»DAS URTEIL DER WELT ÜBER JEDE KOLONIALVERWALTUNG«, schreibt viele Jahre später Rudolf Asmis, inzwischen bekannter Autor fach- und populärwissenschaftlicher Kolonialliteratur und Leiter der Dienststelle Berlin des Kolonialpolitischen Amtes der NSDAP, »hängt in erster Linie davon ab, wie sie die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen ausübt.« Der »Eingeborene« habe ein »sehr feines Rechtsempfinden«, werde er mehrfach ungerecht bestraft, steigere sich seine »Erbitterung bis zum vergeltenden Haß«. Zwar sei er – anders als »der Malaie oder Javaner«, der dem Pflanzungsassistenten bei günstiger Gelegenheit den Kris in den Rücken stoße – unter Umständen bereit, wie der »Arbeitselefant« Jahrzehnte die »lästige Behandlung seines Wärters« ungerührt zu ertragen: »Aber eines Tages greift er sich den Wärter doch und zertritt ihn unter seinen gewaltigen Füßen in einem einzigen Ausbruch aufgespeicherten Vergeltungsdranges.«
Einen solchen tödlichen Tritt der Akwa hatte Asmis erwartet, als er im Spätsommer 1906 mit 27 Jahren als außeretatmäßiger Assessor der Kolonialabteilung zusammen mit Kammergerichtsrat Konrad Straehler in Duala eingetroffen war. Ihr Auftrag lautete, das Verfahren gegen die Akwa-Petenten zu untersuchen und ein neues Urteil zu sprechen. Keine einfache Aufgabe. Denn das drakonische Urteil Lämmermanns über Dika Akwa war in Duala mit einer Empörung aufgenommen worden, die auch über ein halbes Jahr später nicht nachgelassen hatte. Vor allem Eduard von Brauchitsch sorgte sich um die Sicherheit seiner neuen Gäste. Die Akwa, warnte er die beiden Juristen, wollten »einen Aufruhr anzetteln«, und Asmis solle »an einer bestimmten Stelle« ermordet werden, um die Häuptlinge bei dem dann voraussichtlich entstehenden Durcheinander zu befreien. Brauchitsch ergriff entsprechende Sicherheitsmaßnahmen. Zusätzlich zur bestehenden Schutztruppe wurde eine zweite Kompanie nach Duala verlegt, das Kanonenboot Panther lag schussbereit in der Mündung des Kamerunflusses. Und Rudolf Asmis war am Tag der Urteilsverkündung mit einer entsicherten Browning in der Tasche im Gericht erschienen.
Nicht die Proteste der Akwa hatten die Neuauflage des Prozesses bewirkt, sondern die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit und des Reichstags. Am 18. und 19. Januar 1906 war im Reichstag eine hitzige Auseinandersetzung über das erste Urteil entbrannt. Die Sprecher des Zentrum, Matthias Erzberger, und der Sozialdemokraten, Georg Ledebour, hatten es als »Rachefeldzug auf sogenanntem gerichtlichen Wege«, als »Rechtsbruch schmählicher Art, eine Vergewaltigung, ein Missbrauch« (Ledebour) gegeißelt und eine unparteiische Untersuchung dieses »klassischen Falls des Kolonialbürokratismus« (Erzberger) gefordert. Die Sozialdemokraten verlangten auch die Freilassung der Verurteilten, was der Chef der Kolonialabteilung abgelehnt hatte. Die Hauptangeklagten müssten in Haft bleiben, »um nicht das Ansehen der deutschen Regierung bei den Eingeborenen allzu sehr zu erschüttern«. Auch Mpondo Akwas Gnadengesuch wurde abgewiesen. Immerhin aber wurde das Gouvernement in Buea mit der Wiederaufnahme des Verfahrens beauftragt und die Petition an die Budgetkommission des Reichstags weitergeleitet, die sich mit der Akwa-Eingabe und deren Behandlung durch die Regierung befasste. Sie beschloss einen Resolutionsentwurf für das Plenum, dem zufolge der Reichstag Reichskanzler Bernhard von Bülow auffordern sollte, durch »einen unabhängigen Beamten eine eingehende Untersuchung über die Beschwerdepunkte durchführen zu lassen«. Unter denjenigen, die nichts von der Aufhebung des offensichtlich missbräuchlichen Urteils wissen wollten, war Kaiser Wilhelm II.: »Warum? Bei Wilden muss man logische Consequenz zeigen! Entweder man bestraft, oder nicht. Solche halben Maßregeln machen keinen Eindruck und erschüttern das Ansehen der Weißen überhaupt wie der Regierung.« Der Reichstag nahm die Resolution am 20. März 1906 an, der Kolonialdirektor verfügte ein neues Verfahren gegen Dika Akwa und seine Leute. Weil das in kurzer Zeit nicht möglich war, wurden die inhaftierten Akwa nun doch auf freien Fuß gesetzt. Und Gouverneur Jesko von Puttkamer wurde zur Berichterstattung nach Deutschland zurückbeordert.
Offenbar gaben diese Entwicklungen den Duala den Glauben an die Gerechtigkeit des Deutschen Reiches für kurze Zeit zurück. Bis zum Beginn des neuen Verfahrens nahm jedenfalls die Zahl der Beschwerden und Klagen über Körperverletzungen von Beamten und andere Exzesse kräftig zu. Allerdings wurden sie entweder abgelehnt oder endeten mit einer Verurteilung der Verletzten. Dika Akwa entwarf eine neue, wiederum für den Reichstag und den Reichskanzler bestimmte Beschwerdeschrift mit dem Titel »Das friedsame Element des King Akwa von Bonambela und seiner Häuptlinge bei dem Eintritte der deutschen Herrschaft in Duala, Kamerun«. Wieder versicherte Dika Akwa den Deutschen seiner Sympathie und Loyalität, und wieder klagte er über die Repressionen, die er und sein Volk seit 1884 unter der deutschen Administration zu erleiden hatten: »Solche Behandlungen habe ich nun fortwährend seitens des kaiserlichen Gouverneur zu dulden, das ist nun mein Lohn für meine alleruntertänigste Ergebenheit dem deutschen Reiche gegenüber!« Die Schrift wurde bei einer Hausdurchsuchung von Beamten des Gouvernements beschlagnahmt.
Auch Mpondo Akwa blieb nicht untätig. Von Deutschland aus versorgte er die Akwa mit Nachrichten über die Reichstagsdebatten und die Haltung der deutschen Presse, die in Duala in geheimen Zusammenkünften diskutiert wurden. Er verfasste zwei Eingaben, von denen die erste im wesentlichen einen Teil der Beschwerden der großen Eingabe von 1905 wiederholte, weil sie nicht berücksichtigt worden waren. In der zweiten unterbreitete er dem Reichskanzler Vorschläge, »aus denen wohl zu ersehen ist, dass wir Bonambela-Leute mit aller Aufrichtigkeit beflissen sind, uns alle Errungenschaften der deutschen Kultur zu eigen zu machen«. Unter anderem forderte er das Verbot der Alkoholeinfuhr nach Kamerun, die Einführung der sechsjährigen Schulpflicht und die Erlaubnis zur Niederlassung von Rechtsanwälten, Vorschläge, die in den deutschen Zeitungen überwiegend verhöhnt, nur im sozialdemokratischen »Vorwärts« in vollem Wortlaut abgedruckt und freundlich kommentiert wurden.
Unterdessen hatte im August 1906 Kammergerichtsrat Straehler in Berlin mit der Untersuchung der Beschwerden begonnen. Bei ihrer Vernehmung bestätigten Puttkamer, Brauchitsch, Meyer und andere von den Akwa Beschuldigten freimütig die Richtigkeit der Vorwürfe, das heißt, sie bestätigten die von den Akwa behaupteten Tatsachen, bestritten aber jede Schuld. Die von den Akwa beklagten Zustände seien Folge fehlender gesetzlicher Vorschriften, von geltenden Gesetzen gedeckt oder im Rahmen der deutschen »zivilisatorischen Mission« hinzunehmen. Oberrichter Meyer: Das Mädchen habe er sich von einem Kanzlisten beschaffen lassen. Zwang habe er nicht angewendet, für 500 Mark sei es »freiwillig« zu ihm gekommen. Bezirksamtmann Brauchitsch: Die Hütten seien im Verwaltungswege auf seine Anordnung beseitigt worden, denn den Duala fehle »Verständnis für Symmetrie«. Das Mädchen habe er »selbstverständlich auch zum Zwecke des Geschlechtsverkehrs zu mir genommen«, aber von Zwang »war keine Rede«.
Im Spätsommer war Straehler mit dem jungen Asmis dann nach Duala gereist und hatte die Bell- und Akwa-Häuptlinge vernommen. Zu Straehlers Überraschung hatten die Akwa-Häuptlinge ihre Vorwürfe mit »Verstandesschärfe, Klarheit und Gewandtheit« noch einmal mündlich begründet und ruhig und besonnen erneuert. Nach mehr als siebenstündigem Verhör fasste Straehler seine Erkenntnisse zusammen: »Sie sind gegen die Verwaltung erbittert, die von ihnen Steuern und Abgaben fordert, ihren Ungehorsam bestraft und auf ihre Wünsche und Interessen nicht eingeht. Sie sehen sich zu Leistungen genötigt, die sie freiwillig nicht gemacht hätten und deren Notwendigkeit sie nicht einsehen. Sie fühlen sich den Weißen gegenüber zurückgesetzt und zum Teil rechtlos. […] Mit der gegenwärtigen Praxis werden sie sich nicht befreunden, sie werden sich nur der Macht fügen.«
Das entspricht der Auffassung Rudolf Asmis’. Als er am 26. Oktober nach dreitägiger Hauptverhandlung im Bezirksgericht Duala die Entscheidung verkündet, urteilt er ausdrücklich unter »Anerkennung des Herrenstandpunkts der weißen Rasse gegenüber der Schwarzen«. Daraus folgt: achtzehn Monate Gefängnis für Dika Akwa, Freiheitsstrafen für alle anderen zwischen fünf und achtzehn Monaten wegen Beleidigung und verleumderischer Beleidigung sowie Verbannung aller Verurteilten zur Strafverbüßung in den Süden Kameruns. Zwar entsprächen, sagt Asmis in der Entscheidungsbegründung, die Beschwerden der Akwa den Tatsachen. Doch komme es darauf nicht entscheidend an. Wesentlich sei vielmehr die Absicht der Akwa, »eine Änderung der Zustände in Duala« herbeizuführen, also den Herrenstandpunkt in Frage zu stellen. Das sei strafbar, weil sich damit »der Neger aus seiner untergeordneten Stellung heraus […] unter Mißachtung jedes Subordinationsgefühls zum Richter« über das Tun und Treiben der Beamten mache.
Unmittelbar nach der Urteilsverkündung lässt Asmis die Akwa unter militärischer Bewachung in den Laderaum des Regierungsdampfers Nachtigal sperren. Sofort werden die Ladeluken geschlossen, denn noch immer rechnet der junge Assessor mit einem Aufstand: »Ich hoffte, damit jede Verständigungsmöglichkeit zwischen den Häuptlingen und ihren Familien- und Dorfangehörigen verhindert zu haben.« Als die Eingeschlossenen laut gegen die Schiffswände trommeln – wütend, wie es Asmis erscheint –, sieht er darin einen unverkennbaren Akt der Insubordination. Später stellt sich heraus, dass die Verurteilten in der Trommelsprache, die die Deutschen nicht verstanden, ihre Angehörigen über ihr Los verständigen wollten. Wie Asmis weiß, trifft Verbannung die Akwa deutlich härter als eine Gefängnisstrafe: »Der Gedanke, dauernd fern von dem Ort, wo er [der Verurteilte] groß geworden war, wo seine Verwandten und Freunde wohnten, wo seine Toten begraben waren, zu leben, war für ihn im ersten Augenblick eine viel schwerere Strafe als der Tod.«
Aber nicht alle beschuldigten Akwa kann Asmis in die Verbannung schicken. Mpondo Akwa ist in Altona auf freiem Fuß. Ihn halten Asmis und das Gouvernement für den Rädelsführer, den Initiator des Protests der Akwa, er habe »den Angeklagten Namen und Adressen der Empfänger der Beschwerdeschrift mitgeteilt« und die deutsche Presse mit Informationen gefüttert. Asmis ordnet an, jede Korrespondenz mit Mpondo Akwa zu beschlagnahmen. Als der stellvertretende Gouverneur Otto Gleim verfügt, keine weiteren strafrechtlichen Schritte gegen Mpondo Akwa zu unternehmen, lässt das Bezirksamt die alten Vorwürfe ruhen und beschuldigt Mpondo Akwa jetzt durch die Presse verübter öffentlicher Beamtenbeleidigung. Zu dieser Zeit ist Mpondo Akwa im Umgang mit der Justiz bereits erfahren. Denn nicht nur die Juristen des Kameruner Gouvernements setzen ihm zu, auch in Deutschland hat er seit längerem Ärger mit der Strafjustiz.
Am 27. Juni 1905 stand er unter größter Anteilnahme der Öffentlichkeit vor der Strafkammer des Landgerichts Altona, angeklagt des Betrugs und der Benutzung falscher Titel. Im Vergleich zu den in Duala angeklagten Akwa hatte er zwei Vorteile auf seiner Seite: Zum einen galt für ihn deutsches Strafrecht, zum anderen stand ihm ein Rechtsanwalt bei, der nicht nur rhetorisch brillante, 32 Jahre alte Altonaer Strafverteidiger Dr. Moses Levi. Äußerlich unterschied sich der Prozess nicht von anderen Strafverfahren, aber Levi machte in seinem Plädoyer klar, dass hinter der Anklage nicht die Absicht der Staatsanwaltschaft stand, Gerechtigkeit herzustellen, sondern der dringende Wunsch des Gouvernements in Kamerun, durch eine Verurteilung Mpondos dessen Ausreise und Rückkehr nach Kamerun zu erzwingen und ihn dort in der Verbannung kaltzustellen. Was die Anklage wegen der Benutzung falscher Titel (»Prinz«) betreffe, so verweise er, Levi, auf die in den Schutzverträgen selbstverständlich von den Deutschen verwendete Bezeichnung Dika Akwas als »King«, was die Bezeichnung des Sohnes als »Prinz« nahelege. Vor allem aber sei die Nobilitierung Mpondo Akwas weniger von ihm selbst, als vielmehr von den Behörden im Kaiserreich betrieben worden, die ihn in ihren Anschreiben als »Prinz Mpondo Akwa von Bonambela und Bonaku«, gelegentlich sogar als »Königliche Hoheit« angesprochen hätten.
Ebenso unbegründet sei der Vorwurf des Betrugs. Tatsächlich habe Mpondo Akwa einige Rechnungen nicht bezahlt, unter anderem für »erstklassige Kleidungsstücke und Schuhwerk« – aber dass er sie nicht habe bezahlen können, sei die Schuld des deutschen Gouvernements in Buea. Es habe jede Geldsendung an Mpondo Akwa »bei härtester Strafe« verboten, »offenbar damit unter dem Druck des ausbleibenden Geldes der Angeklagte nach Hause führe und dann bei der Landung stante pede verhaftet werden könnte«. Levi zitierte aus einem Brief des Bezirksamtmanns Brauchitsch an den Chef der Hamburger Polizeibehörde: »Vater und Sohn [Akwa] sind große Schwindler und Schweinehunde, ersterer sitzt zur Zeit hier im Gefängnis wegen Widergesetzlichkeit […] Allem Anschein nach ist Mpondo daheim ohne Mittel, denn vor wenigen Tagen sandte er an seine Landsleute nach hier ein Schreiben, in welchem er um umgehende Übersendung von 600 Mark bat. Wäre es nicht möglich, auch ohne dienstliches Schreiben diesen Gesellen von Polizei wegen mit dem nächsten Dampfer nach hier zurückzubefördern? Evt. könnte er dritter Klasse fahren. Wenn dieses nicht angängig ist, dann würde ich mich durch das Gouvernement an die dortige Polizeibehörde wenden und um sofortige Rücksendung dieses Nichtstuers bitten, bzw. ihn unter Anklage stellen wegen Betrugs. Dieses würde allerdings einiges Schreiben verursachen.« Die Ehre seines Mandanten verlange es, sagte Levi in seinem Plädoyer, dass er diese Machenschaften »geissele« – als »versuchte Kabinettsjustiz in Westafrika, verbunden mit dem Versuche, dieses System bis nach Deutschland hinüber wirken zu lassen.« Levi hatte Erfolg. Mpondo Akwa wurde von der Strafkammer des Landgerichts Altona freigesprochen.
Levis Plädoyer ist nicht nur bemerkenswert, weil ihm vor einem deutschen Gericht die Ehrenrettung des »Negerprinzen« Mpondo Akwa gelingt und die Umkehrung der Anklage in eine Verurteilung der deutschen Kolonialpolitik in Kamerun. Ausführlich wandte Levi sich der Herrschaftspraxis und noch mehr der persönlichen Lebensführung Gouverneur Jesko von Puttkamers zu, »der mit unglaublicher Strenge die kleinsten Verfehlungen der Eingeborenen ahndete«, aber vor aller Augen in Kamerun ein Privatleben führe, »das nicht nur den Missionaren und den durch sie beeinflussten Eingeborenen ein Aergernis war, sondern zu den peinlichsten Scenen und Komplikationen führte, wenn einmal ein Kriegsschiff mit Offizieren dort anlegte«.
Noch mehr als die von ihm begangenen oder geduldeten Verbrechen bewegte in diesen Monaten Puttkamers Liebesleben die deutsche Öffentlichkeit. Als junger Gouverneur hatte er seine Geliebte mit nach Kamerun gebracht und sie unter dem falschen Namen Marie Freiin von Eckardtstein als seine Cousine vorgestellt, die ihm den Haushalt führe. Die Sache war aufgeflogen, als das Kriegsschiff Habicht in Duala einlief und ein Offizier bei einem Empfang an Bord des Schiffes in der vermeintlichen Freifrau eine ihm bestens aus dem Berliner Nachtleben bekannte Persönlichkeit wiedererkannt hatte. Der Kapitän der Habicht war empört, das Marineamt, dem er unverzüglich Meldung machte, ebenfalls. Dennoch war der Skandal nicht an die Öffentlichkeit gelangt, Puttkamer hatte seine falsche Cousine allerdings nach Deutschland zurückschicken müssen. Die Sache wäre für ihn vermutlich ohne Folgen geblieben, stellte sich nicht jetzt im Zuge der Akwa-Beschwerden heraus, dass er damals seiner Mätresse einen falschen Pass ausgestellt hatte. Damit wird Puttkamer unvermeidlich zur öffentlichen Spottfigur. Die Geschichte des »Cousinchens« erobert das Revue-Theater. Die berühmte Sängerin und Schauspielerin Fritzi Massary feiert im Berliner Metropol-Theater mit dem Couplet »Willst du mein Cousinchen sein?« Abend für Abend Triumphe, Postkarten mit dem Aufdruck »Ein inniger Kuß« zeigen ein schmachtendes Liebespaar, daneben die Strophe aus Massarys Couplet: »Willst du mein Cousinchen sein, später mach ich dich zur Frau. – Nein, drauf lass ich mich nicht ein, dazu bin ich zu schlau!« Andere Postkarten zeigen mit entsprechendem Aufdruck Fritzi Massary und Mpondo Akwa mit Monokel und im Smoking mit einer Blume im Knopfloch.
Provozierend und faszinierend zugleich an diesem Motiv ist für das deutsche Publikum die Vorstellung vom schwarzen Mann als Sexualpartner der deutschen Frau. Die schwarze Frau als Sexualpartnerin des deutschen Mannes hingegen ist in der deutschen Kolonie Kamerun dank Puttkamer und seinen Beamten seit Jahren vielfach erprobte Realität. Während das Publikum sich an Massarys Cousinchen-Couplet ergötzt, diskutiert der Reichstag nicht allein das Liebesleben Puttkamers – er lebt seit seiner Trennung von der falschen Freifrau mit einer Schwarzen zusammen, mit der er eine Tochter hat –, vielmehr generell das »Huren- und Schlemmerleben auf Kosten des deutschen Volkes« (August Bebel), das die hohen und höchsten Beamten in Kamerun führen. Der Abgeordnete Bruno Ablaß von der Fortschrittlichen Volkspartei teilt mit, ihm sei berichtet worden, dass die zum Bezirksamt Duala »gehörenden beiden Stallungen zu Wohnungen ausgebaut und benutzt worden sind als Unterkunft für die Konkubinen und zwar die Konkubinen des Herrn v. Brauchitsch, des Richters Herrn Diehl und des Baumeisters Drees.« Es sei neu, höhnt Ablaß, dass »Reichsmittel zur Förderung der Unzucht« verwendet würden. Der stets um seine Gesundheit besorgte Puttkamer hatte sich von seinem Baumeister Brauchitsch das »in der gesunden Seebrise auf einer Sanddüne liegende« Jagdhaus Malimba errichten lassen – die veranschlagte Höhe der Kosten war dabei um das Vier- bis Fünffache überschritten worden –, das ihm »und vielen anderen Erholung und Erquickung« gewährte. Dafür sorgten auch die Austern aus der nahegelegenen Strandfaktorei des Woermannschen Agenten Kapitän Lange, die Puttkamer so ausgezeichnet schmeckten, dass er sie mit niemandem teilen wollte und der Bevölkerung das Schlagen der Austern verboten hatte. Auch am Schießen der grünen Tauben, die sich gern auf einem Baum in der Nähe des Jagdhauses niederließen, fand Puttkamer so viel Gefallen, dass er den Afrikanern die Taubenjagd verboten hatte.
Puttkamer kehrt nicht nach Buea zurück, seine Karriere ist beendet. Zum Verhängnis werden ihm nicht etwa Brutalität und Willkür seiner Amtsführung, nicht seine Konzessionspolitik, nicht die Beschwerden der Akwa, nicht das maßlose Urteil über die Petenten, nicht einmal seine Verschwendungssucht und seine ausschweifende Lebensführung. In der Tatsache, dass er seiner deutschen Geliebten eigenhändig Pässe auf einen falschen Namen ausgestellt und damit Urkundenfälschung begangen hat, findet die Regierung einen geeigneten Anlass, den kompromittierten Beamten fallenzulassen. August Bebel hatte im Reichstag gerufen: »Der Herr von Puttkamer ist ein großer Dieb, der an den höchsten Galgen gehörte, wenn wir noch welche hätten im Deutschen Reich.« Jesko von Puttkamer wird von einer Disziplinarkammer lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt, im Mai 1907 in den einstweiligen Ruhestand versetzt und alsbald mit 53 Jahren pensioniert. Zehn Jahre später wird er sich – offenbar enttäuscht von der geringen öffentlichen Wertschätzung seiner Leistungen als Gouverneur – in seiner Berliner Wohnung erschießen.