X.

SPÄTESTENS SEIT MÄRZ 1914 war die deutsche Kolonialregierung in Kamerun entschlossen, Manga Bell aus dem Weg zu räumen. Hermann Röhm hatte vorgeschlagen, ihn wegen Beteiligung »an der gesetzwidrigen Auswanderung Dins« und »mit Rücksicht auf dessen allgemein oppositionelle Haltung« zu verurteilen und zu verbannen. Auch das Gouvernement war überzeugt, dass seine Entfernung aus Duala »die Eingeborenen veranlassen wird, sich in ihr Schicksal zu fügen und freiwillig aus der Altstadt in die Neusiedlungen zu gehen«. Doch solle mit der Aburteilung angesichts der »im Reichstag herrschenden Stimmung« bis zur Bewilligung des Etats für 1914 gewartet werden.

Mit ihrer anfänglichen Niederlage in der Budgetkommission hatte die Kolonialregierung den Widerstand Manga Bells auf unerwartete Weise zu spüren bekommen. Das Votum der Kommission war der Beweis, dass das Gouvernement auch ohne Waffen verwundbar war, und so wurde es auch von den Duala begriffen. Mit ihren klandestinen, von Spitzeln der Kolonialregierung durchsetzten Versammlungen war es schlagartig vorbei, sie fanden jetzt öffentlich, unter den Augen des Bezirksamtmanns statt. Selbstbewusst hatte Manga Bell in einem offiziellen Brief an Röhm sich und andere Duala-Häuptlinge, was die Ausreise Ngoso Dins betraf, der Lüge bezichtigt und sie sogleich mit dem Verhalten der Kolonialregierung verteidigt: »Da alle Versuche, im gesetzlichen Weg das erstrebte Ziel zu erreichen, fruchtlos blieben, hat man nach dem deutschen Sprichwort ›Not kennt kein Gebot‹ zu verfahren sich entschlossen. Ich habe die Ehre zu sein, Euer Hochwohlgeboren gehorsamster Dualla [sic] Manga-Rudolf Bell«. Sein Affront entsprach der Stimmung unter den Duala. Seit längerem drohte der Zorn der Bevölkerung in Gewalt umzuschlagen, nur mit Mühe hatten die Duala-Oberen Übergriffe verhindert. Das Votum der Budgetkommission beruhigte einerseits die Lage, andererseits bestätigte es Manga Bells Strategie und gab der Widerstandsbewegung neuen Auftrieb. Hatte sich der Widerstand bisher im Wesentlichen auf ihr Siedlungsgebiet beschränkt, verbreiteten die Duala, die in der gesamten Kolonie als Handwerker, Händler, Firmen- oder Kanzleiangestellte lebten, jetzt auf Geheiß Manga Bells im ganzen Land die Nachricht vom Triumph in Berlin. Damit sollten nicht nur Verbündete gegen die Deutschen gewonnen, sondern auch dringend benötigte Spenden herangeschafft werden. Ngoso Dins Reise nach Deutschland und Paul August Tilgs Reise nach Kamerun waren teuer, und Manga Bell war auf das Geld der Häuptlinge des Binnenlands angewiesen.

Die Agitation war erfolgreich. Besorgt meldete Bezirksamtmann Röhm in einem Geheimbericht, »daß die Bewegung sich über die Stadt hinaus auf die benachbarten Landschaften, als welche vornehmlich Bassa, Wuri, Abo und Pongo in Betracht kämen, ausdehne, und dass besonders die Abos zu den Dualas neigen.« Innerhalb weniger Monate hatte sich die Stimmung in der Kolonie spürbar geändert. Es häuften sich Berichte aus den Missionsschulen über eine »gewisse Unruhe« und »Aufsässigkeit«, ein Pater klagte, seine Schüler hätten ihn gefragt: »Die Weißen sagen doch auch oft, sie würden black men töten; warum dürfen wir nicht sagen, wir töten white men?« Zwar war das Gouvernement davon überzeugt, dass angesichts der »Feigheit, Waffenunkenntnis und Waffenlosigkeit der Duala« kein Aufstand zu befürchten sei, doch die Autorität der Kolonialregierung bröckelte zusehends, nicht zuletzt wegen der Entscheidung der Budgetkommission zugunsten der Duala.

Aus dieser Bedrängnis erlöst die Deutschen jenes Telegramm aus Buea, das am 9. Mai 1914 um 8.15 Uhr in Berlin eingeht, unmittelbar vor Beginn der entscheidenden zweiten Sitzung der Budgetkommission. Nicht nur das Timing ist perfekt, auch die Botschaft stimmt Kolonialamtsleiter Solf euphorisch. Allerdings heißt es im Original zurückhaltend, Manga Bell habe Njoya aufgefordert, »sich mit den Duala solidarisch zu erklären und sich gegen die deutsche Regierung zu verbünden«, was zwar nach Widerstand, aber nicht nach Hochverrat und Aufruhr klingt, weshalb Solf der Kommission eine etwas andere Version vorträgt: Manga Bell habe Njoya »ersucht, mit den Dualas gemeinschaftliche Sache zu machen und ein Bündnis zum Sturze der deutschen Herrschaft abzuschließen«. Das klingt schon besser, ein klarer Fall von Hochverrat. Der Kolonialstaatssekretär und das Gouvernement in Kamerun haben freie Bahn.

Zwar protestieren Gerlach, Halpert und Hansen öffentlich gegen den Beschluss der Kommission und die drohende Verhaftung Manga Bells. Auch die Sozialdemokraten wenden sich im Plenum des Reichstags gegen die Verfolgung Manga Bells als Hochverräter. Aber sie haben nicht nur fast die gesamte Presse gegen sich, die das »scharfe« Vorgehen gegen die Duala und den »aufsässigen Nigger Bell« lebhaft begrüßt: »Und das ist auch nötig, soll die Autorität der Weißen dort nicht zum Teufel gehen. Fälle wie der des ›Prinzen‹ Akwa haben uns gerade genug geschadet.« (Leipziger Neueste Nachrichten). Solf gelingt es, selbst die letzten Zweifler unter den Zentrumsabgeordneten im Reichstag mit der Versicherung hinter sich zu bringen, die Enteignungen in Duala seien der Auftakt »zur Gründung eines großen, für den Weltverkehr geeigneten Hafens mit einer Europäerstadt«, des »größten Welthafens an der Westküste« Afrikas: »Und über diesem Hafen wird die deutsche Flagge wehen, die uns die Dualas nicht herunterholen sollen.« Grandiose Aussichten also. Ihrem Garanten Hermann Röhm verleiht Kaiser Wilhelm II. in Anerkennung seiner Verdienste und um die »schwierige Stellung des Bezirksamtmannes in Duala nach außen zu heben und zu befestigen«, die Krone zum Roten-Adler-Orden.

Röhm lässt Manga Bell verhaften und liefert Kolonialstaatssekretär Solf in Berlin den am 15. Mai bestellten Haftbefehl wegen »Hochverrats, Fluchtverdachts und Kollusionsgefahr« samt Auslieferungsantrag gegen Ngoso Din. Noch am selben Abend schließt sich hinter Ngoso Din eine Zellentür in der »Roten Burg«, dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz. Zwar protestiert Rechtsanwalt Halpert gegen die geplante Auslieferung, während der sozialdemokratische Abgeordnete Ludwig Frank im Reichstag die Behauptung, Din sei nach Berlin gekommen, um für die Abtretung Kameruns an England zu werben, im Namen des gesunden Menschenverstands zurückweist: »Es ist festgestellt, daß der Mann auf seiner Reise nach Berlin England nie berührt hat, es ist festgestellt, daß er über Antwerpen hierher nach Berlin gekommen ist; und nun behauptet der Herr Bezirksamtmann Röhm, daß durch diese Reise nach Berlin der Mann die Absicht betätigt habe, für die Abtrennung des Kolonialgebiets Kamerun und für die Angliederung an England zu wirken. Ich glaube, solche Behauptungen verfallen doch von vornherein dem Fluch der Lächerlichkeit, wenn man nicht etwas Schlimmeres annehmen will.« Aber weder Halperts Protest noch Franks Polemik können die Auslieferung Ngoso Dins verhindern. In seiner Erwiderung konfrontiert Solf die Sozialdemokraten gelassen mit einem unbestreitbaren Prinzip der Kolonialpolitik: »Meine Herren, wenn ich von dem Grundsatze aus die Neger behandeln wollte, den Sie aufstellen, daß alle Menschen gleich sind, dann würde ich die Kolonialverwaltung aufgeben.« Wenige Tage später, am 23. Mai 1914, wird Ngoso Din nach Hamburg überführt, und die Professor Woermann bringt ihn schließlich zurück nach Kamerun. Für die Passage des »Strafgefangenen Din (Arrestzelle)« berechnet die Agentur Gustav Pahl (Berlin) – ein Namensvetter des Aalener Finanzrats, der seinerzeit Manga Bell nach Deutschland begleitet hatte – 275 Mark.

Wer ist König Njoya, der mit seiner fristgerechten Aussage Manga Bell und Ngoso Din in die Gewalt der deutschen Kolonialregierung gebracht und damit für den Zusammenbruch des Widerstands der Duala gesorgt hat? Hellmut von Gerlach bezeichnet ihn als »deutsches Reptil«, als »eine Kreatur der deutschen Regierung«. Das ist überspitzt formuliert, trifft aber den Kern der Sache. Der König der Bamun im Nordwesten Kameruns ist einer der intelligentesten und gebildetsten Herrscher Afrikas. Er hat für die Sprache der Bamun eine eigene Schrift erfunden – ein Alphabet mit siebzig Buchstaben – und gilt als großer Förderer der Künstler seines Reichs, deren Werke bei europäischen Sammlern sehr begehrt sind. Von Anfang an hat er besonderen Wert auf gute Beziehungen zu den Deutschen gelegt. Nicht nur seinen Hof in der Residenzstadt Fumban hat er für die deutsche Kultur geöffnet, auch an den Schulen wird neben der eigenen Schrift die deutsche Sprache gelehrt. Politisch hat sich Njoya mit den Deutschen ebenfalls problemlos arrangiert, ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Er stellt seine Soldaten für Strafexpeditionen zur Verfügung, die Deutschen ernennen ihn zum Statthalter des Gouvernements. Als der Reiseschriftsteller und Landschaftsmaler Ernst Vollbehr – er wird in den dreißiger Jahren zu einem der populärsten deutschen Maler, seine Aufnahme in die NSDAP im Jahr 1933 genehmigt Adolf Hitler persönlich – König Njoya besucht, mokiert er sich über dessen »aus vielen Sprachen zusammengestoppelte Volapüksprache« und die »425 Weiber« Njoyas, dann aber staunt er über die Zeichen der deutschen Kultur, die er überall am Hofe findet. Die Schüler singen die deutsche Nationalhymne, wenn auch zum Missvergnügen Vollbehrs mit leicht verändertem Text: »Fumban, Fumban über alles«, in der Schule hängt eine Schwarzwälder Uhr an der Wand, ein Bild des Kaisers und eins der Kaiserin. In einem Klassenzimmer entdeckt der deutsche Besucher schließlich ein »leider längst entzweigetrocknetes Orchestrion, welches der deutsche Kaiser vor einigen Jahren Njoya neben anderen Geschenken übersandte als Gegengabe für den alten Perlthronsessel seiner Vorfahren, von dem sich Njoya damals sehr schwer trennte, hatten doch nicht weniger als 14 Vorfahren auf ihm gesessen.« 1908 war König Njoya mit Gefolge 350 Kilometer zum Sitz der deutschen Kolonialregierung nach Buea gereist und hatte dem damaligen Gouverneur Theodor Seitz den kostbaren Perlenthron als Geschenk für den deutschen Kaiser überreicht. Den Spitznamen der Deutschen »Unser Wilhelm in Kamerun« trägt König Njoya also ohne Zweifel zu Recht. Und unter allen Häuptlingen Kameruns soll Manga Bell ausgerechnet den loyalsten Gefolgsmann des deutschen Kaisers zum gemeinsamen Widerstand gegen die Kolonialregierung aufgerufen haben?

Das behaupten das deutsche Gouvernement in Buea und Bezirksamtmann Röhm in Duala, nicht aber König Njoya selbst. Er berichtet lediglich, am 26. April sei in Fumban ein Bote namens Ndame eingetroffen, ein gebürtiger Bamun und ehemaliger Sklave. Ndame habe gesagt, Manga Bell persönlich schicke ihn mit der Botschaft, die Zeit, über die 1884 der Vertrag mit den Deutschen geschlossen wurde, sei verstrichen. Er, Manga Bell, wolle »den Schwarzen heraushelfen aus der Grube, in die sie geraten sind« und bitte König Njoya um Hilfe. Bekämen sie in England Recht, sei er bereit, an Stelle der deutschen die englische Oberhoheit anzuerkennen: »Die Deutschen sind ungerecht, sie lieben die Häuptlinge der Schwarzen nicht, sondern plagen sie sehr und nehmen den Schwarzen sehr viel Geld ab […] Die Engländer dagegen machen es nicht so.« Für sein Vorgehen benötige er, Manga Bell, die Unterstützung angesehener Häuptlinge. Wenn Njoya einverstanden sei, möge er einen Boten nach Duala schicken. Zwei Tage später habe Ndame, sagt Njoya, seine Aussage in einem Punkt korrigiert. Njoya habe ihn gefangen nehmen lassen, und als er ihn am 28. April zur deutschen Versuchsstation Kuti abführen ließ, habe Ndame sich erinnert, nicht von Manga Bell, sondern von »dessen Bruder« nach Fumban geschickt worden zu sein.

Da Manga Bells Vater polygam war, hat Manga Bell viele Geschwister, aber nur mit einem Bruder – Henri Lobe – teilt er die Mutter. Da Manga Bell allerdings auch die anderen Söhne seines Vaters als Brüder betrachtet, läge es nahe, nach dem Namen zu fragen. Doch erweist sich auch das schnell als entbehrlich, denn als der Leiter der Versuchsstation Kuti Ndame am Abend des 28. April verhört, ist weder von Manga Bell noch von einem seiner Brüder die Rede, vielmehr behauptet Ndame jetzt, der Schneider Ekand’a Ngongi habe ihn beauftragt, der wiederum sei ein Verwandter Manga Bells. Er habe kurze Zeit bei ihm in Duala gewohnt und sei von ihm ins Vertrauen gezogen worden: »Den Duala Manga habe ich selbst nicht gesprochen. Als ich mit Njoya sprach, habe ich gesagt, dass Duala Manga ihm diese Botschaft schicke, ich glaubte mich dazu berechtigt, da Ekanda mir gesagt hatte, dass er, Ekanda, im Namen von Rudolf Bell mir diese Botschaft mitgebe.« Teil der Nachricht sei auch gewesen, dass Ngoso Din von Manga Bell nach Deutschland geschickt worden sei, um »Rechtsgelehrte« für die Sache der Duala zu gewinnen, doch solle er auf seiner Reise »auch in England, Frankreich, Spanien und Portugal für die Dualasache werben«. Im Übrigen habe Ekand’a sich geweigert, ihm einen Brief an Njoya mitzugeben: »Er sagte, ich, Ndame, sei mehr als ein Brief.« Auch Reisegeld habe er nicht bekommen: »Ekanda versprach mir aber, nach meiner Rückkehr ›alles Gute zu schenken‹.«

Njoyas Aussage, Manga Bell habe ihn als Verbündeten gegen die deutsche Kolonialmacht gewinnen wollen, existiert folglich nicht, es gibt nur seine Aussage über Ndames Erzählung. Doch auch dessen Darstellung, wonach Manga Bell (erste Version), einer seiner Brüder (zweite Version) oder ein Verwandter Manga Bells (dritte Version) ihn zu Njoya gesandt habe, könnte Manga Bell kaum belasten. Sie ist nicht viel mehr als wirres Gerede, Rechtsanwalt Halpert bezeichnet es als »Küstenklatsch«. Und Bezirksamtmann Röhm kennt noch nicht die vierte Version, als er und ein anderer Kolonialbeamter, Assessor Dr. Böttcher »als Richter«, am 10. Mai mit der Vernehmung »des Dualamanns Ekande Epanya, auch Ekande Ngongi genannt« beginnen. Der gibt zu Protokoll, »zu den Leuten« zu gehören, »welche Duala Manga folgen, wenn es zum Bezirksamt geht«. Bis vor kurzem habe er »hinter dem alten Hause des Duala Manga« gelebt, im Übrigen sei er mit Manga Bell weder verwandt noch verschwägert. Auch habe ein Bamun-Mann namens Ndame bei ihm weder gearbeitet noch gewohnt: »Einen Bamun-Mann namens Ndame kenne ich überhaupt nicht.« Er kenne gar keinen Bamun-Mann: »Dem Beschuldigten wurde darauf eröffnet, dass er auf Grund der ihn schwer belastenden Aussagen des Häuptlings Njoya und des Ndame in Untersuchungshaft käme.«

Die Verfahren gegen Manga Bell und Ngoso Din folgen keinen rechtlichen Prinzipien, sondern ausschließlich politischen Absichten der Kolonialregierung. Offenkundig geht es in dieser Inszenierung nicht darum, die beiden tatsächlich des Hochverrats zu überführen; Ziel ist es, sie auszuschalten. Aber selbst eine Schmierentragödie, wie sie Gouverneur Ebermaier und Bezirksamtmann Röhm in Duala geben, verlangt ein Minimum an Plausibilität. Wenn sich die unfreiwilligen Darsteller der Halunken-Rollen weigern, ihren Text zu sprechen, und sich mit keiner Silbe als Hochverräter zu erkennen geben, dann sollte tunlichst ein Stück Papier gefunden werden, aus dem die Schuld der Verbrecher vermeintlich schwarz auf weiß hervorgeht. Doch das ist nicht so einfach. Schon in ihrer an den Gouverneur gerichteten Beschwerde vom 20. Februar hatten Manga Bell und die anderen Duala-Oberen zwar angedroht, »in Erwägung zu ziehen, ob nicht nach dem Geschehenen von dem Vertrage zurückzutreten und der Vertrag mit einer anderen Macht abzuschließen wäre«. Aber diese Drohung steht in Einklang mit dem Recht: Rücktritt vom Vertrag wegen Vertragsbruchs. Hochverrat lässt sich darin beim besten Willen nicht erkennen.

In den beschlagnahmten Unterlagen Manga Bells haben die Kolonialbeamten immerhin die Abschrift des Briefes an Gerlach gefunden mit dem bereits zitierten Satzfragment: »Wenn nicht die öffentliche Meinung in Deutschland eingreift, desgleichen der Reichstag, so sind wir verloren und um zu retten, was zu retten ist, wird man wohl in der Ferne suchen müssen und sich bei den Engländern bzw. Franzosen, die dem Gedanken der Enteignung nie in ihren Kolonien näher treten können.« Dieser unverständliche Satz erscheint dem Gouvernement als ein so wichtiges Beweismittel, dass in Berlin darum gebeten wird, Gerlachs Wohnung durchsuchen zu lassen und ihn »zur völlig einwandfreien Klarstellung der unvollendeten Sätze« zu vernehmen.

Von einem geplanten Bündnis mit England ist in dem Brief jedenfalls keine Rede. Doch auf nichts anderes wollen Böttcher und Röhm hinaus, als sie Manga Bell am 10. Mai zum Verhör vorführen lassen: »Es erscheint vorgeführt der frühere Oberhäuptling Duala Manga Rudolf Bell. Duala Manga wird zum Vorwurf gemacht, dass er beschuldigt ist, ein Schriftstück an die englische Regierung entworfen zu haben, in dem England die Oberhoheit über die deutsche Kolonie Kamerun angeboten wird.« Weder Ndame noch König Njoya hatten die Existenz dieses Schriftstücks behauptet. Auch Manga Bell beteuert, nichts davon zu wissen. Er habe auch niemanden zu König Njoya geschickt oder schicken lassen, schon gar nicht Ndame, den er nicht kenne. Ekande Epanya sei ihm zwar bekannt, aber »ich verkehre wenig mit ihm« – er sei ein »Bellmann«, jedoch nicht sein Verwandter. An dieser Stelle des bis dahin für sie unergiebigen Verhörs täuschen Böttcher und Röhm den Beschuldigten mit einer Lüge, auf die sich – bis heute – der Hochverratsvorwurf gegen Manga Bell stützt: »Es wurde Duala Manga nochmals vorgehalten, dass der Bamun-Häuptling Njoya selbst ihn dieser strafbaren Handlung beschuldigt habe.« Manga Bell erwidert: »Ich kann mir nicht erklären, wie der Bamun-Häuptling zu seiner Anzeige gekommen sein kann, wir sind nicht verfeindet.« Daraufhin wird, wie das Protokoll vermerkt, Manga Bell »nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass es ganz unwahrscheinlich und ausgeschlossen sei, dass der Bamun-Häuptling Njoya diese ausführliche Anzeige gemacht und erfunden und der Ndame die Botschaft überbracht haben soll, ohne dass dies tatsächlich in seinem (Duala Manga’s) Auftrage oder auf seine Veranlassung geschehen sei.«

Wäre die Behauptung der Kolonialregierung richtig, dann hätte der intelligente, diplomatisch versierte Manga Bell ausgerechnet in dem Augenblick, in dem die Sache der Duala im Reichstag so günstig stand wie nie zuvor, keinen anderen als den engsten Verbündeten der Deutschen in Kamerun zum Abfall aufgefordert. Mit der lebensgefährlichen Mission in das 350 Kilometer entfernte Bamun hätte er – ohne ihn mit Reisegeld auszustatten – ausgerechnet einen Boten beauftragt, der nicht nur kein Vertrauter, sondern ein ihm unbekannter Bamun-Mann ist, der sich nicht erinnern kann, ob ihn Manga Bell persönlich geschickt hat, einer von dessen Brüdern oder ein anderer Verwandter. Das ist, wie selbst die deutschen Kolonialbeamten wissen sollten, »ganz unwahrscheinlich und ausgeschlossen«. Bis heute ist ungeklärt, wie die Aussagen Ndames und König Njoyas zustande kamen, aber klar ist, dass sie zum einen offenkundig unglaubwürdig sind und zum anderen von der Kolonialregierung dringend benötigt wurden. Darüber hinaus beschreibt Manga Bell in der Vernehmung präzise, was er von den »Engländern bzw. Franzosen« erwartet haben könnte. Die Mächte hätten vor einigen Jahren im belgischen Kongo – der damaligen Privatkolonie Leopolds II. – »Ordnung« geschaffen, »um die belgische Regierung zu verhindern, die Schwarzen zu quälen«, und so hätten sie auch der deutschen Regierung »untersagen« sollen, »mit der Enteignung fortzufahren«. Manga Bell hatte also offenbar eine internationale Untersuchungskommission oder eine Konferenz der europäischen Mächte im Sinn, um die Reichsregierung zum Einlenken zu bewegen. Das war vielleicht naiv, aber es klingt plausibel und keinesfalls nach Hochverrat. Ende des Protokolls: »Es wurde dem Duala Manga eröffnet, dass er auf Grund der Aussagen des Häuptlings Njoya und des Boten Ndame im dringenden Verdacht steht, sich des Verbrechens des Hochverrats schuldig gemacht zu haben.«

Noch größer ist die Herausforderung für die Kolonialregierung, Ngoso Din als Hochverräter darzustellen. Er ist nie in England gewesen, und in den Spitzelberichten der Berliner Polizei ist kein Kontakt mit Engländern oder anderen Ausländern vermerkt. Zwar wurde seine Verhaftung und seine Ausweisung nach Kamerun mit dem Verdacht des Hochverrats begründet, aber noch am 21. Juli räumt Otto Wieneke ein, der Stellvertreter des nach Deutschland in den Urlaub abgereisten Hermann Röhm, dass gegen Ngoso Din in Sachen Hochverrat »nur (ziemlich vage) Indizien« vorlägen. Immerhin seien gegen ihn »so zahlreiche Momente der Beteiligung an ›Geheimbündelei‹ (§ 129 StGB) gegeben, dass mit einer Verurteilung auf Grund des § 129 StGB gerechnet werden kann«. Das ist keine gute Nachricht für die Kolonialregierung, denn Geheimbündelei ist nach dem Reichstrafgesetzbuch keine besonders schwere Straftat: »Die Theilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, ist an den Mitgliedern mit Gefängniß bis zu einem Jahre […] zu bestrafen.« Selbst wenn – wie üblich – der Afrikaner die doppelte oder dreifache Maximalstrafe bekäme, wäre das zu wenig, um Ngoso Din auf Dauer kaltzustellen. Also werden Manga Bell und Ngoso Din gemeinsam wegen Hochverrats angeklagt – beide auf Grund der Aussagen des vermeintlichen Boten Ndame und König Njoyas.

Unmittelbar nach Manga Bells Verhaftung setzt die Kolonialregierung eine Welle von Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Festnahmen in Gang. Häuptling Mfomu von Bodiman, der Prediger Mbodi und etliche andere Duala werden ins Gefängnis geworfen, gegen den noch immer inhaftierten Mpondo Akwa, bei dem angeblich belastendes Material gefunden wird – unter anderem ein Pamphlet gegen den verstorbenen Kolonialoffizier Hans Dominik –, wird von Gouverneur Ebermaier ein weiteres Verfahren geplant mit dem Ziel, ihn »in die Südsee« zu verbannen: »Die gleichen Gründe würden auch bei Duala Manga dafür sprechen, ihn zur Strafverbüßung außerhalb des Schutzgebietes unterzubringen«. Zwar würden, klagt der mit der Führung der Ermittlungen beauftragte Assessor Eberhard Niedermeyer, viele Schriftstücke in »Eingeborenen-Häusern« sichergestellt, aber zweifellos hätten die Duala die wichtigsten Unterlagen beim Redakteur Paul August Tilg in Sicherheit gebracht – woraufhin am 10. Mai Beschlagnahme auch bei Tilg angeordnet wird. Natürlich könnten die Duala, jedenfalls aber der Europäer Tilg versuchen, sich mit Hilfe der drei Anwälte zur Wehr zu setzen, die 1914 in Duala vom Gouverneur zugelassen sind: Dr. Etscheit, Kern und Fricker. Doch stehen Etscheit und Kern in Diensten der Pflanzerverbände, die die Enteignungspläne des Gouvernements unterstützen, und Fricker verliert im Frühjahr 1914 plötzlich seine Zulassung. Gouverneur Karl Ebermaier entzieht sie ihm, weil Fricker, wie die Berliner Neuesten Nachrichten berichten, »in der Frage der Enteignung die Pflichten des weißen Rassenbewusstseins so weit vergessen hatte, dass er die Neger in ihren Treibereien gegen die deutsche Regierung beriet und unterstützte«.

Möglicherweise hat Ngoso Din diesen Anwaltsmangel vorausgeahnt. Die Vollmacht seiner beiden deutschen Anwälte befand sich mit an Bord der Professor Woermann, die Ngoso Din als »Strafgefangenen« nach Kamerun brachte. Es ist erstaunlich, dass Gouverneur Ebermaier nicht einmal einen der beiden Strafverteidiger kennt. Aber es ist keineswegs verwunderlich, dass er, als ihm Näheres über sie bekannt wird, einen Tobsuchtsanfall bekommt und Berlin um gerichtliches Vorgehen gegen seinen früheren Stellvertreter Wilhelm Peter Hansen und Hellmut von Gerlach bittet. Hier sei, protestiert er, »die Demokratie im Bunde mit der Sozialdemokratie«. Das trifft für beide Anwälte uneingeschränkt zu, insbesondere für Hugo Haase. Er ist mit Friedrich Ebert Vorsitzender der SPD, mit Philipp Scheidemann Vorsitzender der SPD-Reichtagsfraktion und als Strafverteidiger Karl Liebknechts im Hochverratsprozess vor dem Reichsgericht in Leipzig im Jahr 1907 berühmt geworden. (Liebknecht hatte man als Verfasser der Schrift Militarismus und Antimilitarismus angeklagt und zu einem Jahr und sechs Monaten Festungshaft verurteilt.) Der Name des zweiten Anwalts, Kurt Rosenfeld, steht in der ersten Hälfte des Jahres 1914 in allen deutschen Zeitungen. Er verteidigt die Sozialistin Rosa Luxemburg in zwei aufsehenerregenden politischen Prozessen an der Seite des Frankfurter Anwalts Paul Levi. Mit Haase und Rosenfeld hat Ngoso Din also zwei sozialistische, jüdische, in politischen Prozessen erprobte Verteidiger; darüber hinaus sind beide Pazifisten und Gegner der deutschen Kolonialpolitik, linke Sozialdemokraten, die das Bürgertum, die Militärs und die Beamten des Kaiserreichs – nach einem Wort Wilhelms II. – als »vaterlandslose Gesellen« perhorreszieren. Was Haase und Rosenfeld bei der Verteidigung Ngoso Dins erwartet, bekommen sie sofort zu spüren. Sie bitten Kolonialstaatssekretär Solf, den Vorsitzenden des über die Hochverratsanklage verhandelnden Gerichts in Duala »telegraphisch anzuweisen, dass wir zur Vorbereitung unserer Abreise rechtzeitig von der Hauptverhandlung eventuell per Kabel benachrichtigt werden, damit uns dadurch die Führung der Verteidigung ermöglicht wird.« Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Solf stellt »ergebenst anheim, ein entsprechendes Gesuch an die zuständige Stelle im Schutzgebiet von Kamerun unmittelbar zu richten«.

Es ist nicht bekannt, wie Gouverneur Ebermaier und Solf reagieren, als sie erfahren, wer Manga Bell verteidigen soll. Rechtsanwalt Halpert hat seinen Frankfurter Kollegen Paul Levi gebeten, sich mit ihm gemeinsam der Sache anzunehmen. Levi hat zugestimmt, obwohl der 31 Jahre alte Anwalt in diesen Monaten schwer beschäftigt ist. Seine Bühne ist nicht nur der Gerichtssaal, sondern auch das Podest bei Protestveranstaltungen, auf denen er in rhetorisch geschliffenen Reden gegen die Verurteilung Rosa Luxemburgs agitiert und die Massen zum sozialdemokratischen Kampf gegen den Militarismus aufruft. Levi ist nicht nur Anwalt, sondern ebenso Politiker, und er ist nicht nur der Strafverteidiger und Genosse Rosa Luxemburgs, Paul Levi ist seit einigen Monaten auch ihr Geliebter.

Hugo Haase, Kurt Rosenfeld, Paul Levi, Dodo Hans Halpert – die ersten drei zählen zur intellektuellen Elite der Sozialdemokraten, alle vier Strafverteidiger gehören zum Besten, was die deutsche Anwaltschaft aufzubieten hat. Selbst ein mit qualifizierten Richtern besetztes Gericht im Kaiserreich würde einem Strafprozess mit dieser Verteidigerriege mit Unbehagen entgegensehen. Die Kolonialbeamten, die über Manga Bell und Ngoso Din zu Gericht sitzen sollen, sind zwar Juristen, aber gegenüber diesem Quartett stehen sie – mit einer Anklage, deren Beweismittel aus Geschichten vom Hörensagen bestehen – von vornherein auf verlorenem Posten. Gouvernement und Kolonialamt droht eine dramatische Blamage. Seit Monaten berichten die deutschen Zeitungen über den Streit um die Enteignung der Duala, über die Auseinandersetzungen im Reichstag und den Hochverratsvorwurf gegen Manga Bell und Ngoso Din. Der Prozess findet unter den Augen der deutschen Öffentlichkeit statt, deren Neugier dank der Prominenz der Verteidiger noch zunehmen wird. Gouverneur Ebermaier erkennt die drohende Gefahr und plädiert in einem Schreiben an Solf angesichts »der hochpolitischen Bedeutung dieser Angelegenheit« dafür, im Verfahren jedenfalls die strafprozessualen Mindeststandards einzuhalten. Dann sei es aber nicht empfehlenswert, dass Assessor Niedermeyer sowohl die Untersuchung gegen Manga Bell und Ngoso Din führe als auch, wie bisher geplant, anschließend das Urteil spreche, also als Ankläger und Richter in einer Person auftrete. Nach »Gesetz und Brauch« in Duala leite der Bezirksamtmann »in besonders wichtigen Fällen die Verhandlung und Aburteilung« persönlich. Da Bezirksamtmann Röhm infolge ordnungsgemäßen Urlaubsantritts »in Wegfall« gekommen sei, solle sein Stellvertreter Otto Wieneke die Verhandlung leiten. Dann aber macht der Gouverneur einen überraschenden Vorschlag. Unklar ist, ob König Njoya sich weigert, im Prozess gegen Manga Bell und Ngoso Din auszusagen, oder ob die Kolonialregierung kein Interesse an seinem Auftritt hat; jedenfalls regt Ebermaier an, auf Njoyas persönliches Erscheinen zu verzichten: »Bei der politischen Stellung des Njoya von Bamun und insbesondere bei der durch die Einrichtung der Residentur seitens der Verwaltung anerkannten Herrscherstellung scheint es mir nicht gut angängig, das Erscheinen des Njoya vor dem Gericht in Duala zu erzwingen.« Vor jedem deutschen Gericht würden sich Haase, Rosenfeld, Levi und Halpert diese Farce eines Strafverfahrens verbitten, und vermutlich würden sie das auch im Prozess vor dem Bezirksgericht in Duala. Aber keiner von ihnen wird den Boden Kameruns jemals betreten.

Im Juni 1914 schifft sich eine hübsche junge Frau in Hamburg auf einem Dampfer der Woermann-Linie nach Kamerun ein. Wie immer reist die achtzehnjährige Maria Mandessi Bell erster Klasse, denn sie ist eine Tochter des wohlhabenden Plantagenbesitzers und Vermögensverwalters Manga Bells, David Mandessi Bell, der als Junge vom alten King Bell adoptiert worden war. Er hatte Maria mit fünfzehn Jahren nach Deutschland zur Ausbildung geschickt, weil sie die älteste seiner sieben Töchter war und er noch keinen Sohn hatte (Marias Bruder Sam wurde erst 1913 geboren). Ihre Reise ins Kaiserreich war auch Ausdruck verwandtschaftlicher Konkurrenz: So wie Manga Bell seinen ältesten, damals vier Jahre alten Sohn Alexander nach seinem Berlin-Besuch im Juli 1902 in Deutschland zur Ausbildung zurückgelassen hatte, sollte nun auch Maria von den Deutschen unterrichtet werden. Als aktives Mitglied der Gemeinde der Basler Mission in Duala hatte ihr Vater Maria der Obhut der Glaubensbrüder und -schwestern in Deutschland anvertraut. In den vergangenen drei Jahren hatte Maria in verschiedenen Pastorenfamilien gelebt, zunächst in Hamburg, dann im ostpreußischen Elbing, schließlich in Eberswalde bei Berlin, hatte sich in Privatunterricht unter anderem in Deutsch, Mathematik und Geographie auf das Abitur vorbereitet und ihre Liebe für das Chorsingen entdeckt. Dann aber hatte sie am 1. April 1914 Eberswalde plötzlich verlassen und war nach Prenzlauer Berg in Berlin gezogen. Möglicherweise hatte ihr die Basler Mission eine wichtige Aufgabe zugedacht. Die Missionen in Kamerun hatten sich zuletzt immer entschiedener auf die Seite der Duala gestellt und sich beim Gouverneur über die Repressionen gegen Manga Bell beschwert. Es war wichtig für sie, aus der Reichshauptstadt zuverlässige Informationen über den Stand der Dinge zu bekommen, und Maria Mandessi Bell empfahl sich als zuverlässige Informantin. Für die Achtzehnjährige gab es jedoch einen mindestens ebenso wichtigen Grund, nach Berlin zu kommen. Sie wurde dort von ihrem Verlobten Ngoso Din erwartet.

Als sich die beiden in Kamerun getrennt hatten, konnten sie nicht wissen, dass der Widerstand der Duala sie drei Jahre später in Deutschland zusammenführen würde. Aber was sie wussten – oder zu wissen glaubten –, war, dass Ngoso Din schon bald zur Familie Manga Bells gehören würde. Maria wohnte bei Ernestine Weber, einem vermögenden Mitglied der Basler Mission, und in ihrer Wohnung traf sie sich wenige Male mit Ngoso Din, ehe er verhaftet wurde: »Unsere letzte Zusammenkunft in Berlin fand in einem Gefängnis statt, wo ich ihn besuchen durfte.« Spätestens nach der Verhaftung ihres Verlobten hat Maria begonnen, in Berlin in aller Eile Informationen über das in Duala laufende Verfahren zu erhalten. Zumindest eine Nachricht klang erfreulich: Rechtsanwalt Halpert versicherte Maria, er rechne damit, Manga Bell persönlich im Hochverratsprozess verteidigen zu können.

Maria Mandessi Bell ist bedrückt, als sie Deutschland im Juni 1914 auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters, der der europäischen Friedensordnung nicht recht traut, vorzeitig und ohne Abitur in Richtung Kamerun verlässt. Doch ihre Stimmung steigt, als sie an Bord des Dampfers ein frisch verheiratetes deutsches Ehepaar kennenlernt, zu dem sie sofort Vertrauen fasst. Insbesondere der »freundliche deutsche Herr« hat es ihr angetan. Er ist dreißig Jahre alt, Jurist aus Leipzig, Sohn eines bekannten Rechtsanwalts, der einst August Bebel bei einer Anklage im Zuge der Sozialistengesetze verteidigt hatte, und mit seiner Frau auf dem Weg nach Duala: Rudolf Dix. Im Dritten Reich wird er politische Oppositionelle verteidigen, danach Angeklagte in den Nürnberger Prozessen vertreten, und schließlich wird er der Prozessbevollmächtigte der Bundesregierung im KPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sein. Aber in diesem Sommer des Jahres 1914 wird Rudolf Dix als Beisitzer im Hochverratsverfahren gegen Manga Bell und Ngoso Din deren Todesurteile unterschreiben.

Das ahnen an Bord des Dampfers weder Rudolf Dix noch Maria Mandessi Bell. Und auch als sie Duala erreicht und ihr der freundliche Herr Dix Zutritt zu Ngoso Dins Zelle verschafft, ahnt sie nichts Böses, ebenso wie die Rechtsanwälte Halpert, Levi, Rosenfeld und Haase, die ihre Mandanten in Duala vorläufig zumindest in Sicherheit glauben, denn der Termin für die Hauptverhandlung ist für den 17. September angesetzt. Aber dann fallen am 28. Juni in Sarajewo die Schüsse, und es stellt sich heraus, dass der Woermann-Dampfer, der Maria Mandessi Bell und das Ehepaar Dix nach Kamerun brachte, der letzte war, der Deutschland in Friedenszeiten in Richtung Afrika verließ. Und die Kolonialregierung in Kamerun entscheidet, es sei besser, man komme dem Tod aus Europa in Duala zuvor.

Die deutschen Anwälte hatten geplant, sich zur Vorbereitung des Prozesses Anfang August auf den Weg nach Kamerun zu machen. Doch statt die Koffer zu packen, stimmt Hugo Haase am 4. August im Reichstag – wie es seine Fraktion von dem Kriegsgegner verlangt – den Kriegskrediten zu. Rosa Luxemburg fragt Paul Levi skeptisch: »Was ist’s mit Kamerun? Gehst Du wirklich hin und wann?« Und Halpert erkundigt sich am 7. August besorgt im Kolonialamt, »in welcher Weise ich mich mit dem Herrn Bezirksamtmann in Duala telegrafisch in Verbindung setzen kann.« Da eine Überfahrt in den »jetzigen Zeiten« unmöglich sei, wolle er die Aussetzung des Verfahrens beantragen. Ungerührt lässt ihm Solf telefonisch die Auskunft erteilen, »daß keine Möglichkeit vorhanden, das Telegramm zu übermitteln«. Das ist nicht wahr, noch funktionieren die telegrafischen Verbindungen zwischen Kolonialamt und Gouvernement. Aber die Anwesenheit der Anwälte aus Deutschland ist ohnehin nicht mehr eingeplant: Die Verhandlung wurde auf den 8. August vorgezogen.

Es gibt kein Protokoll und kein schriftliches Urteil, aber es gibt den Bericht eines Augenzeugen. In Der Kolonialdeutsche, der Zeitschrift der Deutschen Kolonialgesellschaft, erscheint 1928 ein ausführlicher Bericht über den Prozess. Der Autor, Dr. Alfred Etscheit, antwortet damit dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Paul Levi, der im Strafrechtsausschuss des Reichstags für die Abschaffung der Todesstrafe plädiert und als Beispiel für einen »Justizmord« die Hinrichtung seines Mandanten Manga Bell und Ngoso Dins genannt hatte. Es ist nicht überraschend, dass der ehemalige Anwalt des Verbands der Kamerun- und Togo-Pflanzungen, der die Enteignung der Duala gefordert und gefördert hatte, sich Jahre später auf die Seite der Kolonialregierung stellt und die Verurteilung verteidigt. Aber es ist irritierend, dass sich ausgerechnet Etscheit als damaliger Offizialverteidiger Manga Bells »nach Vereinbarung mit der Regierungsbehörde« zu erkennen gibt und versichert, der Hochverrat sei durch »einwandfreie Zeugen« zweifelsfrei erwiesen worden. Er habe deshalb dem Urteil nicht widersprochen. Zwar habe er die Begnadigung der beiden Angeklagten beantragt, verstehe aber, dass Verbannung nicht mehr in Frage gekommen sei und die Todesstrafen hätten vollstreckt werden müssen. Angesichts der »Belagerung durch die europäischen Kriegsschiffe« sei die Regierung gezwungen gewesen, »zu durchgreifenden Maßregeln überzugehen«, um »sich halten zu können und das Leben der Europäer sicherzustellen«. Wer den Artikel genau liest, bemerkt schnell, dass es sich nur vordergründig um die Verteidigung der deutschen Kolonialregierung in Kamerun handelt; vor allem ist es das unfreiwillige Geständnis des Offizialverteidigers Dr. Alfred Etscheit, Manga Bell und Ngoso Din vor Gericht verraten zu haben.

Er erklärt die Duala – wie lange vor ihm schon Gouverneur Puttkamer – zu einem habgierigen, genusssüchtigen Volk, das sich »einen europäischen Kulturfirnis« zugelegt und so einen »guten Tag« gelebt habe. Ihr Widerstand gegen die Enteignung sei rechtswidrig, die Anweisung »neuer, gesünderer Wohnplätze« zum Schutz der »Gesundheit und Entwicklung« der Duala dagegen geboten gewesen. Mit ihrem Protest seien die Duala »weit über den Rahmen der ihnen zustehenden Rechte« hinausgegangen und hätten sich schließlich »an Führer mächtiger Stämme des Landes, auch an fremde Mächte, nämlich an England und Frankreich, gewendet, um die deutsche Herrschaft, durch die sie sich beeinträchtigt fühlten, abzuschütteln«. Etscheits Darstellung wirkt, als habe Manga Bells Verteidiger sein Plädoyer mit der Anklageschrift des Staatsanwalts vertauscht, und es ist bezeichnend, wenn Etscheit, um seine Bestellung als Offizialverteidiger zu erklären, schreibt, dass es infolge des Kriegszustands »nicht möglich war, Verteidiger beizuziehen«. Etscheit schreibt nicht nur im Geist der Anklage, zur Rechtfertigung seines Verhaltens greift er ungeniert zur Lüge und verlegt den Termin auf den 17. September 1914. Nach vierzehn Jahren mag die Erinnerung mitunter trügen, doch in diesem Fall kann das ausgeschlossen werden. Etscheit betont ausdrücklich sein Verständnis dafür, dass die Kolonialregierung die von ihm beantragte Begnadigung ablehnte, sei sie doch damals in großer Not gewesen: »Duala wurde kurz nach Kriegsbeginn von englischen und französischen Kriegsschiffen beschossen«. Die Kriegsschiffe Cumberland und Dwarf aber sind erst ab dem 9. September vor Duala gekreuzt. Am 7. August, als das Urteil über Manga Bell und Ngoso Din von Assessor Niedermeyer – und nicht, wie von Gouverneur Ebermaier zur Wahrung strafprozessualer Mindeststandards gewünscht, vom stellvertretenden Bezirksamtmann Otto Wieneke – gesprochen wurde, herrschte in der Stadt friedliche Stille. Da Etscheid die abgewiesene Begnadigung ausschließlich mit dem Angriff (nicht vorhandener) feindlicher Geschwader begründet, ist zu vermuten, dass er sie überhaupt nicht beantragt hat.

Verrat kann tödliche Folgen haben. Alfred Etscheit wird im Herbst 1944 im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet, nachdem ein Gestapo-Spitzel ihn und andere Mitglieder des Solf-Kreises, eine Gruppe nationalkonservativer Widerständler um Wilhelm Solfs Witwe Hanna, verraten hatte. Sein eigener Verrat dreißig Jahre zuvor entspricht dem Plan der deutschen Kolonialregierung, an seinen Klienten ein Exempel zu statuieren. Etscheit macht sich zum Komplizen der Regierung – entscheidend aber ist sein Tatbeitrag vermutlich nicht. Alles spricht dafür, dass das Urteil schon vor Beginn der sechseinhalbstündigen Hauptverhandlung feststand. Das vermutet im Nachhinein auch Maria Mandessi Bell, doch als der freundliche Beisitzer Rudolf Dix ihr erlaubt, Ngoso Din vor dem Urteil noch einmal im Gefängnis zu besuchen, »war mir noch nicht klar, was alle schon wussten, nämlich, dass mein Verlobter sterben würde«. Gouverneur Karl Ebermaier jedenfalls wusste es bereits. Nach der Urteilsverkündung um 20.30 Uhr sucht der Missionar Philipp Hecklinger in Begleitung eines Pallottiner-Missionars und des Vorstands der Baptisten-Mission den Gouverneur auf – wegen des Kriegsbeginns hatte man den Regierungssitz von Buea nach Duala zurückverlegt –, »um für das Leben des einen der Verurteilten, Duala Manga, zu bitten«. Nachdem Ebermaier zugesagt hat, »die Akten nochmals [zu] prüfen«, verlassen die Missionare um 23.30 Uhr das Gebäude. Am folgenden Tag verhandelt Hecklinger von 12.00 Uhr bis 12.30 mit Ebermaier erneut über eine Begnadigung Manga Bells. Der Gouverneur lehnt endgültig ab. Hecklinger notiert in seinem Tagebuch: »Um 5 Uhr abends werden die beiden durch den Strang getötet«. Zumindest den zweiten Gang zum Gouverneur hätte sich Hecklinger sparen können, und auch am Vortag dürfte Ebermaier die Missionare nur pro forma angehört haben. Denn bereits am Tag der Hinrichtung veröffentlicht eine Sonderausgabe des Amtsblatts für das Schutzgebiet Kamerun Ebermaiers Bekanntmachung: »Ihr Leute von Duala! An euch wende ich mich und verkünde euch: Manga (Rudolf) Bell ist heute durch den Strang gerichtet, weil er sich als Verräter erwies an Kaiser und Reich. Er hat im letzten Augenblick bekannt, daß er getrieben worden sei durch die Furcht vor der Rache seiner Volksgenossen, derjenigen, die ihr kennt, die aus Furcht heimlich im Hintergrunde sitzen, über Gift brüten und das Volk verführen […] Manga selbst hat in letzter Stunde sein Volk gebeten, dass mit seinem Tode die Treue zum Kaiser und Gehorsam gegen die Regierung zurückkehren möchten in die Herzen der Duala.« Die Behauptung Ebermaiers, Manga Bell habe im letzten Augenblick den Hochverrat gestanden, ist ebenso unglaubwürdig wie die Legende, der Kommandeur der »Schutztruppe«, Major Carl Zimmermann, habe Manga Bell in der Nacht vor dessen Hinrichtung auf Ehrenwort zwei Stunden frei gegeben, um sich von Frau und Kindern zu verabschieden. Laut eines Augenzeugen, so hat Rechtsanwalt Paul Levi später behauptet, seien Manga Bells letzte Worte gewesen: »Unschuldiges Blut hängt ihr auf. Umsonst tötet ihr mich. Aber die Folge davon wird die größte sein. Ich scheide jetzt von meinen Leuten ab. Aber verdammt seien die Deutschen. Gott! Ich flehe Dich an, höre meinen letzten Willen, dass dieser Boden niemals mehr von Deutschen betreten werde!« Etscheit hingegen will die Abschiedsworte gehört haben: »Ich habe die Deutschen immer geliebt, ich vergebe euch allen!« Als dritte Variante ist überliefert: »Lebe wohl mein liebes Duala – ich sterbe für Dich – Loba káise [Gott möge richten]!« Sicher ist: Zur Abschreckung der Duala lässt die deutsche Kolonialregierung den Leichnam Manga Bells drei Tage öffentlich am Galgen hängen.

Maria Mandessi Bell war bei der Exekutionen nicht anwesend: »Am Tage der Hinrichtung schrieen in der Stadt alle Leute. Das Kommissariat, in dem sie stattfand, lag in demselben Viertel wie mein Vaterhaus. Ich war in meinem Zimmer eingeschlossen.« Sehr wahrscheinlich verlässt sie mit ihrer Familie sofort nach Ermordung ihres Verlobten die Stadt; wie eine Missionarin berichtet, seien fast alle Duala geflohen: »Sie hatten offenbar furchtbare Angst. Das war ein trauriges Bild, zumal für Missionsleute, überall leere Straßen, leere Häuser.« Sie fahren den Mungo aufwärts oder ziehen ins Hinterland. Die Ortsteile Bell und Akwa sind entvölkert, nur in Deido entwickelt sich, wie Bezirksamtmann Wieneke bemerkt, »eine unheimliche Tätigkeit«. Tags sei der Ort leer, nachts aber versammelten sich die Duala zu Geheimsitzungen. Im Falle eines englischen Angriffs, berichten Spitzel, wollten die Duala gegen die Deutschen vorgehen. Der Bezirksamtmann befiehlt die Räumung von Deido, den Abriss des Viertels Bali und die Umsiedlung der dort noch verbliebenen Bewohner – zumeist Mitarbeiter von Behörden und Firmen – nach Neu-Bell. Etwa fünfzig Duala werden umgesiedelt, der Rest flieht. Wie sich herausstellt, ist ihre Angst begründet. In den folgenden Wochen und Monaten werden zahllose Duala in Hochverratsprozessen zu lebenslanger oder – wie beispielsweise Ekand’a Ngongi – zehnjähriger Kettenhaft verurteilt, Häuptlinge als Geiseln genommen und Patrouillen eingesetzt. Bezirksamtmann Wieneke hat später berichtet: »Alle Posten und Patrouillen hatten den Befehl, auf jeden Eingeborenen, der auf Anruf nicht sofort anhielt, zu schießen. Die Bahnen und Fähren Duala-Bonaberi wurden dauernd beaufsichtigt, alle Personen, die nicht im Besitz von Ausweisen waren, wurden festgenommen und bestraft.« Wer im Kanu angetroffen wird und auf dreimaligen Anruf nicht hält, wird erschossen. Am 5. September gibt Otto Wieneke bekannt, »dass alle Handlungen, welche geeignet sind oder dazu dienen sollen dem Feinde zu nützen und dem Schutzgebiet zu schaden, durch sofortiges Erschießen oder Erhängen bestraft werden«. Jedes Gespräch mit »Angehörigen der feindlichen Truppen« ist verboten, ebenso das Befahren des Kamerunflusses, der Nebenflüsse und Kreeks wie auch das Betreten der Eisenbahndämme; wer ein Verbot verletzt, »setzt sich der Todesstrafe aus«. Oberleutnant Arnold von Engelbrechten beschreibt die Lage in einem Brief an Hauptmann Karl Gaisser: »Ich habe die Zerstörung aller Duala-Dörfer befohlen. Alle Dualas, die mit Waffen (Macheten, Pfeil und Bogen, Speere und ebenso Gewehre) auf der Straße angetroffen werden, sind zu erschießen. Gefangene werden nur gemacht, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden und sie vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt werden können. Alle Dualas, die noch im Dienste der Regierung im Teil des Duala-Bezirks nördlich der Eisenbahn stehen, werden verhaftet und unter Bewachung nach Dschang geschickt. Der Bare-Bezirk macht das ebenso.« Fest steht, dass Mpondo Akwa von den Deutschen hingerichtet wird, ebenso der Bulu-Mann Martin Paul Samba – der lange Zeit Hans Dominik auf dessen Kriegszügen gedient, sich später jedoch zu einem Gegner der deutschen Kolonialmacht entwickelt hat – und wohl auch Paul August Tilg, der Journalist und Gesandte von Rechtsanwalt Dodo Hans Halpert, von dem die Familie Manga Bells berichtet, er sei von den Deutschen ausgewiesen, auf ein Schiff gebracht und dort ermordet worden. Wie viele Duala im Spätsommer 1914 von den Deutschen gehängt und erschossen werden, ist nicht bekannt. Einen Hinweis auf das Ausmaß des Gemetzels gibt die Nachricht: »Oberleutnant von Engelbrechten hat 180 Dualas erhängt«.

Weshalb die Deutschen glaubten, Manga Bell und Ngoso Din vor dem Angriff der Engländer auf Duala umbringen zu müssen, konnte nie ganz aufgeklärt werden. Bezirksamtmann Wieneke schrieb später, dass die Duala eine Begnadigung »lediglich als Schwäche und Furchtsamkeit« gedeutet hätten. Die Vollstreckung der Todesurteile deuteten sie jedenfalls als Verbrechen und Kriegserklärung, und so wenden sich die Duala schließlich doch noch an die Briten. William Bell, ein Onkel Manga Bells, schlägt sich nach Lagos (Nigeria) durch, bietet dem englischen Flottenkommando seine Hilfe an und führt am 8. September, genau einen Monat nach der Hinrichtung, die Landungstruppe von Kap Kamerun aus ins Landesinnere. Wie von den Deutschen befürchtet, arbeiten die Duala auf englischen Kriegsschiffen als Lotsen, beschaffen Nachrichten über die Verteidigungsstellungen der Deutschen, übernehmen die Führung durch die Kreeks und leisten also den Engländern jede Unterstützung, um die Kolonialherrschaft der Deutschen zu beenden. Jetzt haben die Deutschen endlich ihre »Verräter«, die die Duala nie gewesen sind. Am 26. September 1914 versammelt sich ein britisch-französischer Flottenverband vor Duala und beschießt die Stadt. Einen Tag später erklärt Gouverneur Karl Ebermaier die bedingungslose Kapitulation Dualas.

Die Kämpfe um Kamerun dauern noch eineinhalb Jahre. Im Februar 1916 ergibt sich die letzte deutsche Kompanie in der Stellung Mora. Aber der Anfang vom Ende der deutschen Kolonialmacht in Kamerun hat am Nachmittag des 8. August 1914 begonnen, dreißig Jahre nach dem betrügerischen Vertragsschluss der Deutschen mit King Bell und den anderen am Ufer des Wuri, mit der Ermordung seines Enkels Manga Bell und dessen Vertrauten Ngoso Din.