MEHR ALS ZEHN JAHRE SIND VERGANGEN, seit Gustav Nachtigal und Max Buchner an den Mangrovenufern Dualas den Reichsadler hissten, aber zu einer Kolonie sind die auf der Berliner Konferenz erbeuteten 495000 Quadratkilometer inzwischen nicht geworden und die drei Millionen Angehörigen der mehr als zweihundert Ethnien – abgesehen von den Duala – keine Kolonisierten. Noch immer, klagt der neue Gouverneur Jesko von Puttkamer, »kleben« die Deutschen an der Küste fest. Der Norden Kameruns sei unerschlossen, das Vordringen ins Hinterland infolge »fortwährender Belästigung durch freche und räuberische Eingeborene« mehr oder weniger gescheitert; weitgehend intakt hingegen sei der »berüchtigte Zwischenhandel der Duala, welche seit dem Dahomey-Aufstande sich frecher benahmen denn je«. Vor dem Gouverneur liegt also eine gewaltige Aufgabe: »Man hatte offenbar in Berlin gar keine Vorstellung davon, wie, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln eine Weiterentwicklung der Kolonie herbeizuführen sei und es blieb demnach mir vorbehalten, für diese Entwicklung einen Plan zu entwerfen und die erforderlichen Geldmittel anzufordern.«
Karrieren im Kolonialdienst werden weniger nach Qualifikation und Charakter, eher nach Herkunft und Beziehungen entschieden, und so darf Jesko von Puttkamer am 11. Dezember 1894 als künftiger Gouverneur in die zerschossenen Regierungsgebäude auf der Jossplatte einziehen. Er ist der Sohn des pommerschen Verwaltungsjuristen Robert von Puttkamer, einem der einflussreichsten Politiker in Bismarcks Preußen, seit 1879 preußischer Kultusminister, seit 1881 Innenminister und zugleich Bismarcks Stellvertreter, dessen kompromisslos konservatives »System Puttkamer« der preußischen Beamten- und Richterschaft die Liberalität ausgetrieben hatte. Niemand weiß, welches Talent dem jungen Jesko von Puttkamer die Türen zum Kolonialdienst geöffnet hat, aber auch dem ersten deutschen Gouverneur in Kamerun, Julius von Soden, ist klar, dass sie ohne Vater Robert verschlossen geblieben wären: »Mit Herrn von Puttkamer ist es ein eigen Ding; der hat das Glück, der Sohn eines Ministers zu sein, und wer das für sich hat, der ist schon von vornherein geborgen. Im übrigen ist das Renommee des Herrn von Puttkamer, soviel ich weiß, das denkbar ungünstigste.« Soden kennt Puttkamer aus der gemeinsamen Zeit in Duala. Doch selbst wer den Ministersohn nicht persönlich erlebt hat, kommt kaum zu einem günstigeren Urteil. In der Personalakte Puttkamers in der Berliner Wilhelmstraße befindet sich ein vor seiner Einstellung geschriebener Bericht, in dem es heißt: »Die, welche die Vergangenheit des Herrn v. Puttkamer in Deutschland kennen, würden wohl sicherlich die Köpfe schütteln, und wenn es schlimm geht, heißt es natürlich männiglich: ja, das hätte der Herr Reichskanzler voraussehen können. Daß er in seiner Jugend, sofern er nicht Herr v. Puttkamer und Ministersohn gewesen wäre, sich längst den Hals gebrochen hätte, das wissen Sie ja selbst.« Jesko von Puttkamer ist nicht nur der Sohn eines früheren Ministers, sondern auch Neffe Otto von Bismarcks.
Angesichts der unfreundlichen Beurteilungen ist es für Puttkamer von Vorteil, dass sein Vater – der vom liberalen »99-Tage-Kaiser« Friedrich III. 1888 unverzüglich vor die Tür gesetzt worden war – unter Wilhelm II. Einfluss zurückgewinnt und seit 1891 als Oberpräsident der Provinz Pommern die Karriere seines Sohnes aus der Ferne verfolgt, die ihn nach dem Jura-Studium zuerst an das Kaiserliche Konsulat nach Chicago führt, dann als Stellvertreter Sodens nach Kamerun, als interimistischer Kommissar nach Togoland (ab 1905 Togo), als Konsul nach Lagos, als Kaiserlicher Landeshauptmann wieder nach Togoland und schließlich als Gouverneur nach Kamerun. Er wird elf Jahre bleiben, länger als jeder andere deutsche Gouverneur in dieser Kolonie. Als er es Anfang 1906 als überführter Ganove verlässt, wird der Berliner Volksmund die Kolonie längst als »Puttkamerun« verspotten und sein System als »Puttkamerei«, ein Synonym für grenzenlose Habgier, Landraub und Betrug.
»Das zu erreichende ruhmvolle Ziel« seiner Arbeit hat Puttkamer von Anfang an vor Augen: die militärische Niederwerfung des gesamten Kamerun, die wirtschaftliche Ausbeutung durch deutsche Unternehmen, die Unterwerfung der Afrikaner und ihre Umerziehung zu »Arbeitermaterial«. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Duala, noch vor seiner offiziellen Einführung als Gouverneur am 1. Januar 1895, befiehlt er gemeinsam mit seinem wegen des Leist-Wehlan-Skandals abgelösten Vorgänger Zimmerer eine zweite Strafexpedition nach Buea. Der vulkanische Boden am Fuße des Kamerunbergs ist zum Plantagenbau ebenso hervorragend geeignet wie das gesunde Klima für den künftigen Sitz des Gouverneurs. Rittmeister Max von Stetten, Kommandeur der nach dem Dahomey-Aufstand neuformierten Schutztruppe, und der 24 Jahre alte, bereits in mehreren Strafexpeditionen erprobte Leutnant Hans Dominik führen den Feldzug mit zweihundert schwerbewaffneten Soldaten und vierundsechzig Trägern gegen die Bakwiri. Dieses Mal leisten die Maschinengewehre gründliche Arbeit. Nach der Schlacht resümiert Dominik, dass »der Stamm, der einst die ganze Gravenreuthsche Expedition fast vernichtet hatte, der dem Gouverneur so oft mit frechem Hohn gedroht hatte, bald kaum mehr als dem Namen nach vorhanden war«. Die Bakwiri werden in einem Vertrag gezwungen, ihr Wohngebiet zu verlassen und jederzeit auf Verlangen hundert Arbeiter zu stellen. Mit der Vertreibung der Bakwiri ist, wie Dominik bemerkt, nicht nur das Haupthindernis beseitigt, »welches der Ausdehnung des Plantagenbaus« entgegenstand, auch Plantagenarbeiter werden erbeutet.
Die »Größe der Aufgabe«, vor die sich Puttkamer gestellt sieht, verlangt neben entschlossener Führung loyale Untergebene. Anders als Stetten, der sich vom Gouverneur »fortgeekelt« fühlt und den Kolonialdienst schon bald unter Protest quittiert, erweist sich Dominik schnell als Mann nach Puttkamers Geschmack, der ihn »als Menschen, Kameraden, Gesellschafter und passionierten Afrikaner« schätzt. Vor allem was den angemessenen Umgang mit den Afrikanern angeht, sind sie sich einig. Schon nach wenigen Wochen gemeinschaftlicher Kolonialverwaltung schwärmt der Gouverneur von dem schneidigen Offizier: »Er hatte das den Negern gegenüber einzig richtige Prinzip: Sie müssen wissen, dass ich ihr Herr bin und der Stärkere; solange sie das nicht glauben, müssen sie es eben fühlen, und zwar hart und unerbittlich, so dass ihnen für allezeit das Auflehnen vergeht; ist das erreicht, dann kann man sie mit der grössten Freundlichkeit und Milde behandeln und zu brauchbaren Menschen erziehen.« Auf den Kriegszügen der nächsten Jahre – gegen die Bakoko, gegen die Wute, gegen die Fulbe etc. – geht Dominik derart grausam selbst gegen Frauen und Kinder vor, dass er in der Trommelsprache der Afrikaner bald, wie Dominik nicht ohne Stolz vermerkt, Katakata (»brutaler Kerl«) heißt. Seine Kampfparole ist: »Nicht rechts geschaut, nicht links geschaut, vorwärts gradaus, auf Gott vertraut und durch«. Amüsiert erzählt der Gouverneur, wie er und Leutnant Dominik eines Tages mit einem »wackeren« Häuptling zusammensaßen und der Häuptling fragte: »›Ist es wohl wahr, dass Dominik ein so grosser Krieger ist?‹ Dominik und ich sahen uns an und lachten und ich bejahte des Häuptlings Frage. Nach einer Weile neugierig: ›Ist es wahr, was hier die Leute im ganzen Lande erzählen, dass du Dominik mit ganz wenigen Soldaten zu dem berühmten Ngilla geschickt hast und dass Dominik Ngilla besiegt und seine Stadt zerstört hat?‹ Ich bejahte wieder; da machte der Häuptling ein ganz nachdenkliches Gesicht und sagte mit einem Seufzer: ›Ich habe Dominik noch nie mit meinen Augen erblickt – ich möchte ihn wohl einmal sehen.‹ Ich ging auf die Sache ein, sah erst den Häuptling, dann Dominik ernst an, legte meine Hand auf Dominiks Schulter und erwiderte dem Häuptling ›dies ist Dominik‹; ein einziger langnachhallender Schrei – und der Häuptling war mit seiner ganzen Gesellschaft wie weggefegt und im Busch verschwunden. Nachdem wir uns weidlich ausgelacht hatten, liess ich durch den Dolmetscher ausrufen, sie möchten nur wiederkommen, Dominik wäre jetzt ganz friedlich und satt, er täte jetzt niemandem etwas zuleide.«
In Deutschland gilt Hans Dominik schon bald als Held, er wird einer der berühmtesten Kolonialkrieger des Kaiserrreichs. Es ist bekannt, dass er sich die Köpfe seiner getöteten Gegner in Säcken zu Füßen legen lässt. Aber erst als der Reichstag sich mit Gerüchten beschäftigt, Dominik habe Gefangenen die Geschlechtsteile abschneiden und zweiundfünfzig Kleinkinder in die Nachtigal-Fälle am Sanaga-Fluss werfen lassen, trübt sich das Bild Dominiks in der deutschen Öffentlichkeit ein.
Seinem »ruhmvollen Ziel« ist Puttkamer mit der Schlacht am Kamerunberg einen Schritt näher gekommen. Wenn aber der Plantagenbau an den Abhängen des Gebirges gedeihen soll, ist zuvor die »Landfrage« zu klären, also die Frage nach dem Eigentümer des fruchtbaren Bodens. Würde er irgendeinen Häuptling fragen, schreibt Puttkamer, »wie weit das Land ihm gehört, so zeigt er ganz bestimmt irgendwo im Urwald eine Art Grenze, jenseits deren dann das Gebiet des nächsten Stammeshäuptlings beginnt, so dass es freies oder herrenloses Land nach den Angaben der Eingeborenen überhaupt nicht gibt.« Das sei eine inakzeptable Rechtsauffassung. Zum einen könne von einer »regelrechten Felderbestellung« keine Rede sein, zum anderen bestelle der Afrikaner überhaupt keine Felder, sondern »faulenzt oder führt Kriege mit Nachbarn«, die Afrikanerin hingegen kratze auf einer »kümmerlichen Lichtung« gerade so viel »Jams, Kassada, Makabo und Planten« auf, wie die Familie zur Ernährung brauche: »Diese Art von systematischer Verwüstung des Landes ist natürlich vollkommen kulturfeindlich.« Da sich Puttkamer als Vertreter einer Kulturnation versteht, ist er entschlossen, diesem Treiben ein Ende zu machen: »Ich habe nun diesen Standpunkt von vornherein nicht anerkannt, sondern bin bei Einteilung des Landes nach dem bewährten Grundsatz verfahren, dass nur dasjenige Land Eigentum der Eingeborenen ist, was sie im Augenblick der Auseinandersetzung tatsächlich bebauen.« Das ist der Kern der »Kronlandverordnung«, auf deren Grundlage Puttkamer die am Kamerunberg verbliebene Bevölkerung enteignet, die damit fast ihren gesamten Grund und Boden verliert. Mit ihr wird alles »herrenlose« Land als »Kronland« deklariert und das lebensnotwendige Eigentum jeder einheimischen Familie auf weniger als zwei Hektar beschränkt. Das der kaiserlichen Krone zugefallene Land wird zu Spottpreisen an sogenannte Pflanzungsgesellschaften verkauft, die in den nächsten Jahren aus dem Kamerunberg mit einer Anbaufläche von 90000 Hektar das größte Plantagengebiet Westafrikas machen werden.
Der »Kamerun-Kakao« wird jetzt vor allem von drei großen Gesellschaften nach Deutschland geliefert. Die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Bibundi (WAPB) geht aus bereits bestehenden Anbauunternehmen von Jantzen & Thormählen mit Pflanzungen am Westhang des Kamerunberges hervor; Adolph Woermanns bisher bescheidene Kaufmannsplantage wird zur lukrativen Kamerun-Land-und-Plantagengesellschaft (KLPG); die ertragreichste (zwanzig Prozent Dividende) und bedeutendste ist die Westafrikanische Pflanzungsgesellschaft Victoria (WAPV) des Kölner Juristen und Kaufmanns Max Esser mit einer Konzession für 20000 Hektar besten Bodens im ehemaligen Wohngebiet der Bakwiri. Essers Unternehmen genießt gegenüber den beiden Rivalen einige Vorteile: Gouverneur Puttkamer ist nicht nur ein Freund Max Essers, dessen »Energie, Umsicht und Schaffensfreudigkeit« er schätzt, sondern auch Aktionär der WAPV.
Entsprechend zeigt er für alles Verständnis, was den Erfolg der zivilisatorischen Mission am Kamerunberg begünstigt. So werden die folgenden Überlegungen Thormählens zur Umfunktionierung afrikanischer Kleinbauern in Landarbeiter sogleich für zweckmäßig befunden: »Ich halte es für gänzlich ausgeschlossen, dass Kamerun jemals durch die Tätigkeit der Eingeborenen selbst erschlossen werden könnte. […] Erstens ist der Neger und besonders der Kamerunneger viel zu unselbständig, um in vernünftiger Weise einen rationellen Pflanzungsbetrieb leiten zu können. Zweitens aber ist gerade der Kamerunneger nach meinen Erfahrungen viel zu arbeitsscheu, als dass er sich die Last eines Plantagenbaus aufbürden würde […] Doch kann und muß der Neger auf indirektem Wege zur Arbeit gezwungen werden. […] Der heute noch in kindlicher Albernheit und blödem Stumpfsinn dahin dämmernde Neger wird durch nichts dem civilisierten Menschen näher gebracht werden können, als durch ernste Arbeit.« Das Gouvernement lässt die weitläufigen Dörfer am Kamerunberg räumen und zwangsweise in Reservaten zusammenlegen. Da die Einheimischen sich weder vertreiben lassen noch sich als Plantagenarbeiter verdingen wollen, ist eine gewisse Härte nicht zu vermeiden. Aus dem Bericht eines Kolonialbeamten an Puttkamer: »Euer Hwg. melde ich ganz gehorsamst, dass das Dorf Maomu abgebrannt ist. Die Einwohner waren vorher aufgefordert, mit mir zu verhandeln. Sie liefen jedoch fort und waren trotz Versprechungen und Drohungen nicht dazu zu bewegen zur Unterredung zu kommen. Da sie den Pflanzungsleiter Rehbein an seiner Plantagenarbeit hindern, keine Arbeiter stellen und sich auch sonst widersetzlich zeigen, brannte ich darauf hin das Dorf ab«.
Ganze Ortschaften wandern ab, um der Zwangsarbeit auf den Plantagen zu entgehen, Älteste verlangen in Petitionen das Ende der Schikanen, Häuptlinge werden in Ketten gelegt, wenn Dorfbewohner verdächtigt werden, aus Protest Kakaopflanzen ausgerissen oder Grenzstöcke heimlich versetzt zu haben. Puttkamer bedauert, dass es »unmöglich sei, alle widerspenstigen Häuptlinge aufzuhängen – wir hätten sonst bald überhaupt keine Häuptlinge im Schutzgebiet mehr gehabt«. Im Übrigen liege das Vorgehen des Gouvernements und der Plantagenbesitzer im »wohlverstandenen Eigeninteresse der Eingeborenen«, das gelte auch für die Kinderarbeit auf den Plantagen, gegen die die Basler Mission protestiert: »Und dass hierbei Schule und Mission mitunter zu kurz kamen, lag auf der Hand und wurde in der Mission nicht gern gesehen, die das ora von jeher vor das labora gestellt hat, das Verkehrteste, was es bei der Negererziehung geben kann.« Puttkamers Erziehungskonzept entspricht der Forderung eines Pflanzungsleiters der Deutsch-Westafrikanischen Handelsgesellschaft, der verlangt hat, Kinder aus den Missionsschulen fernzuhalten, da »für bestimmte Arbeiten gerade die Eingeborenen im Alter von 7 bis 15 Jahren die besten, willigsten und fleißigsten Arbeiter sind, bei denen auch Krankheit und Sterben nur vereinzelt zu verzeichnen sind, jedenfalls nie und nirgends in einem Verhältnis wie bei den älteren Arbeitern.«
Aber die Lage verschärft sich, die Einheimischen fliehen, der Druck der Plantagenbesitzer und die Übergriffe ihrer sogenannten Werber nehmen zu, die Kritik der Basler Mission wird lauter, und schließlich, am 14. Februar 1902, erlässt das Gouvernement eine Arbeiterverordnung, die unter anderem die Anwerbung von Arbeitern, sofern sie nicht in unmittelbarer Nähe der Plantagen stattfindet, von seiner schriftlichen Genehmigung abhängig macht, die Werbung auf gesunde und arbeitsfähige Schwarze beschränkt und zur Kontrolle die Einsetzung von Arbeiterkommissaren anordnet. Doch stellt Gouverneur Puttkamer sicher, dass die Anordnung zumindest nicht die Geschäfte des Aktionärs Puttkamer gefährdet, und hält die Arbeiterkommissare von den Plantagen der WAPV fern.
Am 26. Januar 1895, wenige Wochen nach Dienstbeginn Puttkamers, erscheint der junge Diplomat Roger David Casement – ein Ire in englischen Diensten auf dem Heimweg nach London – an Bord der englischen Gouverneursjacht Evangeline in Duala. Puttkamer schätzt an ihm sofort die »vollendeten gesellschaftlichen Formen«, seine Belesenheit und Intelligenz. Mit ihm, erinnert sich Puttkamer, habe sich gut und lange plaudern lassen: »Er erzählte sehr interessant von seinen Fahrten und Erlebnissen im Kongo und weckte in mir mehr und mehr das Verlangen, mir selbst einmal so bald als möglich die Zustände in diesem merkwürdigen, so viel verschrieenen Staatsgebilde anzusehen, wie es ja an sich meine Pflicht als Generalkonsul für die afrikanische Westküste war.«
So unbekannt, wie es Puttkamer darstellt, kann ihm Casement nicht gewesen sein; vielmehr dürfte sein Name der deutschen Kolonialverwaltung in Kamerun spätestens seit seinem öffentlichen Protest gegen die Exekutionen der aufständischen Dahomey-Soldaten im Jahr zuvor geläufig sein. In einem empörten Brief an die Gesellschaft zum Schutz der Aborigines in London hatte er die Brutalität der deutschen Kolonialmacht verurteilt: »Ich vertraue darauf, dass Sie etwas tun können, um in England einen lauten Protest gegen die grausame Haltung der Deutschen zu bewirken. Zwar waren die Männer Soldaten, aber wir alle haben als Menschen die Pflicht und das Recht, die Schwachen gegen die Starken zu schützen und gegen Greuel in jeder Gestalt und Form zu protestieren.« Was seine Reisen im Kongo betrifft, so wird der dreißig Jahre alte Ire kaum im Plauderton von ihnen berichtet haben. Die Geschichten ähnelten vermutlich jenen, die er fünf Jahre zuvor im Seehafen Matadi am Unterlauf des Kongo einem jungen Kapitän erzählte, der darauf wartete, seine Reise ins Innere des Landes antreten zu können.
Zehn Tage hatten sie in Matadi, einer heruntergekommenen Siedlung aus Wellblechhütten, bevölkert von betrunkenen Matrosen, schwarzen Prostituierten und jungen Weißen aus aller Welt, die das Elfenbein lockte, ein Zimmer geteilt. Casement, der seit 1883 im Kongo lebte, habe ihm damals »Dinge« erzählt, »die ich versuchte zu vergessen, Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte«, wird Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski später schreiben. Da ist er bereits unter dem Namen Joseph Conrad ein bekannter Autor. Heart of Darkness, das Buch, in dem er 1899 die »Dinge« verarbeitet, macht ihn weltberühmt.
Herz der Finsternis ist die Erzählung über das größte Menschheitsverbrechen des 19. Jahrhunderts, das Schlachthaus, in das der belgische König Leopold II. seine Privatkolonie »Freistaat Kongo« verwandelt hat. Das riesige Gebiet – es umfasst ein Dreizehntel des afrikanischen Kontinents und ist fast achtzigmal größer als Belgien selbst – hatte er sich durch einen beispiellosen Coup einverleibt. Jahrelang hatte er seine ehrgeizigen Kolonialpläne mit einer professionellen PR-Kampagne verschleiert, in der er sich der Welt als Philanthrop empfahl, den ausschließlich altruistische Interessen, insbesondere die Bekämpfung des Sklavenhandels, nach Afrika zogen: »Der Zivilisation den einzigen Teil unseres Planeten zu erschließen, in den sie noch nicht vorgestoßen ist, die Dunkelheit zu durchdringen, die ganze Völkerschaften umhüllt, darf ich wohl als einen Kreuzzug bezeichnen, der diesem Zeitalter des Fortschritts wohl ansteht.« Die Täuschung gelang. Gegen Leopolds Versprechen, das Kongobecken zur Freihandelszone zu machen, hatten die anderen Kolonialstaaten – Afrikaner wurden selbstverständlich nicht beteiligt – auf der Berliner Kongokonferenz dem belgischen König das riesige Kolonialreich als Privateigentum zugesprochen. Leopold, nunmehr Souverain de l’Etat Indépendent du Congo, hatte sofort mit der Ausbeutung der unerschöpflichen Reichtümer seiner Beute – zunächst Elfenbein, dann vor allem Kautschuk – begonnen. Seine Instrumente sind Handelskompanien wie die Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut Congo (SAB), die ein einzigartiges Zwangsarbeits- und Sklavensystem errichten, ein tropisches Konzentrationslager, in dem jeden Tag Tausende Afrikaner an Hunger, Erschöpfung, Gelbsucht, am Sumpffieber, an der Ruhr, den Blattern oder Beriberi sterben. Weil die Handelskompanien ihren Beamten für jeden getöteten Rebellen eine Prämie zahlen und deren Hände als Beweise fordern, werden selbst Kindern bei lebendigem Leib die Hände abgehackt. In den Jahren der Fremdherrschaft Leopolds II. von 1884 bis 1908 wird die Bevölkerung des Kongo vermutlich um die Hälfte dezimiert – schätzungsweise zehn Millionen Menschen sterben. Der Kautschuk-Boom verlangt nach dem Bau einer Schmalspureisenbahn, 387 Kilometer von Matadi ins Landesinnere nach Stanley-Pool, um die Katarakte des Kongo zu umgehen. Allein für dieses Bauvorhaben, das in dem Jahr beginnt, als Casement und Conrad sich kennenlernen, und acht Jahre später vollendet sein wird, sterben Tausende Afrikaner. Jede Schwelle, heißt es in der lokalen Überlieferung, stehe für das Leben eines Afrikaners, jeder Telegrafenmast für das eines Europäers. Im selben Zeitraum steigt der Wert der Aktien der Compagnie du Chemin de Fer du Congo (CCFC) von 320 auf 2850 belgische Franken.
Leopold II. wird den afrikanischen Kontinent niemals betreten, doch verfügt er vor Ort über einschlägige Spezialisten. Ehe Joseph Conrad im Frühjahr 1890 in den Kongo aufgebrochen war, um seinen Dienst als Kapitän eines Flussdampfers der SAB an den Stanley Falls anzutreten, hatte er sich dem Chef der Gesellschaft in Brüssel vorgestellt, Oberst Albert Thys, Gründer der SAB und der CCFC, »ein bleiches plumpes Etwas in einem Gehrock«, der Conrad nach »ungefähr fünfundvierzig Sekunden« wieder entlässt: »Bon voyage.« Thys selbst, einer der erfahrensten und mächtigsten Männer in Leopolds Kolonialreich, kommt in Herz der Finsternis nur am Rande vor; um so detaillierter schildert der Erzähler und Conrads Alter Ego, Marlow, den Bau von Leopolds Eisenbahn durch Thys’ CCFC: »Ein leises Klirren hinter mir ließ mich den Kopf wenden. Sechs Schwarze mühten sich in einer Reihe den Pfad herauf. Sie schritten aufrecht und langsam einher, balancierten kleine Körbe voll Erde auf den Köpfen, und das Klirren hielt Takt mit ihrem Schritt […] Ich konnte alle ihre Rippen zählen; die Gelenke ihrer Gliedmaßen waren wie Knoten an einem Seil; jeder hatte einen eisernen Ring um den Hals, und sie waren alle durch eine Kette miteinander verbunden, die zwischen ihnen, rhythmisch klirrend, hin und her schwang.«
Die »Dinge«, die Roger Casement im Juni 1890 Joseph Conrad erzählt, sind Nachrichten aus dem Totenhaus, die Conrad auf seiner eigenen Reise ausnahmslos bestätigt findet. Das Buch, das er darüber schreiben wird, ist ein Roman, aber an den entscheidenden Stellen beruht er auf Tatsachen: Wie Marlow fährt er mit einem französischen Schiff, der Ville de Maceio, nach Boma und von dort nach Matadi, marschiert dann zur Station von Stanley Pool, auf Wegen, die Henry Morton Stanley, der weltberühmte Journalist und Afrikaforscher, der im Auftrag König Leopolds II. den Kongo erschlossen hatte, kurz zuvor von seinen Arbeitskommandos hat anlegen lassen. Wie Marlow, der am Ende der Reise den todkranken Kurtz, den von der Gier nach Elfenbein in den Wahnsinn getriebenen Stationsleiter der Handelskompanie, findet, nimmt auch Conrad am Fuß der Stanley-Fälle einen todkranken Agenten namens Klein an Bord. Die Grausamkeiten, von denen Conrad berichtet, das stille Sterben der von Arbeit, Krankheit und Hunger ausgezehrten Zwangsarbeiter, die Schwarzen in Ketten, selbst das Gespräch mit dem Leiter der »Zentralstation«, seinem verachteten Gegenspieler, der ihn sofort wieder loswerden will, weil er in Conrad den Moralisten erkennt – all das beschreibt Conrad auch in seinem Kongo-Tagebuch. Ob auch das folgende Gespräch zwischen dem Leiter der Zentralstation – tatsächlich hieß er Camille Delcommune und war der Leiter der SAB-Niederlassung Kinshasa – und seinem Onkel – als Vorbild diente Camilles älterer Bruder Alexandre, damals Offizier in der Force Publique, Leopolds berüchtigter Kolonialarmee – so stattgefunden hat, wie es Conrad wiedergibt, ist nicht belegt. Doch zeigt sich hier in wenigen Sätzen der Geist, der Leopolds »Freistaat« beherrscht: »›Wir werden diese Schmutzkonkurrenz nicht los, bis wir einen von den Kerlen als abschreckendes Beispiel aufgehängt haben‹, sagte er. ›Sicher‹, grunzte der andere. ›Häng ihn auf. Warum nicht?‹«
Am 1. Dezember 1898, acht Jahre nach Conrads Kongo-Reise und fast vier Jahre nach seinem Gespräch mit Roger Casement, verlässt Gouverneur Puttkamer Duala an Bord der SMS Habicht in Richtung Kongo, um »die Erforschung und wirtschaftliche Ausnutzung der Südostecke des Schutzgebietes energisch in Angriff zu nehmen«. Er begleitet eine Expedition unter der Leitung von Feldjägerleutnant und Forstassessor Rudolf Plehn mit dem Assistenten Freiherr von Lüdinghausen, dem Lazarettgehilfen Peter, Sergeant Gruschka, siebzig schwarzen Soldaten und hundert schwarzen Trägern. Ein Jahr zuvor hat Oberleutnant von Carnap-Quernheimb im südöstlichen Teil der Kolonie einen beachtlichen Reichtum an Kautschuk und Elfenbein entdeckt sowie ausreichend »Arbeitermaterial«, sprich einheimische Bevölkerung, um die Beute abzutransportieren. Das ist einerseits eine gute Nachricht, die in Berlin sofort Interessenten auf den Plan ruft, die eine Handelskonzession verlangen. Andererseits sind die Schätze in den ausgedehnten Urwäldern des südlichen Hinterlands schwer und nur gegen den Widerstand der feindseligen Bevölkerung zu erreichen. Das Gebiet am Rand des Kongobeckens grenzt an Französisch-Kongo, den westlichen Teil des Beckens, den sich Frankreich auf der Kongokonferenz 1884/85 hatte sichern können. Eine Eroberung über Land ist ausgeschlossen, also kommt als Zugang nur der Kongo durch belgisches und französisches Gebiet in Betracht. Am 10. Dezember 1898 trifft Puttkamer mit der Expedition in Matadi ein. Er genießt die »großen, luftigen Räume des Direktionsgebäudes«, in das ihn der Abgesandte des Bahndirektors Albert Thys geführt hat, die »ausgezeichnete Verpflegung« – inklusive eisgekühlter Getränke – im Zug auf der eben fertiggestellten Strecke Matadi – Stanley Pool, den Anblick des Viehs, das hier »vortrefflich gedeiht«. Allerdings wundert er sich, dass er »an der ganzen Bahnstrecke nicht ein einziges wirkliches Eingeborenendorf« sieht. Der Gouverneur vermutet, die eingeborene Bevölkerung habe sich »vor den schnaubenden Dampfungeheuern der Weissen in stillere Winkel ihres schönen und an Verstecken reichen Landes zurückgezogen«. Ihr außerordentlicher Respekt werde »wohl noch etwas erhöht« durch die »kräftige Faust der Kongoregierung und die notwendige Energie der Bahndirektion«. Was der Gouverneur ahnt, hat Joseph Conrad selbst beobachtet: Die Bevölkerung ist in panischer Angst vor Zwangsarbeit und Folter geflüchtet. Auch in Kinshasa am Südufer des Stanley Pool, einer Ausbuchtung des Kongo, erkennt er sofort die »wirklich großen landschaftlichen Schönheiten«, insbesondere verzaubern ihn die »herrlichen, uralten Baobabs und Akazien, die schon Stanley in Entzücken versetzten«, und auch für die dampfbetriebene Eismaschine im Haus eines französischen Beamten hat er nur Bewunderung übrig. Was ihm jedoch angeblich entgeht – obwohl er sich im Innersten von König Leopolds Schlachthaus befindet, in dem in diesen Jahren Hochbetrieb herrscht –, sind die geringsten Hinweise auf die »oft geschilderten Kongogreuel«. Sie gehörten »Dank einer einsichtigen und humanen Verwaltung offenbar der Vergangenheit an«. Natürlich sei es denkbar, dass die Lage in noch abgelegeneren Gebieten anders aussehe: »Ich kann mir aber nicht recht vorstellen, dass die liebenswürdigen und gesitteten belgischen Beamten und Offiziere, wie ich sie auf meiner Reise überall kennen gelernt habe, weiter im Inneren sich plötzlich in wilde Tiere verwandeln sollten.« Schon bald wird Puttkamer mit zwei Herren Geschäfte machen, die Joseph Conrad einschlägig beschreibt: Albert Thys und Alexandre Delcommune sind Mitgründer der Gesellschaft Süd-Kamerun (GSK), die sich wenige Tage zuvor, am 8. Dezember 1898, in Hamburg konstituierte. Als Puttkamer am 10. Februar 1899 in Matadi den französischen Dampfer Ville de Maceio besteigt – derselbe, mit dem einst Joseph Conrad Kongo erreichte – und Kurs auf Duala nimmt, hat die deutsch-belgische Zusammenarbeit in Südkamerun bereits begonnen. Am 1. April 1899 hisst die Expedition von Forstassessor Rudolf Plehn in Begleitung eines Agenten der Société Anonyme Belge in der südöstlichen Ecke Kameruns die deutsche Fahne.
Die Gründung von Konzessionsgesellschaften liegt im Interesse des Deutschen Reichs, das weiterhin auf der Suche nach kostengünstigen Wegen zur Erschließung der Kolonien ist. Zumindest im Fall der Gesellschaft Süd-Kamerun profitieren von ihr jedenfalls die Gründer selbst und die Aktionäre. Auf Grund der Vereinbarung zwischen den Gründern der GSK und Gouverneur Puttkamer sowie dem Chef der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, Gerhard von Buchka, spricht die Reichsregierung der GSK ein Konzessionsgebiet von 81597 Quadratkilometern zu, das entspricht ungefähr der Größe Bayerns. Die GSK darf damit in dem noch weitgehend unerforschten Gebiet alles Kronland in Besitz nehmen, ohne besondere Verpflichtungen einzugehen. Der Staat reserviert sich lediglich unentgeltlich Land für den Bau öffentlicher Gebäude und fordert einen zehnprozentigen Gewinnanteil. Gemeinsam mit der wenig später gegründeten, aber erfolglosen Gesellschaft Nordwest-Kamerun (GNWK) beansprucht die GSK zwei Fünftel des Gebiets der Kolonie Kamerun.
Von Anfang an steht fest, dass die Ausbeutung des Südostens Kameruns belgische Beteiligung verlangt. Zum einen unterhält die SAB seit Jahren Zweigstellen in dem Gebiet und ist von dort kaum zu verdrängen. Zum anderen haben die Deutschen, wie bereits erwähnt, nur über den Freistaat Kongo und Französisch-Kongo überhaupt Zugang zu diesem Teil ihrer Kolonie. Die Zusammenarbeit fällt auch deshalb nicht schwer, weil sich die deutschen und die belgischen Geschäftspartner über das Vorgehen einig sind, Vorbild sollen die Kongogesellschaften in Leopolds »Freistaat« sein. Federführend ist auf deutscher Seite der Hamburger Rechtsanwalt und Spekulant Julius Scharlach. Er ist unter anderem mit der ebenfalls beteiligten Disconto-Gesellschaft verbunden, Aufsichtsratsvorsitzender der Bibundi-Gesellschaft, gemeinsam mit Jantzen & Thormählen Eigentümer einer Pflanzung in Kamerun und alles in allem einer der einflussreichsten Männer der deutschen Kolonialpolitik. Und einer der radikalsten: »Kolonisieren, das zeigt die Geschichte aller Kolonien, bedeutet nicht, die Eingeborenen zivilisieren, sondern sie zurückdrängen und schließlich vernichten. Der Wilde verträgt die Kultur nicht; auf ihn wirken nur ihre schlimmen Seiten; sie vernichtet rücksichtslos den Widerstrebenden oder Schwachen […] Diese an sich gewiss traurige Tatsache muß als eine erwiesene geschichtliche Notwendigkeit betrachtet werden. Wer sie nicht anerkennen will, weil sie von einem höheren idealen Standpunkt aus unberechtigt erscheinen mag, der darf nicht unternehmen, Kolonien zu erwerben und zu verwerten.«
Scharlach zur Seite steht Hugo Sholto Graf von Douglas, Unternehmer, Gründer des Deutschen Kali-Syndikats, Plantagenbesitzer in Kamerun und Togo, Freund Kaiser Wilhelms II. und – wie Scharlach – Mitglied des Kolonialrats, eines Beratungsgremiums aus Beamten, Vertretern der Wirtschaft, der Missionsgesellschaften und der Koloniallobby, das mit dem Ziel gegründet wurde, in der Kolonialpolitik den Reichstag auszuschalten. Neben dem unvermeidlichen Adolph Woermann, der auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Disconto-Gesellschaft ist und ebenfalls dem Kolonialrat angehört, Maximilian Heinrich Schinckel, Direktor der Norddeutschen Bank und Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft, Sigmund Hinrichsen, Teilhaber des Handelshauses Hardy & Hinrichsen und Präsident der Hamburger Bürgerschaft, und Robert Esser, unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender des A. Schaffhausen’schen Bankvereins und Vater Max Essers, beteiligen sich vier kapitalstarke Belgier, darunter Albert Thys und Alexandre Delcommune. Diese beiden sind es auch, die auf Grund ihrer reichen Erfahrung von Anfang an die Leitung der Geschäfte der GSK – das Grundkapital beträgt zwei Millionen Mark – übernehmen. Die Geschäftsstelle ist zwar offiziell in Hamburg eingerichtet, geführt wird das Unternehmen in den ersten Jahren jedoch von Brüssel aus – vom ersten Tag an sehr erfolgreich, wie Alfred Zimmermann in seiner Geschichte der Deutschen Kolonialpolitik (1914) berichtet: »Wie die Geschäftswelt die neue Gründung auffaßte, bewies das Aufsehen, das die Einführung der Südkamerun-Aktien an den Börsen machte. In Hamburg riß man sich am 15. Februar 1899 buchstäblich um die eine Million, die dort angeboten wurde. Im Handumdrehen trieb man sie im Kurse auf 198. In Brüssel wurden am selben Tage 500-Francs-Aktien bereits mit 1100 bezahlt. Über die Gewinne, welche die Gründer der Gesellschaft erziehlt haben, wurden die abenteuerlichsten Dinge erzählt.« Der Sozialdemokrat August Bebel schätzt die Höhe des Spekulationsgewinns auf bis zu 16 Millionen Francs. Allein Scharlach und Douglas kassieren je zwei Millionen Mark.
Auf seiner Reise durch den Kongo hatte Gouverneur Puttkamer erstaunt bemerkt, König Leopolds »Freistaat« habe sich »die Pflege und Vermittlung des Verkehrs zur ganz besonderen Aufgabe gemacht«. Davon kann in Kamerun keine Rede sein: Dem jetzt expandierenden Kautschukhandel steht kein Transportsystem zur Verfügung. Für den Bau von Straßen ist weder Geld noch Personal noch der Wille vorhanden, Puttkamer konzentriert alle verfügbaren Mittel auf die Plantagenwirtschaft am Kamerunberg. Den Transport auf Tragtieren in der Urwaldzone verhindert die Tsetsefliege – die von ihr übertragene Naganaseuche führt bei Pferden und Eseln unweigerlich zum Tod –, also ist man auf Träger angewiesen. Männer, Frauen, Kinder – allein im Bereich des Bezirksamts Jaunde stehen im Jahr 1907 mehr als 60000 Afrikaner im Dienst von Kolonialwirtschaft und -regierung, manche freiwillig, viele mit Gewalt gepresst. Häufig überfallen Bewaffnete ein Dorf, fesseln die Bewohner und drohen mit der Macht der Kolonialregierung. Eine andere Taktik ist es, die Frauen eines Dorfes als Geiseln zu nehmen, bis ihre Männer sie auslösen, indem sie sich als Träger zur Verfügung stellen. So verfahren die Leute von der GSK, und so verfährt auch die Kolonialverwaltung. Ein Missionar beobachtet »freiwillige Regierungsträger teils mit Stricken um den Hals zusammengeknöpft, teils an den Handgelenken am Strick gebunden«. Sklavenhandel ist verboten, Sklaverei die koloniale Praxis. Das Bezirksamt Kribi nimmt Stichproben bei Kautschuk-Trägern: Männer tragen bis zu 52,5 Kilogramm schwere Lasten, Frauen bis 44 Kilogramm, »kleine Mädchen« bis 20,5 Kilogramm.
Der Bedarf an Arbeitskräften steigt unaufhaltsam: Immer mehr Träger werden benötigt, immer mehr Soldaten, immer mehr Arbeiter für den Wegebau, immer mehr Plantagenarbeiter, die zu mehr als fünfzig Prozent aus Südkamerun herangeführt werden. Wer – ob freiwillig oder mit Gewalt – im Dienst von Kolonialverwaltung und -wirtschaft sein Dorf verlässt, kehrt nur selten zurück. Ende 1899 notiert Puttkamer die »Hiobsbotschaft« in seinem Tagebuch, Gustav Conrau, »welcher im Bangwalande reiste und sammelte«, habe sich mit seinen dortigen Gastfreunden überworfen, sei von ihnen eingesperrt und bei einem Fluchtversuch »von den Wilden erschossen« worden. Tatsächlich hat Conrau, Agent im Auftrag von Jantzen & Thormählen und Arbeiteranwerber, den Fehler begangen, in ein Dorf, in dem er zuvor einige Einwohner in Dienst genommen hatte, ohne die Arbeiter zurückzukehren. Die Dorfbewohner glaubten, ihre Leute seien gestorben – keine abwegige Vermutung – und Conrau trage die Verantwortung. Auf der Flucht hatte sich Conrau mit einem Messer das Leben genommen. Gouverneur Puttkamer schickt zwei Strafexpeditionen, um im »Bangwalande« ein Exempel zu statuieren.
Inzwischen wird, wie die Kolonialverwaltung bemerkt, »die Arbeitskraft der Einwohner durch die Trägerdienste völlig aufgebraucht«. Viele Dörfer längs der Hauptverkehrswege liegen verlassen. Theodor Seitz, der 1907 Puttkamer als Gouverneur ablösen wird, notiert später: »Die damals auf dem Weltmarkt herrschende Kautschukhausse hatte im ganzen Süden eine wilde Jagd auf Kautschuk hervorgerufen. Die ganze arbeitsfähige Bevölkerung war in Bewegung geraten. Die Dörfer waren leer. Was nicht in den Wäldern Gummi zapfte, war als Träger von und nach der Küste unterwegs. […] Als ich auf meiner Reise nach dem Süden von Jaunde zur Küste marschierte, zogen stundenlang Karawanen an uns vorüber: Männer, Weiber und Kinder, kräftige und schwache, schleppten sich mit Lasten von uns nach der Küste. Überall in den Dörfern, in denen nur ein kleiner Teil der Bevölkerung zurückgeblieben war, klagten die Eingeborenen über gewaltsame Übergriffe fremdstämmiger Träger.« Die Parallelen zwischen Südkamerun und Leopolds »Freistaat Kongo« sind nicht zu übersehen. Auch der Kolonialbeamte Dr. jur. et Dr. phil. Rudolf Asmis bemerkt sie: »Wer einmal […] in Südkamerun oder im belgischen Kongo auf den großen Karawanenstraßen für den Transport des Kautschuks oder des Elfenbeins zur Küste marschiert ist, kennt die traurigen Bilder von den entvölkerten Dörfern in der Nähe dieser Straßen, dem zerrütteten Familienleben der Eingeborenen in ihnen, der gesundheitlichen Verseuchung des ganzen breiten Streifens zu beiden Seiten dieser Verkehrsadern.« Die Bewohner fliehen nicht nur aus Angst vor gewaltsamer Indienstnahme, sondern auch aus Furcht vor den durchreisenden Karawanen, die sie zu verpflegen haben. Weigern sie sich, werden sie gezwungen; verlangen sie – wegen eigenen Nahrungsmangels – höhere Preise, antwortet die Kundschaft mit der Nilpferdpeitsche. Selbst den eigentlich wenig zimperlichen Offizier Hans Dominik befallen im Rückblick Zweifel: »[A]ber ich weiß […] wie ein Gebiet aussieht, in dem der Kampf um dieses Gold des Urwalds getobt hat. Die Sucht, schnell Geld zu erwerben, die Furcht vor der Konkurrenz läßt dort alle Rücksichten schwinden, und die Angesessenen werden von dem Taumel miterfaßt; sie schlachten alles, säen und ernten nicht, sondern machen nur Gummi, Gummi. Ein Glück für das Land ist es, daß die Woge sich weiterwälzt, wenn der Gummi zu Ende ist, aber dann kommen die Durchmärsche, dann sind nicht genügend Lebensmittel vorhanden, und dann kommt es zu Gewalttätigkeiten.«
Dabei ist für Dominik die Gewalt selbst natürlich kein Problem. Um das von den Makaa bewohnte Gebiet im Südkameruner Regenwald zu »pazifizieren«, erklärt er den Makaa den Krieg, in dem sie mehr als 2000 Leute als Gefangene und Tote verlieren. Sorge bereitet ihm hingegen die zunehmend aggressive Konkurrenz zwischen der Gesellschaft Süd-Kamerun und den sogenannten Batanga-Firmen, kleinere Unternehmen, die das Handelsmonopol der GSK bestreiten und in ihr Konzessionsgebiet vorzudringen versuchen. Sie berufen sich »auf das Prinzip der uneingeschränkten Handelsfreiheit für jedermann und in jede Richtung«, verhalten sich also wie jener Konkurrent (»Schmutzkonkurrenz«) in Herz der Finsternis, den der »Onkel« (Alexandre Delcommune) aufzuhängen empfohlen hatte. Und tatsächlich werfen sie der GSK vor, nach dem »Kongo-System« zu verfahren: Schwarze würden ohne jeden Anlass erschossen, vermeintliche Schulden mit Strafexpeditionen eingetrieben, Kautschuk von Batanga-Karawanen werde konfisziert, wenn er nicht außerhalb des Konzessionsgebiets gekauft worden sei. All das trifft zu, und zudem werden die afrikanischen Produzenten und Lieferanten gezwungen, den Kautschuk gegen geringe Entlohnung ausschließlich in den Faktoreien der GSK abzuliefern: dreißig Tage benötigt ein Arbeiter, um sechs Kilo Kautschuk zu zapfen, dafür bekommt er ein Buschmesser oder ein Handtuch. Doch mit dem Vordringen der Batanga-Firmen in das Konzessionsgebiet der GSK verbessert sich nur die Geschäftslage der Firmen, nicht die Lage der Bevölkerung; auch die Batanga-Firmen zwingen die Einwohner mit Hilfe des Militärs zur Arbeit. Die gemeinsamen Interessen machen schließlich aus Konkurrenten Partner. 1909 verbündet sich die GSK, die auf einen großen Teil ihres Konzessionsgebiets verzichtet, mit den Batanga-Firmen und bildet mit ihnen ein Gummisyndikat, um die Verkaufspreise der afrikanischen Produzenten niedrig zu halten. Der Biograf Gottlieb Leonhard Gaisers, des Chefs einer Batanga-Firma (G. L. Gaiser), resümiert: »Nach dem Urteil aller Firmen wirkte sich diese Vereinbarung höchst segensreich aus. Sie verfehlte auch nicht ihre Wirkung auf die Eingeborenen, die durch die gleichbleibenden Preise zu dem Bewußtsein des Wertes der Arbeit überhaupt erzogen wurden, während man zugleich auch mit dieser Vereinbarung die Nachteile eines unbeschränkten Wettbewerbs beseitigte.«
Eine nicht unwesentliche Ursache des chronischen Arbeitermangels, der von Kolonialverwaltung und -wirtschaft immer wieder beklagt wird, kommt in keinem Behörden-Schreiben zur Sprache, und kein Protestbrief der Handelsfirmen erwähnt sie. Nur in der Anzeige eines Offiziers, der dafür mit dem Ende seiner Karriere büßt, ist sie vermerkt: »Im Feldlager von Naskape zwischen Anfang Juni und Mitte August 1900 sind von den zur Expedition des Hauptmanns von Besser gehörenden Trägern etwa zwischen 60 bis 70 vor Hunger gestorben. Ich war Augenzeuge als ältester Offizier. […] Lebensmittel hätten aus der unmittelbaren Umgebung der Expedition leicht beschafft werden können. Auf unsere Vorstellungen hin erwiderte der Hauptmann, er wolle, dass die Schweine verrecken.«
Die Greuel im »Freistaat Kongo«, die Gouverneur Puttkamer auf seiner Kongo-Reise nicht bemerkt haben will, bringt sein sympathischer Besucher von 1895, Roger Casement, mit einem aufsehenerregenden Bericht 1904 ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Der britische Journalist Edmund Dene Morel kämpfte schon lange gegen das von ihm aufgedeckte Menschheitsverbrechen König Leopolds II. In Casement, der als Konsul Seiner Majestät in Matadi residierte, fand er einen entschlossenen Verbündeten. Das britische Außenministerium hatte Casement im Frühjahr 1903 beauftragt, nun auch offiziell »so bald wie möglich ins Innere des Landes zu reisen und darüber umgehend Berichte zu übermitteln.« Casements Berichte sind derart schockierend, dass sich weltweit Protest gegen das Terrorsystem Leopolds erhebt. 1908 wird er gezwungen, sein Eigentum im Kongobecken gegen Entschädigung an den Staat Belgien zu übertragen.