RUDOLF DUALA MANGA BELL wird im Jahr 1908 Nachfolger seines verstorbenen Vaters als oberster Häuptling des Bell-Clans. Selbst die deutschen Kolonialbeamten bescheinigen ihm Charisma, hohe Intelligenz, gewandtes Auftreten und verbindliche europäische Umgangsformen. Eine Fotografie aus dieser Zeit zeigt ihn in modischem schwarzen Anzug, mit klarem, selbstbewusstem Blick und schmalem Oberlippenbärtchen – also kaum zu verwechseln mit den gezwirbelten Bärten der deutschen Kolonialoffiziere und -beamten, die wie Karikaturen Kaiser Wilhelms II. durch die Straßen Dualas und Bueas spazieren. Im Übrigen aber hätte er gegen die Verwechslung mit einem Deutschen gar nichts einzuwenden. Als Grete Ziemann, die Schwester des deutschen Regierungsarztes, Manga Bell und seinen Vater in deren im Pagodenstil errichteten Palast in Duala besuchte, bemerkte sie neben der »stattlichen Erscheinung« und den »edlen Zügen« von Vater und Sohn, dem guten Deutsch Manga Bells und den teuren europäischen Möbeln (»Diese sind jedoch ohne Verständnis und Geschmack so willkürlich durcheinandergestellt, wie es eben nur ein Negergeschmack zu Stande bringen kann.«) vor allem eine kulturelle Differenz zwischen beiden Männern. Zwar erkenne der christlich getaufte Vater die »Segnungen der Religion« zum Teil an, könne sich »aber trotzdem den Annehmlichkeiten seiner früheren nicht verschließen« – er mache es sich mit seinen »angeblich 230 Frauen« gemütlich. Ganz anders hingegen Manga Bell: »Er ist auch in Deutschland erzogen, hat doppelte Buchführung gelernt, ist Christ und bewohnt mit seiner einzigen, recht hübschen Frau, einer Mulattin, ein besonderes Haus. Da Rudolph [sic] Bell so streng von der Sitte seiner Väter abgewichen ist, hat er viel Palaver mit seinem Stamme gehabt.« Tatsächlich war Manga Bells Heirat mit der sechzehnjährigen Emmy Engome Dayas, Tochter des englischen Kaufmanns Thomas Dayas und seiner Frau Tebedi Njanjo Eyum aus Bonanjo, im Jahr 1897 ein mehrfacher Kulturbruch. Manga Bell entschied sich entgegen der Tradition seiner Vorfahren für die monogame Ehe, heiratete keine Frau aus einer der einflussreichen Familien der Duala, und beide – sie gilt als besonders fromm – sind Mitglieder der Gemeinde der Basler Mission.
Hätte sein Vater sechs Jahre zuvor im Berliner Kolonialamt Gehör gefunden, wäre Manga Bell jetzt Deutscher. Es würde ihm gefallen. Er spricht Deutsch, er schätzt die deutsche Kultur und pflegt die in seiner Jugend in Deutschland geschlossenen Freundschaften. Als sein Vater starb, ging in Aalen bei einem alten Freund die Mitteilung ein: »Tiefgebeugt machen wir die traurige Anzeige, daß unser innigst geliebter Vater, Großvater A. Manga Bell Oberhäuptling von Duala und Kamerun nach qualvoller schwerer Lungenentzündung im Alter von 55 Jahren heute Nachmittag 5.05 uns durch den Tod entrissen worden ist. Duala, 2. September 1908. Im Namen der Hinterbliebenen, Tiefbetrübter Sohn Rudolf Manga Bell«. Nach dem Berlin-Besuch mit seinem Vater hatte Manga Bell seinen ältesten, damals vierjährigen Sohn Alexander Ndumbe zur Schul- und Berufsausbildung in Deutschland gelassen. Der Respekt, die Zuneigung, die er für die Deutschen empfindet – für seine Leute ist er »der Deutsche« –, wird von ihnen erwidert. Als Hellmut von Gerlach, Journalist und ehemaliger Reichstagsabgeordneter, Kamerun bereist, notiert er, Manga Bell werde als einziger Schwarzer der Kolonie von den Beamten gesiezt.
Die freundlichen Beziehungen, die Manga Bell und die Deutschen pflegen, sind für beide Seiten nützlich. Zwar ist Manga Bell ein reicher Mann. Er hat von seinem Vater mehrere Kakao-Plantagen geerbt, etliche wertvolle Grundstücke und einige der schönsten Häuser Dualas, die er – wie auch der wohlhabende Plantagenbesitzer David Mandessi Bell, ein Adoptivsohn des alten King Bell – an deutsche Behörden und Geschäftsleute vermietet. Aber neben dem Vermögen hat Manga Bell auch die Schulden seines Vaters geerbt. Sie sind so drückend, dass er den Gouverneur um eine Vergütung für seine Tätigkeit als Oberhäuptling bitten muss und um die Erlaubnis, in der sogenannten Eingeborenengerichtsbarkeit als Schiedsrichter aufzutreten, ein durchaus einträgliches Amt, allein an einem »Weiberpalaver« verdient der Schiedsrichter zehn Mark. Gouverneur Seitz entspricht den Wünschen Manga Bells, setzt seine Vergütung als Oberhäuptling auf 3000 Mark jährlich fest und erhält im Gegenzug Manga Bells Versprechen, nach Kräften »die Interessen der Kaiserlichen Regierung fördern zu helfen«. Damit folgt der Gouverneur einer Empfehlung des Bezirksamtmanns von Duala. Hermann Röhm hatte ihm zu dem Geschäft mit der Begründung geraten, es sei »politisch von Bedeutung«, Manga Bell »in der Hand zu haben«. Das Kalkül ist plausibel. Aber es geht nicht auf.
Anfang Juni 1910 – wenige Wochen vor dem Rücktritt von Kolonialstaatssekretär Dernburg nach noch nicht vierjähriger Amtszeit – entschließt sich Gouverneur Seitz zu einem Modernisierungsprojekt in Duala, das die Stadt, in der inzwischen etwa 400 Europäer und 20000 Afrikaner leben, innerhalb von fünf Jahren von Grund auf verändern soll. Ziel ist vor allem die Trennung von Europäern und Schwarzen. Die Duala sollen von ihren angestammten Wohnsitzen am linken Ufer des Kamerunflusses entfernt, das Gebiet zu einer Europäerstadt umgestaltet werden. Dafür müssen die Einheimischen enteignet und in neue Quartiere an der Peripherie, vom alten Stadtgebiet durch eine ein Kilometer breite Freizone getrennt, abgeschoben werden. Das neue Hüttendorf (»Neu-Bell«) für die Duala liegt teilweise in Überschwemmungsgebieten. Als Entschädigung sieht der Plan je Quadratmeter Boden, dessen Preis am Flussufer zu diesem Zeitpunkt 20 Mark beträgt, 40 Pfennig (später bis zu 2,10 Mark) vor. Jeder Europäer soll drei schwarze Bedienstete bei sich unterbringen dürfen, allen anderen Afrikanern ist es künftig nur noch erlaubt, bei Tag die Europäerstadt zu betreten. Die Gesamtkosten des Projekts werden auf 5,6 Millionen Mark geschätzt. Urheber des Plans ist der ehemalige, inzwischen verstorbene Bezirksamtmann von Brauchitsch, ausgearbeitet hat ihn sein Nachfolger Röhm.
Wirtschaftlich entspricht das Projekt den kolonialpolitischen Intentionen Dernburgs. In der aufstrebenden Handelsstadt sollen neue Straßen und Häuser gebaut, mit einer modernen Infrastruktur soll Duala zu einem Aushängeschild der deutschen Kolonialpolitik und mit einem »Welthafen«, dem größten Hafen an der Küste Westafrikas, zum Symbol erfolgreicher deutscher Weltpolitik werden. Zugleich haben die Enteignungen den Vorteil, dass die Gewinne, die die Duala bisher aus dem Verkauf ihrer Grundstücke zogen, künftig dem Gouvernement zufließen. Aber das allein kann nicht dessen Bereitschaft erklären, mit einer derart drastischen Maßnahme, der rassischen Segregation Dualas, die Konfrontation mit den Afrikanern zu suchen; zumal sie in den vergangenen Jahren freiwillig etliche Grundstücke am Flussufer gegen einen guten Preis verkauft haben. Für die Rassentrennung machen Seitz und Röhm auch tropenhygienische Gründe geltend: Da die Duala zu zweiundsiebzig Prozent mit Malaria infiziert seien, bildeten sie eine Ansteckungsgefahr für die Europäer. Der Gourverneur und sein Bezirksamtmann stützen sich auf ein Gutachten des Kameruner Regierungsarztes Hans Ziemann, der schon zehn Jahre zuvor auf einem internationalen Medizinerkongress in Paris die systematische Anwendung der Chininprophylaxe zur Bekämpfung der Malaria als »gänzlich undurchführbar« verworfen und empfohlen hatte, stattdessen zwischen europäischen Vierteln und Eingeborenensiedlungen an der westafrikanischen Küste einen Abstand von etwa tausend Metern vorzuschreiben. Diesen Vorschlag wiederholt Ziemann in seinem Gutachten »im Interesse einer schnellen und relativ radikalen Sanierung Dualas«, doch macht er am Ende seiner Schrift ebenso knapp wie unmissverständlich deutlich, dass ihn noch andere als tropenmedizinische Gründe zum Anhänger der Rassentrennung machen: »Ganz abgesehen wird hierbei noch von dem enormen Vorteil, den die räumliche Trennung der oft johlenden und schreienden, jedenfalls unruhigen Eingeborenen für das Nervensystem der Europäer bringen wird.« Das entscheidende Motiv aber benennt Hermann Röhm: Die Rassentrennung finde »ihre Berechtigung in der Bedeutung und dem Gegensatz der weißen Rasse gegenüber der schwarzen. Sie muß aus diesem Gesichtspunkt heraus gebieterisch gefordert werden, um der Gefahr, in die die Engländer an der afrikanischen Westküste (cfr. Lagos, Sierra Leone, Calabar) hineingetreten sind und der wir gerade in Duala ziemlich nahe sind, rechtzeitig oder wenigstens solange wie möglich, zu entgehen, nämlich dem Ansetzen und Entwickeln zur sozialen und politischen Gleichstellung mit den Eingeborenen.« Und die muss um jeden Preis verhindert werden, wenn nicht der Kolonialismus seine vermeintliche Legitimationsgrundlage verlieren soll. Die deutsche (beziehungsweise europäische) Kultur empfiehlt sich den Afrikanern also als Vorbild, dessen Nachahmung sie zugleich strikt unterbindet.
Der Enteignungsplan sieht vor, dass mit festen Häusern bebaute Grundstücke – wie die Manga Bells und David Mandessi Bells – von der Enteignung ausgenommen sind, dass aber das Eigentumsrecht beschränkt wird: Künftig sollen sie nur noch »Nichteingeborene« bewohnen dürfen. Denn die nach kolonialem Vorbild errichteten Häuser seien – wie zwei andere Regierungsärzte in einem Gutachten versichern – lediglich Ausdruck der »Afterkultur« der Schwarzen, die ihre Entwicklung zu »Hosenniggern« beschleunige. Die Vertreibung ist demnach als fürsorglicher Akt zu verstehen, der die Afrikaner vor ihrer kulturellen Entfremdung bewahren soll. Manga Bell hatte in seiner Inthronisierungsrede dem Volk der Duala versprochen: »Ihr, Duala, wisset, dass die Mauer, die zwischen Weißen und Schwarzen existiert hat, heute zerstört wurde.« Das Gegenteil ist richtig. Die Enteignung der Duala soll die Mauer für die Afrikaner unüberwindlich machen.
Doch die Arbeit verzögert sich. Dabei unterstützt der Nachfolger Dernburgs, Kolonialstaatssekretär Friedrich von Lindequist, den Enteignungsplan vorbehaltlos. Lindequist ist ein erfahrener Kolonialbeamter und den Vorstellungen seines Vorgängers von einer »negererhaltenden« Politik verpflichtet. Sein Amt als Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika hatte er einige Jahre zuvor unter der Bedingung angetreten, dass dem seit dem Herero-Krieg berüchtigten Lothar von Trotha das Kommando über die Schutztruppe entzogen werde. Lindequist wünschte die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion und ließ die Schwarzen in Konzentrationslager sperren, nahm ihnen Vieh und Boden und verpflichtete sie, stets eine Messingmarke zur persönlichen Identifikation mit sich zu führen. Die geplante Enteignung der Duala stellt für ihn selbstverständlich kein Problem dar. Er beantragt die erforderlichen Mittel beim Reichstag, und das Parlament bewilligt sie erwartungsgemäß. Dann aber erkrankt Bezirksamtmann Röhm und kehrt vorläufig zur Behandlung nach Deutschland zurück, Gouverneur Seitz wird nach Deutsch-Südwestafrika versetzt, und sein Nachfolger, der von Dika Akwa gelobte Otto Gleim, erweist sich durchaus nicht als glühender Befürworter der Enteignungspläne. Er hat gegen die Rassentrennung grundsätzlich nichts einzuwenden, doch plagen ihn »erhebliche Zweifel an der Zweckmäßigkeit der geplanten Maßnahmen«. Insbesondere die »völlige Abdrängung der Eingeborenen vom Flusse, auf den sie als altes Händler- und Fischervolk angewiesen sind«, halte er »weder für gerechtfertigt noch zweckmäßig«. Es genüge für die Errichtung eines Europäerviertels vollkommen, nur einen Teil der Stadt für die Europäer zu reservieren. Wenn der Staatssekretär einverstanden sei, erlaube er sich den Vorschlag, den für die Enteignung bewilligten Etat von 650000 auf 300000 Mark zu kürzen. Aber Lindequist ist keineswegs einverstanden. Er ist empört. Der Enteignungsplan sei unverändert umzusetzen, das Budget werde nicht angetastet. Weisungsgemäß bereitet Gleim die Enteignung vor. Im Oktober 1911 unterrichtet er die Kaufleute und die Vertreter der Missionen. Einige Firmen und Verbände – wie der Verband der Kamerun- und Togo-Pflanzungen – stimmen dem Enteignungsplan zu, aber etliche Kaufleute maulen, das Gouvernement wolle die Afrikaner nur verdrängen, um die Grundstücke selbst zu hohen Preisen an private Gesellschaften weiterzuverkaufen. Gleichzeitig konfrontiert Gleim auch die Oberen der Duala mit den Plänen. Sie erklären, dass sie ihre Grundstücke niemals freiwillig hergeben würden: »Der Grund und Boden ist unser einziges Vermögen, von seinem Verkauf leben wir.« Als sie sich auch auf weiteren Versammlungen weigern, ihrer Vertreibung zuzustimmen, entscheidet Gleim kategorisch, dass die Enteignung nun vollzogen werde, kehrt jedoch vor Beginn nach Deutschland zurück. Nicht nur Gleim räumt seinen Posten, auch Lindequist tritt unter Protest zurück. Beide empört das Marokko-Kongo-Abkommen vom 4. November 1911, mit dem Deutschland die französische Vorherrschaft über Marokko anerkennt. Im Gegenzug tritt Frankreich ein 295000 Quadratkilometer großes, an Kamerun angrenzendes Territorium (»Neukamerun«) an Deutschland ab, erhält dafür jedoch den »Entenschnabel« an der Nordspitze Kameruns, alles in allem ein für die Anhänger der deutschen Kolonialpolitik dürftiges Ergebnis.
Gleims Stellvertreter, Wilhelm Peter Hansen, steht auf Seiten der Duala und ist nicht bereit, die Enteignung zu unterstützen. Da er sie nicht verhindern kann, versucht er sie zumindest zu verzögern. Gegenüber dem Berliner Kolonialamt bedauert er, wegen Personalmangels mit der Enteignung nicht beginnen zu können, und verlangt zugleich mehr Personal. Bis die Beamten – zusammen mit dem neuen Gouverneur, dem Juristen Karl Ebermaier – Kamerun erreichen, werden Monate vergehen. Hansens Verschleppungstaktik verschafft den Duala Zeit, ihren Widerstand gegen die Pläne vorzubereiten. Am 30. November 1911 erhebt Manga Bell in einem Telegramm an den Reichstag die erste formelle Beschwerde, und zwar im Namen aller Duala.
Denn eines hat die deutsche Kolonialregierung schon vor der Enteignung erreicht: Die Konkurrenz und die alten Zerwürfnisse innerhalb der Duala – vor allem zwischen dem Bell- und dem Akwa-Clan – sind vorbei. Grete Ziemann hatte noch geschrieben: »Es müsste schon selten ungeschickt verfahren werden, wenn man es zu einer Einigung der Neger gegen den Weißen kommen ließe.« Dem Gouvernement und Deutschen wie Hans Ziemann ist das in kürzester Zeit gelungen. Der Ngondo, die Versammlung der Duala-Oberen, hat Manga Bell in dieser Sache zum Sprecher des gesamten Duala-Volkes bestimmt. Ausgestattet mit diesem Mandat, protestiert Manga Bell in seinem Telegramm: »Den hohen deutschen Reichstag bitten Duala-Oberhäuptlinge mit Rücksicht auf ihre Wehrlosigkeit gehorsamst den Bundesrat bzw. den Herrn Reichskanzler hochgeneigtest ersuchen zu wollen, Maßnahmen zur Rückgängigmachung der vom hiesigen Gouvernement beabsichtigten Enteignung unseres ganzen Grund und Bodens und Zurückdrängung des Duala-Volkes vom Fluss zu ergreifen, dadurch die Existenzfähigkeit des ganzen Volkes in Frage gestellt«.
Einige Monate später reichen die Duala-Häuptlinge eine ausführliche Eingabe an den Reichstag nach. »Für das wertvolle Erbgut unserer Vorfahren«, klagen sie, werde ihnen ein »geradezu jämmerlicher Preis« geboten. Ihnen sei bei einem Zwangsverkauf mindestens das Doppelte des üblichen Bodenpreises anzubieten, nicht 40 Pfennig je Quadratmeter. Besonders empört sie das Angebot des Gouvernements, ihnen »Ersatzland in Gestalt von unserem eigenen Farmland […] zu geben. Hierzu erhebt sich die Frage, seit wann ist denn unser ländlicher Grundbesitz Eigentum der Regierung geworden […]?« Sie seien bereit, über den Verkauf von Grundstücken zu einem fairen Preis zu verhandeln, aber die Enteignung sei zu unterlassen. Denn den deutschen Begriff »Enteignung« verstünden sie als »gewaltsame Entreißung«. Zugleich stellen sie das Vorgehen der Kolonialregierung in einen größeren historischen Zusammenhang. Erst sei mit dem Zwischenhandel ihr traditionelles Gewerbe zerschlagen worden, dann hätten sie sich auf Anraten des Bezirksamts in den vergangenen Jahren auf den Farmbau im Flussgebiet – Kakao, Kautschuk – und auf die Fischerei verlegt. Nun sollten sie auch noch die Siedlungen am Fluss verlassen. Aber ihre Gewerbe könnten sie nur fortführen, wenn »das bisherige Bewohnen am Ufer uns belassen wird«.
Die Eingabe findet im Reichstag nur mäßiges Interesse. Erst Ende des Jahres, am 5. Dezember 1912, befasst sich die Petitionskommission damit, ein halbes Jahr später bestätigt der Reichstag die Überweisung der Petition an die Regierung »zur Erwägung« ohne Debatte. Aus Berlin haben die Duala vorläufig also keine Hilfe zu erwarten, in Kamerun aber verstärken sie ihren friedlichen, doch hartnäckigen Widerstand. Auf Versammlungen mit dem Bezirksamtmann und in einer Petition an Gouverneur Ebermaier geht es, neben der Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz, den Duala-Oberen immer wieder vor allem um drei Punkte. Erstens machen sie klar, dass die von der Kolonialregierung vorgetragenen tropenhygienischen Argumente nur vorgeschoben sind und die versprochene Verbesserung der hygienischen Verhältnisse der Duala keineswegs beabsichtigt ist. Denn seit zwei Jahren – als die Enteignungspläne aufkamen – dürfen auf der Jossplatte weder feste noch Mattenhäuser errichtet, alte aber auch nicht ausgebessert werden: »Daß dadurch der Gesundheitszustand des gesamten Volkes, insbesondere der der aufwachsenden Jugend in Frage gestellt ist, liegt klar auf der Hand.« Zweitens befürchten die Duala – vor allem deren junge Elite – ihren »kulturellen Ruin«, wenn sie von den Europäern, insbesondere von den Missionsschulen am Flussufer getrennt würden . Der dritte und für Manga Bell entscheidende Punkt aber ist der von seinem Großvater King Bell und anderen Duala-Oberen mit den Deutschen geschlossene Vertrag von 1884: »Dass das von uns nun kultivierte Land und der Grund, auf denen die Dörfer errichtet sind, Eigentum der jetzigen Besitzer und ihrer Nachkommen sei.« Das ist unmissverständlich. Zwar könnte sich die Kolonialregierung auf den Standpunkt stellen, nach Ansicht deutscher Völkerrechtler sei der Vertrag unwirksam, nur geschlossen – wie es der Bonner Staatsrechtler Philipp Zorn formuliert –, um »den Eingeborenen die Annektierung ihres Landes weniger fühlbar zu machen und so die Okkupation zu erleichtern«. Aber damit würde sie die Kolonialherrschaft als reine Gewaltherrschaft desavouieren. Also beteuert Bezirksamtmann Röhm, selbstverständlich gelte der Vertrag, nur habe das zugunsten der Deutschen ebenfalls vereinbarte right of management Vorrang und erlaube die geplante Enteignung. Natürlich sollte die spezielle Regelung zum Bodeneigentum genau das ausschließen. Das ist nicht nur den Duala klar, sondern auch den Kolonialbeamten. Aber die Kolonialregierung beharrt auf ihrem Standpunkt, denn Unruhen sind, wie Röhm nach Berlin berichtet, »nicht zu fürchten, es fehlt den Duala an jeglichen Machtmitteln und tatkräftigen, zielbewussten Führern, auch an der erforderlichen Einheit und Entschlossenheit«.
Sein Optimismus speist sich vermutlich auch aus dem Verhalten der Missionen. Als Röhm Manga Bell und anderen Häuptlingen die Umsiedlungspläne Anfang Dezember 1912 aushändigt, beschließen sie, die Wohnplätze in der neuen Matten- und Wellblechhüttenstadt Neu-Bell abzulehnen, fordern erneut, auf die Enteignung zu verzichten, und bitten schließlich die Missionen um Unterstützung. Zwar teilen einige europäische Missionare den Standpunkt der Duala, aber die Missionsleitungen sind zu keiner Hilfe bereit. Selbst Generalpräses Lutz von der Basler Mission, der Manga Bell als Gemeindemitglied und Kirchenältester angehört, beschränkt sich auf staatskundliche Lebenshilfe: »Seid Untertan der Obrigkeit.« Eine weiterreichende Unterstützung der Duala wäre im Übrigen zum Schaden der Mission, hat sie sich von dem zu enteignenden Boden ihres Gemeindemitglieds doch bereits eine besonders günstig gelegene Immobilie gesichert.
Zu diesem Zeitpunkt können die Duala also weder auf Unterstützung des Reichstags noch der Missionen hoffen. Triumphierend schreibt Oberrichter Oskar Meyer, dessen Auftreten in der Ära Puttkamer seine Karriere nicht ernsthaft hatte behindern können, in einem Geheimbericht nach Berlin: »Das Bezirksamt Duala wird […] in den nächsten Tagen den Enteignungsbeschluss erlassen.« Um das im letzten Augenblick doch noch zu verhindern, wendet sich Manga Bell am 15. Januar 1913 erneut mit einem Telegramm an den Reichstag: »Trotz begründeter Beschwerde vorschreiten streng Enteignungsarbeiten. Erbitte Einstellung Gouvernement gnädigst drahten, zumal große Anzahl Ansiedler dagegen.« Aber das Telegramm erreicht den Reichstag erst fünf Tage später. Der Leiter des Postamts von Duala hält es zurück, übergibt es dem Bezirksamt, das es beschlagnahmt und unverzüglich ein Verfahren gegen »Unbekannt« wegen Missachtung des Verbots unmittelbarer Eingaben an eine deutsche Behörde einleitet. Zwar wurde ein solches Verbot nie öffentlich bekannt gemacht, und der Reichstag ist auch keine Behörde, doch die verzögerte Zustellung des Telegramms gibt dem Bezirksamt genügend Zeit, um vollendete Tatsachen zu schaffen. Noch am Nachmittag des 15. Januar 1913 erlässt Bezirksamtmann Hermann Röhm den Beschluss zur Enteignung von insgesamt 903 Hektar.
Kolonialstaatsekretär Solf bestätigt den Beschluss, fordert die »tunlichste Beschleunigung« der Enteignung und regt gegen Manga Bell Maßnahmen an »für den Fall, dass er sein Verhalten nicht demnächst ändert«. In Betracht zu ziehen seien der Entzug der ihm als Oberhäuptling gezahlten Vergütung und der Entzug seiner Schiedsrichterfunktion in der »Eingeborenengerichtsbarkeit«. Noch werden weitergehende Repressionen nicht erwogen, längst ist den Beamten in Berlin und Buea aber klar, welche Gefahr Manga Bell für die Kolonialregierung von Kamerun bedeutet. Er hat in der Auseinandersetzung um die Enteignung nicht nur in kurzer Zeit die Clans der Duala miteinander versöhnt und hinter sich gebracht. Vor allem ist es die Wahl seiner Waffen, die ihn für die Kolonialherrschaft zu einem schwer kalkulierbaren Risiko macht. Anders als Mpondo Akwa versteht sich Manga Bell nicht als Revolutionär oder Freiheitskämpfer, der sich umstandslos vom Bezirksgericht als Aufrührer aus dem Verkehr ziehen ließe. Er beschränkt sich darauf, die Kolonialregierung selbstbewusst immer wieder an einen Rechtsgrundsatz zu erinnern, der ein Prinzip aller europäischen Rechtssysteme bildet: Pacta sunt servanda – Verträge sind einzuhalten. Die Hartnäckigkeit, die er dabei an den Tag legt, wirkt auf das Gouvernement und das Bezirksamt auch deshalb so provozierend, weil er selbst auf jede Provokation verzichtet. Aus ihm spricht kein in juristischen Winkelzügen erfahrener Advokat, sondern eher der nüchterne Notar, der nicht verhandelt, sondern die Rechtslage erläutert. Zwar ist nicht belegt, dass Manga Bell in seinen Jahren in Deutschland auch eine juristische Ausbildung erhalten hat, aber die Grundlagen des Rechts hat er offensichtlich gelernt und besser begriffen als sein alter Bekannter aus deutschen Jugendjahren Hermann Röhm, mit dem er sich – so sagt es zumindest die Überlieferung – seit dieser Zeit duzt. Bezirksamtmann Röhm ist es, der Manga Bell zum Akteur in einer Rolle erklärt, die Manga Bell nicht spielen will und auch nicht spielen wird, die aber für ihn tödlich enden wird. Schon im Januar 1913 heißt es in einem Bericht des Gouvernements über Manga Bell: »Er erweist sich immer mehr als Führer der gegen die Regierung gerichteten Bewegung unter den Eingeborenen und kommt nach den Berichten des Bezirksamtmannes in erster Linie als Aufhetzer und Friedensstörer in Betracht.«
Manga Bell protestiert gegen den Enteignungsbeschluss beim Reichstag und weist auf die rechtswidrige Beschlagnahme des Telegramms hin. Er protestiert beim Bezirksamt und erklärt zusammen mit den anderen Häuptlingen der Duala, weder nähmen sie die Entschädigungszahlungen an, noch seien sie bereit, nach Neu-Bell umzusiedeln. Und er protestiert beim Gouverneur, zwar schon mit der Gewissheit des Misserfolgs, aber mit bisher in der Kolonie unerhörten Worten und einigen grundsätzlichen Gedanken. King Bell und die anderen Duala-Oberen, die seinerzeit gegenüber den Deutschen auf ihre Souveränität verzichteten, heißt es in der Beschwerde, hätten geglaubt, dass die deutsche Regierung »die Anerkennung der persönlichen Freiheit und der Gleichheit aller Menschen herbeiführe und dann die völlige bürgerliche Emanzipation durch den Staat erfolge: aus Untertanen werden Staatsbürger«. Das waren kaum die Gedanken der Duala-Oberen von 1884, aber es sind die Vorstellungen der Duala-Oberen von 1913. Und die sind für Beamte wie Röhm und Ebermaier eine Provokation. Doch Manga Bell geht in der Beschwerde noch einen Schritt weiter. Er verweist nicht mehr nur auf die vertraglichen Rechte der Duala von 1884, sondern bezichtigt die deutsche Kolonialregierung jetzt ausdrücklich des »Vertragsbruchs«, der den Duala »Veranlassung geben [könnte], in Erwägung zu ziehen, ob nicht nach dem Geschehenen von dem Vertrage zurückzutreten und der Vertrag mit einer anderen Macht abzuschließen wäre«.
Die Reaktion der Kolonialregierung ist unmissverständlich. Anfang August 1913 stellt Röhm Manga Bell vor die Wahl, sich zu entscheiden: entweder für das Häuptlingsamt, also für die Regierung, oder für die Duala. Manga Bell entscheidet sich für die Duala und wird am 4. August seines Amtes als Oberhäuptling enthoben. Schon vor seiner Absetzung hatten die anderen Duala-Oberen dem Gouvernement anheimgestellt, sie ebenfalls ihrer Ämter zu entheben. Inzwischen ist die Stimmung in der Bevölkerung so aufgeheizt, dass Gouvernement und Bezirksamt zum für sie nächstliegenden Mittel greifen. Am 10. August 1913 geht der leichte Kreuzer Bremen vor Anker, Offiziere und Mannschaften werden gelandet und sollen die Duala mit der Präsenz militärischer Stärke einschüchtern. Offenbar ohne durchschlagenden Erfolg. Als Ende des Monats Staatssekretär Solf in der Kolonie erscheint, protestieren die schwarzen Einwohner Dualas auf einer Veranstaltung, zu der Solf die Bevölkerung eingeladen hat, gegen den geplanten Landraub des Gouvernements. Manga Bell, der Solf am Tag zuvor in einem Brief noch einmal die Gründe für den Widerstand erläutert hat, meldet sich zu Wort: »Seit der Besitzergreifung der Kolonie Kamerun durch Deutschland ist noch nie eine Spannung zwischen den Eingeborenen und Europäern von dieser Größe eingetreten und noch keine Maßregel von solcher Tragweite getroffen worden. Der Angelegenheit wird von den Duala das größte Gewicht beigelegt, weil sie bis ins Innerste der Bevölkerung trifft.« Solf aber wünscht keine Debatte und keine Verhandlung (»Ich will nicht des längeren verhandeln, es ist bereits genug verhandelt worden.«), er will nur eine Erklärung abgeben: »Häuptlinge und Leute von Duala! Hört mich an und merkt Euch meine Worte gut […] Meine Entscheidung, die Ihr nunmehr hören sollt, ist folgende: Das Enteignungsverfahren wird nicht aufgehoben.« Als wenige Tage später Röhm noch einmal mit den Duala-Häuptlingen verhandelt, zeigen sie sich erschüttert vom brachialen Auftritt Solfs: »Wir sind durch die Worte des Herrn Staatssekretärs nicht beruhigt worden, im Gegenteil, wir sind vielmehr aufgeregt.« Und das mit gutem Grund, wie Röhms Reaktion zeigt. Er schreit sie an: »Der passive Widerstand […], ihr ewiges Mäkeln und Wiederholen von durch die Regierung zum Überdruß abgelehnten Wünschen grenzt an Auflehnung […] und welche Folgen eine derartige Auflehnung mit sich bringt, das wissen alle oder viele von euch.«
Die Kolonialregierung ist entschlossen, die Enteignung um jeden Preis durchzusetzen. Sie versucht es – vergeblich – erneut mit Erpressung: Die Freilassung der inhaftierten Akwa-Leute Dika Akwa, Mpondo Akwa und Muange Mukuri wird an die Bedingung geknüpft, dass die drei ihren Widerstand gegen die Enteignung aufgeben. Und sie versucht es erneut mit martialischer Einschüchterung: Nach seiner Rückkehr nach Berlin ersucht Solf den Chef der Marineamtes, Großadmiral Alfred von Tirpitz, ein Marine-Geschwader nach Kamerun zu entsenden. Am Morgen des 2. Januar 1914 treffen vor der Küste Kameruns das Linienschiff Kaiser und der kleine Kreuzer Straßburg ein, drei Tage später folgt das Linienschiff König Albert. Während die Offiziere die Zeit vor allem mit Feiern an Bord, bei den Lokalbehörden oder auf Plantagen verbringen, absolvieren die Mannschaften Lande- und Schießübungen. Ein Landungskorps mit etwa 850 Mann stürmt Duala als Manöverübung und hält gemeinsam mit Schutz- und Polizeitruppe eine Parade ab. Der Divisionschef, Konteradmiral Rebeur-Paschwitz, meldet telegrafisch: »Die Parade des Landungskorps in Duala machte großen Eindruck«.
In diesen Tagen ist die Zwangsumsiedlung der Duala bereits in vollem Gange. Da sich die Familien weigern, ihre Hütten und Häuser zu räumen und freiwillig nach Neu-Bell zu ziehen, stellt das Bezirksamt von deutschen Beamten geleitete Kommandos aus Polizisten, Soldaten, Strafgefangenen, Zwangs- und Fremdarbeitern zusammen, die die Hütten abreißen und in Neu-Bell provisorisch neue errichten. Der Landraub wird schriftlich angekündigt: »Verfügung: Der Eingeborene Johannes Ekwe von Bonanjo hat innerhalb von vier Wochen vom Tage der Zustellung dieser Anordnung in dem Neusiedlungsgebiet hinter dem Strammen Hund auf dem dort von dem aufsichtführenden Sanitätsgehilfen Bauer angewiesenen Bauplatz seine Hütte wieder aufzubauen: Mit dem Aufbau hat er spätestens acht Tage nach der Zustellung dieser Anordnung zu beginnen. Kommt der Beteiligte dieser Anordnung nicht nach, so wird er mit Gefängnis bestraft. Der kaiserliche Bezirksamtmann, Röhm.« Die vom Bezirksamt errichteten fensterlosen Mattenhütten sind derart marode, dass der stellvertretende Regierungsarzt Hans Waldow ihnen öffentlich attestiert, eine Quelle der Malariaverbreitung zu sein, woraufhin ihn das Gouvernement zum Rücktritt drängt. Röhm berichtet nach Berlin, die Duala leisteten zwar keinen gewaltsamen Widerstand, beteuerten aber, »dass sie, selbst wenn die Hütten und Hausrat weggeräumt seien, Tag und Nacht unentwegt auf den bisherigen Grundstücken stehen und liegen bleiben werden.« Bei einem Treffen mit Röhm Anfang Januar 1914 verlangen Manga Bell und andere Duala-Häuptlinge zum wiederholten Male, nach Deutschland reisen zu dürfen, um beim Reichskanzler persönlich vorzusprechen. Die Duala hätten Anspruch darauf, »wie Menschen behandelt zu werden«. Jetzt sei ihnen klar, dass sie »nicht mehr als Menschen behandelt« würden und der Regierung »nichts mehr wert« seien. Röhm verbietet Manga Bell nicht nur die Ausreise, vielmehr richtet er jetzt seinerseits eine Forderung an die Duala: Sie sollen ihm sofort verraten, wo sich Ngoso Din befindet.
Ngoso Din – der mutige kleine Junge, der Reichsschullehrer Christaller einst im Kugelhagel des Dahomey-Aufstands geholfen hatte, Sachen aus dem Haus zu schleppen – ist einer der engsten Vertrauten Manga Bells und seit Ende vergangenen Jahres aus Duala verschwunden. Das Gouvernement befürchtet, er habe sich im Auftrag Manga Bells nach Deutschland abgesetzt, um dort unter Reichstagsabgeordneten und in der Presse für die Sache der Duala zu werben. Die Befragung der Häuptlinge nach seinem Verbleib wird für Röhm zur Geduldsprobe, wie ein Auszug aus dem Protokoll zeigt: »Bezirksamtmann: Ich frage die Häuptlinge, wo Ngoso Din ist. – Häuptling Ekwala Epee: Er wisse es nicht. – Häuptling Muduru Nkunguru: Er wisse es nicht. Er glaube, dass dieser in Balung sei, genau wisse er es nicht. – Häuptling Dibusi Dika: Er wisse es nicht. – Häuptling Duala Manga: Er wisse es nicht.«
Doch liegt die Kolonialregierung mit ihrer Vermutung richtig: Der Ngondo hat Ngoso Din nach Deutschland geschickt, damit er in Berlin Kontakt mit Manga Bells Bekanntem Hellmut von Gerlach aufnimmt. Der Chefredakteur der linksliberalen Welt am Montag und frühere Reichstagsabgeordnete der Freisinnigen hatte Manga Bell 1912 auf einer Kamerun-Reise kennengelernt und mit ihm Freundschaft geschlossen. Auf Bitten Manga Bells hat Gerlach schon im Spätsommer 1912 den bekannten Berliner Rechtsanwalt Dodo Hans Halpert eingeschaltet, der nunmehr als Rechtsvertreter der Duala in Deutschland auftritt. Die Sache eilt, denn der Abriss der Hütten auf der Jossplatte geht zügig voran. Noch im Dezember hat Halpert in einer Eingabe an Solf und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die Aufhebung der Enteignungen in Duala verlangt, erwartungsgemäß vergeblich. Zur gleichen Zeit hat Manga Bell Gerlach in einem Brief alarmiert: »Wenn nicht die öffentliche Meinung in Deutschland eingreift, desgleichen der Reichstag, so sind wir verloren und um zu retten, was zu retten ist, wird man wohl in der Ferne suchen müssen und sich bei den Engländern bzw. Franzosen, die dem Gedanken der Enteignung nie in ihren Kolonien näher treten können.« Dieser zumindest unvollständige und unverständliche Satz wird später im sogenannten Strafverfahren gegen Manga Bell und Ngoso Din eine bedeutende Rolle spielen.
Ngoso Din erreicht am 9. Februar 1914 mit dem Woermann-Dampfer Arnold Amsinck Hamburg und wird sofort festgenommen. Es gibt keinen Haftgrund, aber eine Nachricht aus Kamerun, übermittelt von der Berliner Kriminalpolizei: »Festnehmen auf Ersuchen des Bezirksamtmanns Duala Kamerunmann Hgaso [sic] Din, klein bis mittelgroß, hager, Schurrbärtchen, deutsch sprechend, straffällig wegen unerlaubter Auswanderung nach Deutschland, evtl. über England. Energische Nachforschung und Feststellung des Aufenthalts ist geboten. Drahtnachricht. Kriminalpolizei.« Ngoso Dins Versuch, Dodo Halpert einzuschalten, scheitert – sein Telegramm an den Anwalt hält die Polizei zurück. Da das Kolonialamt keinen Haftgrund benennen kann, muss Ngoso Din nach sechsundzwanzig Stunden entlassen werden. Sofort nach seiner Ankunft in Berlin formulieren Ngoso Din, Halpert und Gerlach – beraten von dem ehemaligen, inzwischen nach Deutschland zurückgekehrten stellvertretenden Gouverneur Wilhelm Peter Hansen – eine Petition an den Reichstag. Der Augenblick ist günstig. Demnächst stehen im Parlament die Etatberatungen an, in denen auch über weitere für die Enteignung beantragte Mittel entschieden wird. Die »Petition gegen die Zwangsenteignung des Duala-Volkes« fasst noch einmal alle Einwände gegen die Enteignung und die Verfehlungen der Kameruner Kolonialregierung zusammen. Inzwischen sei die Lage so dramatisch, dass ihre Häuptlinge nur noch mit Mühe »den Ausbruch ihrer Verzweiflung« verhindern könnten. Der Reichstag sei ihre letzte Hoffnung.
Am 18. März befasst sich die Budgetkommission mit der Petition. Und zum ersten Mal seit Beginn ihres friedlichen Widerstands haben die Duala Erfolg. Sozialdemokraten und Zentrumsabgeordnete rügen die Willkür der Behörden in Kamerun, das Ausreiseverbot für Manga Bell und das Zurückhalten seines Telegramms. Insbesondere die Repressionen von Bezirksamtmann Röhm kommen zur Sprache. Im Reichstag zitiert Georg Davidsohn (SPD) sarkastisch Röhms Definition von Auflehnung: »Es ist ein Auflehnen gegen die Regierung, wenn man nicht in der Form vorgeht, die die Regierung bestimmt. Wenn die Regierung es für zwecklos hält, dass sie nach Deutschland gehen, und sie tun es doch oder sie reden davon und wünschen es, so lehnen sie sich gegen die Regierung, die es abgelehnt hat, auf.« Die Mehrheit der Budgetkommission beschließt, die für die Enteignung beantragten Mittel vorerst nicht zu bewilligen. Erst seien die schweren Vorwürfe gegen die Regierung aufzuklären. Dazu seien sämtliche Akten des Enteignungsverfahrens in Urschrift vorzulegen. Bis zum Abschluss der Prüfung seien die Enteignungsmaßnahmen einzustellen, das Ausreiseverbot für Afrikaner sei aufzuheben. Das ist nicht nur ein unerwarteter Erfolg der Duala. Das Bemerkenswerteste daran ist, dass die Afrikaner ihn in der Metropole, in der Hauptstadt der Kolonialmacht errungen haben.
Entsprechend sind die Reaktionen. Abgesehen von Gerlachs Welt am Montag, die den Reichstagsbeschluss als Schlag gegen die »Tyrannei der Kolonialregierung« feiert, und dem sozialdemokratischen Vorwärts protestieren die meisten Zeitungen gegen das Petitionsrecht für »Neger«, polemisieren gegen »Negrophile im Reichstag«, beklagen die »Unverschämtheit des Negercharakters« und die »phantastisch-sentimentale Afrikaromantik« der Mitglieder der Budgetkommission. In fast gleichlautenden Erklärungen agitieren unter anderem der Verein Westafrikanischer Kaufleute Hamburg (»Nach Ansicht des Vereins steht den Eingeborenen, welche nicht Deutsche sind, ein Petitionsrecht an den Reichstag überhaupt nicht zu.«), der Ausschuss der Deutschen Kolonialgesellschaft und der Verband der Kamerun- und Togo-Pflanzungen gegen den Reichstagsbeschluss und verlangen die Fortsetzung der Enteignung. Daraufhin fordert die konservative Presse von der Regierung, »dem Treiben endgültig ein Ende zu machen«, und beschimpft Manga Bell als »Hochverräter«.
Zwar schickt Solf seinen Unterstaatssekretär Peter Conze nach Duala, um die Lage zu eruieren. Doch vor Ort beteuert dieser sogleich, allenfalls Härten ausgleichen, grundsätzlich aber nichts verändern zu wollen. Wie ernst er es mit dieser Selbstbeschränkung meint, macht Conze deutlich, als er Manga Bell und andere Duala-Häuptlinge, die an einer Ortsbegehung teilnehmen wollen, zurückweist. Geladen sind nur Europäer, unter anderem die Vertreter der Missionen und Verbände wie Rechtsanwalt Alfred Etscheit vom Verband der Kamerun- und Togo-Pflanzungen. Entsprechend verlaufen bei der Begehung die Gespräche. Auszug aus dem Protokoll, es reden Generalpräses Lutz von der Basler Mission, Unterstaatssekretär Conze und der katholische Bischof Vieter über die im Überschwemmungsgebiet liegende Neubausiedlung Neu-Bell: »Lutz: ›Ich bin erst zweimal im Neusiedelungsgebiet gewesen, z. Zt. ist das Gebiet trocken, ob es in der Regenzeit wird überschwemmt werden, weiß ich nicht. Vielleicht meinen die Duala gar nicht das, was nach unseren Begriffen gesundheitsschädlich ist. Der Widerwille gegen dieses Gebiet ist auf einen alten Aberglauben zurückzuführen, eine Prophezeiung, dass die Duala später einmal dort wohnen und dann sterben werden.‹ – Unterstaatssekretär: ›Diesen Aberglauben, den Sie ja wohl nicht teilen, können Sie gewiss den Eingeborenen ausreden, Sie haben doch grosse Autorität.‹ – Vieter: ›Einen Aberglauben auszureden ist nicht so einfach.‹« Es überrascht nicht, dass Conze keinerlei Probleme bei der Umsiedlung erkennen kann, selbst die Schätzung des Bezirksamtmanns, wonach ein von Manga Bell errichtetes, als Hotel vermietetes Gebäude mit einem Bauwert von 30000 Mark nur mit 320 Mark entschädigen werden soll, bewertet er als realistisch, und auch für die von Bischof Vieter immerhin beklagte Leichtbauweise der neuen fensterlosen Mattenhäuser findet Conze ein gutes Wort: »Das ist wohl das Los des Mattenhauses […] Das Wohnen in solchen Häusern wird freilich in hygienischer Hinsicht nicht ganz einwandfrei sein; kann man sie aber als Quelle von Malaria und Gelbfieber bezeichnen? Sind die neuen Häuser im besonderen bedenklicher als die früheren? Ich glaube nicht, jedenfalls nicht, wenn Schwarze darin wohnen«.
Dasselbe Schiff der Woermann-Linie, mit dem Peter Conze nach Kamerun gereist ist, hat auch einen Mitarbeiter von Rechtsanwalt Halpert, den Journalisten Paul August Tilg, nach Duala gebracht. Er soll vor Ort Informationen beschaffen, bei den Duala wohnen und den Kontakt zu Manga Bell halten, dem Solf als Chef des Kolonialamts weiterhin die Reise nach Deutschland verbietet. Während Tilg zusammen mit einem Bruder Manga Bells in Duala die Unterlagen des Enteignungsverfahrens zusammenstellt, holt Solf in Berlin zum Schlag gegen die Duala aus. Er überreicht der Budgetkommission am 1. Mai die umfangreiche »Denkschrift über die Enteignung und Verlegung der Eingeborenen in Duala (Kamerun)« – die sogenannte Solf-Denkschrift –, die zwar ausgewählte Akten der Enteignungsverfahrens enthält, aber vor allem dem Zweck dient, die Duala, insbesondere Manga Bell, und Rechtsanwalt Halpert zu diskreditieren. Deren Klagen über die Unzumutbarkeit der Enteignung und die Rechtswidrigkeit des Verfahrens seien im Großen und Ganzen »grobe Lügen«, die den »Charakteranlagen der schwarzen Rasse« zuzuschreiben seien. Manga Bell habe sich als »Hetzer« hervorgetan, Halpert habe »unhaltbare« und »unwahre« Behauptungen aufgestellt. Neben den bekannten tropenhygienischen und wirtschaftlichen Gründen für die Rassentrennung führt Solf auch den unerträglichen, scharfen »Eigengeruch« der Afrikaner an, der ein weiteres Zusammenleben mit ihnen in Duala unmöglich mache. Bereits die vorläufige Einstellung des Enteignungsverfahrens habe »schwere politische Folgen« gehabt, auf dem Spiel stehe »die Autorität der Regierung und der weißen Rasse«.
Zwar wird Solf von Rechtsanwalt Halpert umgehend selbst der Lüge überführt. Seine Behauptung, Halpert habe von den Duala für ihre Rechtsvertretung 8000 Mark gefordert und erhalten, ist falsch. Halpert weist nach, dass er das Geld nicht für sich, sondern unter anderem zur Finanzierung von Paul August Tilgs Reise nach Duala verwendet, er selbst hingegen überhaupt kein Honorar verlangt oder bekommen habe. Aber das nimmt der Denkschrift nichts von ihrer Wirkung. Weniger als seriöse Grundlage für die Arbeit der Budgetkommission – das soll sie auch nicht sein –, sondern vielmehr als wuchtige PR-Aktion des Kolonialamts wird sie ein voller Erfolg. Schon vor der Übergabe an den Reichstag von Solf in die Presse lanciert, entfesselt sie eine lautstarke Debatte, in der sich die Zeitungen in Rufen nach Bestrafung der Duala überbieten. Die Deutsche Zeitung nennt die Beschwerden der Duala »Lug und Trug«, das Eintreten der Sozialdemokraten, der Zentrumsabgeordneten und Rechtsanwalt Halperts für die Duala sei ein »Frevel an dem berechtigten und notwendigen Herrentum der weißen Rasse«. Und die Deutsche Tageszeitung verlangt »eine empfindliche Zurechtweisung […] des arbeitsscheuen und übermütigen Negerstammes und seiner weißen Helfershelfer«, weil sie sich »an die Öffentlichkeit und besonders den Reichstag herangemacht haben.« Eines der wenigen Blätter, die sich vor die Duala stellen, ist erneut der Vorwärts: »Der ganze Witz bei der Sache ist eben der, daß man die Duala loswerden, daß man sie die Unterjocherfaust einmal fühlen lassen will […] Die weiße Rasse soll nun einmal die Herrenrasse sein.«
Unterstützt von der Presse, der Deutschen Kolonialgesellschaft und den Kameruner Pflanzungs- und Handelsgesellschaften geht Kolonialstaatssekretär Solf am 9. Mai in die entscheidende Sitzung der Budgetkommission. Sie wird zum Triumph für das Reichskolonialamt und zur Katastrophe für die Duala. Als Solf die Sitzung verlässt, hat die Kommission – gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und der Polen – beschlossen, dem Reichstagsplenum zu empfehlen, der Enteignung gegen eine angemessene Entschädigung zuzustimmen, stellt im Übrigen aber klar, dass »mit allem Nachdruck in Kamerun jeder Agitation gegen die von der Regierung und Reichstag endgültig beschlossene Enteignung entgegengetreten wird, sobald diese Agitation Formen annimmt, durch welche die politische Ruhe gefährdet wird«. Der Meinungsumschwung in der Budgetkommission ist keine Folge der Denkschrift, sondern eines Telegramms aus dem deutschen Gouvernement in Buea, das Solf eine drei viertel Stunde vor Beginn der Sitzung erhalten hat. Danach hat der König der Bamun, Njoya, ausgesagt, ein Bruder Manga Bells habe ihn per Boten aufgefordert, sich am Aufruhr gegen die Deutschen zu beteiligen. Unmittelbar nach der Entscheidung der Budgetkommission telegrafiert Solf nach Buea: »Duala Manga ist sofort wegen Hochverrats in Verfolgung zu setzen und zu verhaften.«
Nicht nur ist die Sache der Duala verloren. Aus der Auseinandersetzung um Enteignung und Rassentrennung in Duala ist – zur Genugtuung des Gouverneurs Karl Ebermaier und des Bezirksamtmanns Hermann Röhm – der Kriminalfall Manga Bell und Ngoso Din geworden.