färbte Judith ihr neues, schönes Stück Leinen und hängte es zum Trocknen im Hof auf. Ich erlaubte Delilah oft, den engen Stall zu verlassen und sich frei auf dem Hof zu bewegen, solange das Tor verschlossen war. Mir wäre nicht einmal im Traum eingefallen, dass sie Judiths Stoff fressen würde, doch sie tat es. Sie fraß ihn vollständig auf.«
Maria lachte. Dann lachten wir alle. Es war etwas so Erleichterndes in diesem Lachen, als hätten wir auf einmal viel mehr Raum um uns herum. Gehörte denn auch das Lachen zur Trauer?
Martha goss den letzten Wein in unsere Becher. Wir waren erschöpft und niedergeschlagen und sehnten uns danach, unseren Kummer durch Schlaf zu betäuben, und doch blieben wir noch sitzen, weil wir es einfach nicht schafften, uns voneinander zu trennen. Unser Beisammensein war wie eine Zuflucht.
***
ES GING AUF MITTERNACHT ZU,
als eine Stimme vom Tor ertönte. »Ich bin’s, Johannes, ein Jünger von Jesus!«
»Johannes!«,
rief Maria Magdalena und sprang auf, um Lazarus zum Tor zu begleiten.
»Was könnte so dringlich sein, dass er so spät in der Nacht und auch noch am Sabbat hier auftaucht?«, fragte Martha.
Johannes trat in den Schein unserer Lampen und ließ seinen Blick über die Runde schweifen, bis er schließlich auf mir zu ruhen kam. Jetzt
wusste ich, woher ich ihn kannte. Er war einer der vier Fischer, die vor all den Jahren mit Jesus aus Kapernaum zu uns nach Hause gekommen waren und bis spät in die Nacht mit ihm im Hof gesprochen hatten. Damals war er ein schlaksiger, junger, bartloser Mann gewesen, doch jetzt stand ein breitschultriger Hüne mit nachdenklichen, tief in den Höhlen liegenden Augen und einem lockigen Bart vor uns.
Bei näherem Hinsehen wurde mir auch bewusst, dass ich ihn früher am Tag in Golgatha gesehen hatte. Er war der Mann, der auf Jesus zugegangen war, als er am Kreuz hing, und der wie ich von den Soldaten zurückgewiesen worden war. Ich schenkte ihm ein trauriges Lächeln. Er war der Jünger, der geblieben war.
Johannes ließ sich auf den Steinfliesen des Hofes nieder, während Martha geistesabwesend etwas von leer getrunkenen Weinschläuchen murmelte und unserem Gast schließlich ein Glas Wasser vorsetzte.
»Was bringt dich hierher?«, fragte Maria von Bethanien.
Er richtete den Blick auf mich, und seine Miene wurde ernst. Ich saß zwischen Maria und Tabitha und ergriff beider Hände.
»Judas ist tot«, sagte Johannes. »Er hat sich an einem Baum aufgehängt.«
7.
Ich muss gestehen, dass ein Teil meines Herzens meinem Bruder den Tod gewünscht hatte. Als Judas Jesus an die Tempelwachen übergab, hatte er eine heilige Grenze in mir überschritten. Als er in Golgotha dort in der Ferne stand, hatte ich ihm zeigen wollen, dass ich mich seiner erbarmte, doch danach war im Grunde nur noch Hass in mir gewesen.
In jenen sprachlosen, verwirrenden Momenten, während Maria, Salome und die anderen warteten, wie ich auf die Nachricht vom Tode Judas’ reagieren würde, ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass Jesus vermutlich versucht hätte, selbst den abtrünnigen,
mörderischen Judas zu lieben. Als ich mich einmal bei ihm darüber beklagt hatte, was Judith mir wieder angetan hatte, und verkündete, dass ich sie hasste, hatte er gesagt: »Ich weiß, Ana. Sie ist schwierig. Du musst keine Liebe für sie empfinden. Versuch nur, mit Liebe zu handeln.«
Doch er war Jesus, und ich war Ana. Ich war noch nicht bereit, meine Feindseligkeit gegenüber Judas loszulassen. Irgendwann würde ich das tun, doch in dem Moment rettete sie mich. Sie ließ weniger Raum für Schmerz in mir.
Das Schweigen hielt an. Niemand schien zu wissen, was er sagen sollte. Schließlich ergriff Maria von Bethanien das Wort. »Ach, Ana, was für ein schrecklicher Tag für dich. Zuerst dein Mann, jetzt dein Bruder.«
Etwas an diesen Worten entfachte Wut in mir. Als könnte man Jesus und Judas im selben Atemzug nennen, und als wäre der Verlust, den ich mit dem Tod beider erlitten hatte, miteinander vergleichbar! Doch sie meinte es gut, das wusste ich. Ich stand auf und lächelte sie alle an. »Eure Anwesenheit war der einzige Trost an diesem Tag, doch jetzt bin ich am Ende meiner Kräfte und ziehe mich zurück, um zu schlafen.« Ich beugte mich zu Maria und Salome und küsste sie. Tabitha erhob sich und folgte mir.
Ich rollte mich auf der Matte in Tabithas Zimmer zusammen, fand jedoch keinen Schlaf. Als sie hörte, wie ich mich hin und her wälzte, griff meine Freundin zur Lyra und spielte, in der Hoffnung, mich in den Schlaf zu wiegen. Während die süßen Klänge in der Dunkelheit schwebten, stieg eine tiefe Traurigkeit in mir auf. Ich trauerte um meinen Liebsten, doch ich trauerte auch um meinen Bruder. Nicht um den Judas, der Jesus verraten hatte, sondern um den Jungen, der sich nach seinen Eltern sehnte, der die Zurückweisung durch unseren Vater ertrug, den Judas, der mich mitgenommen hatte, wenn er seine Streifzüge durch die galiläischen Hügel unternahm, und der immer meine Partei ergriffen hatte. Ich trauerte um den Judas, der dem verletzten Tagelöhner meinen Armreifen gegeben hatte, der Nathaniels Dattelhain abgebrannt und Widerstand gegen Rom geleistet hatte. Das
war der Judas, den ich liebte. Und für ihn barg ich mein Gesicht in die Beuge meines Armes und weinte.
8.
Als ich am Morgen danach erwachte, schien die Sonne, und der Himmel war gleißend hell. Tabithas Matte war leer, und der Duft von frisch gebackenem Brot lag in der Luft. Ich setzte mich auf, überrascht, dass es schon so spät war, und vergaß für einen kurzen seligen Augenblick all das Schreckliche, was der gestrige Tag gebracht hatte. Dann war alles wieder da und legte sich wie ein großer Stein auf meine Brust, sodass ich kaum Luft bekam. Wieder einmal wünschte ich mir meine Tante herbei. Ich hörte die Frauen draußen auf dem Hof, ihren weichen Singsang, doch ich wollte nur Yaltha.
Einen Moment lang stand ich in der Tür und versuchte, mir vorzustellen, was sie wohl zu mir sagen würde, wenn sie hier wäre. Mehrere Minuten vergingen, bevor ich mir gestattete, an jenen Abend in Alexandria zurückzudenken, als Lavi mir die Nachricht überbracht hatte, dass man Johannes den Täufer geköpft hatte, und ich von der Angst, Jesus zu verlieren, überwältigt worden war. »Alles wird gut«, hatte Yaltha damals zu mir gesagt, und als ich sie zurechtwies, wie abgeschmackt und oberflächlich dies in meinen Ohren klinge, hatte sie gesagt: »Ich meine nicht damit, dass das Leben dir keine Tragödien bringen wird. Ich meine nur, dass es dir trotz allem gut gehen wird. Es gibt einen Ort in dir, der unzerstörbar ist. Du wirst deinen Weg dorthin finden, wenn du es musst. Und dann wirst du wissen, wovon ich spreche.«
Ich legte mir Jesus’ Umhang über die Schultern und trat hinaus. Meine Füße waren wund, nachdem ich barfuß über Golgathas Steine gegangen war.
Lavi hockte in der Nähe des Ofens und packte seinen Reisebeutel. Ich sah ihm dabei zu, wie er Brot, Pökelfisch und mehrere Wasserschläuche
darin verstaute. Bei all dem, was geschehen war, hatte ich ganz vergessen, dass er abreisen würde. Das Schiff, auf dem wir aus Alexandria gekommen waren, würde in drei Tagen zurücksegeln. Um es zu erreichen, musste Lavi früh am nächsten Morgen nach Joppa aufbrechen. Diese Erkenntnis erschütterte mich. Maria, Salome, Martha, Maria von Bethanien und Maria Magdalena saßen im Schatten nahe der Mauer, von der aus man ins Tal schaute. Obwohl der Sabbat noch bis zum Sonnenuntergang andauerte, schien Tabitha mit einer Flickarbeit beschäftigt zu sein, und Martha knetete Teig. Tabitha bedeutete die Sabbatregel, nach der jegliche Arbeit an diesem Tag verboten war, vermutlich nicht viel, doch Martha war immer fromm gewesen und hatte sie getreulich befolgt. Als ich mich zu den Frauen gesellte und auf dem warmen Boden neben meiner Schwiegermutter Platz nahm, sagte Martha: »Ja, ich weiß, dass ich eine Sünde begehe, doch mich tröstet es, Brot zu backen.«
Am liebsten hätte ich gesagt: Wenn ich Tinte und Papyrus hätte, würde ich mit Freuden mit dir sündigen,
doch stattdessen schenkte ich ihr mein verständnisvollstes Lächeln.
Als ich zu Tabitha schaute, sah ich, dass sie meine Sandale nähte.
»Morgen, wenn es hell wird, kehren wir zum Grab zurück, um Jesus’ Salbung zu Ende zu bringen. Maria und Martha haben uns mit Aloe, Nelken, Minze und Weihrauch versorgt.«
Eigentlich hatte ich mich bereits am Tag zuvor endgültig von Jesus verabschiedet, als ich ihn dort im Felsengrab auf beide Wangen geküsst hatte. Der Gedanke, den schmerzhaften Prozess noch einmal zu wiederholen, war herzzerreißend und brachte mich schier aus der Fassung, doch ich nickte.
»Ich hoffe sehr, dass sich eine von euch erinnert, wo das Grab genau liegt«, sagte Maria. »Ich war viel zu erschüttert, um es mir zu merken, und es waren so viele Höhlen da.«
»Ich glaube, ich kann es finden«, sagte Salome. »Ich habe mir den Weg gemerkt.«
Maria wandte sich wieder mir zu. »Ana, ich denke, du, Salome und
ich sollten die sieben Trauertage hier in Bethanien verbringen, bevor wir wieder nach Nazareth zurückkehren. Ich muss Jakobus und Judith nach ihren Wünschen fragen, aber ich bin mir sicher, sie sind einverstanden. Wäre dir das recht?«
Nazareth.
Wenn ich diesen Namen hörte, sah ich den Hof aus gestampftem Lehm mit dem einzelnen Olivenbaum vor mir. Ich sah das winzige Zimmer, in dem ich mit Jesus gelebt hatte, wo ich Susanna auf die Welt gebracht und meine Zauberschale versteckt hatte. Ich sah den kleinen Lagerraum, in dem Yaltha geschlafen hatte. Den Handwebstuhl, auf dem ich Unmengen löchrigen Stoff gewebt und den Ofen, in dem ich unzählige Laibe Brot verbrannt hatte.
In der Runde wurde es still. Ich spürte Marias Blick auf mir. Ich fühlte all ihre Blicke auf mir, doch ich starrte auf meinen Schoß hinab. Wie würde es wohl sein, wieder in Nazareth zu leben, jedoch ohne Jesus? Jakobus war der Älteste und damit das Familienoberhaupt, und mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht beschloss, mir einen neuen Ehemann zu suchen, so wie er das bei Salome getan hatte, als sie Witwe geworden war.
Und da war die Bedrohung durch Antipas. In seinem Brief hatte Judas geschrieben, die Gefahr für mich in Galiläa sei geringer geworden, jedoch noch nicht ganz verschwunden. Ich stand auf und entfernte mich ein paar Schritte von ihnen. Ich fühlte Wassermassen in mir aufsteigen, höher und höher. Dann endlich brachen alle Dämme, und zurück blieb die Erkenntnis, die ich so lange verleugnet hatte. Nazareth war nie mein Zuhause gewesen. Jesus war mein Zuhause gewesen.
Nun, da er nicht mehr da war, lag mein Zuhause auf einem kleinen Hügel in Ägypten. Es waren Yaltha und Diodora. Es waren die Therapeutae. Wo sonst konnte ich nach Herzenslust schreiben? Wo sonst konnte ich mich sowohl um eine Bibliothek als auch um die Tiere kümmern? Wo sonst konnte ich leben und nur das tun, was mein Herz mir sagte?
Ich holte tief Luft, und es fühlte sich ein wenig so an, als würde ich
nach Hause kommen.
Auf der anderen Seite des Hofes sah ich Lavi, der seinen Reisebeutel mit einem Lederriemen verschloss. Mich durchströmte die Angst, Maria zu enttäuschen, sie zu kränken, sie zu verlassen.
Meine Schwiegermutter rief nach mir. »Ana, was ist denn los?«
Ich ging zu ihnen zurück und nahm neben Maria Platz. »Du hast nicht vor, nach Nazareth zurückzukehren, richtig?«, sagte sie.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nach Ägypten gehen, um den Rest meines Lebens mit meiner Tante zu verbringen. Dort gibt es eine Gemeinschaft von spirituellen Denkern und Philosophen, bei denen ich leben werde.«
Ich sagte es sanft, jedoch ohne mich zu rechtfertigen, und wartete dann darauf, was sie wohl sagen würde.
»Gehe hin in Frieden, Ana«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Denn genau dafür wurdest du geboren.«
Diese elf Worte waren Marias größtes Geschenk an mich.
»Erzähl uns von diesem Ort, an dem du leben wirst«, bat Salome.
Ihre Bitte traf mich unvorbereitet, denn es hatte mich selbst überrascht, dass ich schon so bald aufbrechen würde, und ich konnte es kaum erwarten, es Lavi mitzuteilen und selbst Reisevorbereitungen zu treffen, doch ich tat mein Bestes, sie über die Therapeutae aufzuklären, die Gemeinschaft, die alle neunundvierzig Tage die ganze Nacht lang tanzte und sang. Ich beschrieb die Steinhäuschen, die verstreut auf einem Hügel standen, den See zu ihren Füßen, die Klippen darüber, und dahinter das Meer. Ich erzählte ihnen von dem heiligen Raum, wo ich meine eigenen Schriften verfasst und sie zu Kodizes gebunden hatte, von der Bibliothek, die ich wiederaufbauen wollte, und dem Loblied an Sophia, das ich geschrieben und vorgetragen hatte. So redete und redete ich und spürte, wie sehr ich mich nach diesem Zuhause sehnte.
»Nimm mich mit«, sagte eine Stimme.
Wir alle drehten uns um und sahen Tabitha an. Kurz fragte ich mich, ob sie es vielleicht nur scherzhaft gemeint hatte, doch aus ihrem Blick
sprach tiefster Ernst. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
»Tabitha!«, ermahnte Martha sie. »All die Jahre bist du uns eine Tochter gewesen, und dann willst du einfach einer Laune folgen und uns verlassen, nur um an einen Ort zu reisen, den du überhaupt nicht kennst?«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, sagte Tabitha. »Aber auch ich habe das Gefühl, dorthin zu gehören.« Vor Aufregung wurde ihre Stimme undeutlich, einzelne Silben vermengten sich oder blieben ganz aus. Doch sie bemühte sich nach Kräften, sich uns verständlich zu machen.
»Aber du kannst doch nicht einfach weg«, sagte Martha.
»Und wieso eigentlich nicht?« Meine Frage brachte Martha zum Verstummen.
Ich schaute Tabitha an. »Wenn du es wirklich ernst meinst, mitzukommen, solltest du wissen, dass das Leben bei den Therapeutae nicht nur aus Singen und Tanzen besteht. Es gibt jede Menge Arbeit, es wird gefastet, es wird studiert und gebetet.« Ich ließ auch Haran und die jüdische Miliz nicht unerwähnt, die danach getrachtet hatten, mich festzunehmen. »Und du musst auch eine Sehnsucht nach Gott verspüren«, sagte ich zu ihr. »Sonst wird man dich nicht aufnehmen. Es wäre nicht recht von mir, wenn ich dir diese Dinge verschweigen würde.«
»Ich hätte nichts dagegen, Gott an jenem Ort zu finden«, sagte Tabitha. Sie schien sich beruhigt zu haben, denn jedes ihrer Worte war klar und deutlich. »Könnte ich ihn nicht in der Musik suchen?«
Skepsis würde Tabitha willkommen heißen, da war ich mir sicher. Sie würde sie allein aufgrund dieser Frage, die meine alte Freundin gerade gestellt hatte, aufnehmen, und wenn nicht, würde sie es meinetwegen tun. »Ich kann mir keinen Grund denken, warum du nicht mit uns kommen solltest«, sagte ich.
»Habt ihr denn genügend Geld für die Überfahrt?«, fragte Martha. Die praktische Martha.
Tabitha machte große Augen. »Ich habe mein ganzes Geld für das
Nardenöl ausgegeben.«
Ich überschlug rasch im Kopf, wie viel Geld mir noch geblieben war. »Tut mir leid, Tabitha, aber ich habe gerade noch genug Drachmen für Lavis Überfahrt und meine eigene.« Warum hatte ich nicht vorher daran gedacht, bevor ich sie ermutigt hatte?
Martha machte ein Geräusch, eine Art Räuspern, das klang wie ein Triumph. »Nun, dann können wir von Glück reden, dass ich
das Geld habe.« Sie lächelte mich an. »Ich wüsste nicht, warum sie nicht einfach fahren soll, wenn sie sich das so sehr wünscht.«
Meine Sandale lag in Tabithas Schoß, geflickt und bereit für den langen Fußmarsch nach Joppa. Sie reichte sie mir und umarmte Martha. »Wenn ich mehr Nardenöl hätte, würde ich dir die Füße salben.«
***
AM NÄCHSTEN MORGEN SCHLÜPFTEN
Lavi, Tabitha und ich vor Morgengrauen aus dem Haus, während die anderen noch schliefen. Am Tor blickte ich noch einmal zurück und dachte an Maria. »Lass uns nicht Lebwohl sagen«, hatte sie mir noch am Vorabend gesagt. »Wir werden uns ganz gewiss wiedersehen.« Es war keine Floskel gewesen, in ihren Worten hatte so viel Hoffnung und Zuversicht gelegen, dass ich selbst daran glauben wollte. Doch es sollte sich nicht bewahrheiten – wir würden uns nicht wiedersehen.
Der Mond war schmal geworden und stand nur noch als dünne Sichel am Himmel. Während wir dem Fußweg ins Hinnom-Tal folgten, begann Tabitha zu summen, denn sie konnte ihre Freude einfach nicht mehr für sich behalten. Ihre Lyra hatte sie sich auf den Rücken gebunden, sodass deren geschwungene Arme rechts und links hinter ihren Schultern hervorschauten wie Flügel. Auch ich freute mich darüber, nach Hause zu gehen, doch neben meiner Freude empfand ich auch Kummer. Das hier war das Land meines Mannes und meiner Tochter. Ihre Gebeine würden für immer hier ruhen. Jeder Schritt, der mich von ihnen
entfernte, tat meinem Herzen weh.
Als wir an der östlichen Stadtmauer von Jerusalem vorbeigingen, betete ich, dass es noch ein wenig länger dunkel sein möge, bis wir den römischen Hügel, wo Jesus gestorben war, hinter uns gelassen hätten, doch das Licht brach sich genau in dem Moment Bahn, als wir uns näherten, eine plötzliche, gleißende Helligkeit. Ich gestattete mir, einen allerletzten Blick auf Golgatha zu werfen. Dann richtete ich den Blick zu den Hügeln in der Ferne, wo Jesus begraben war und wohin die Frauen bald gehen würden, um ihn in süße Gewürze zu hüllen.