4

»Hey, Steve, wach auf!«

Jemand hatte Steve die Kopfhörer vom Ohr gezogen. Statt Johnnie Taylor brüllte jetzt Jürgen hinein. Schon längst spuckten einem die Leute wieder direkt ins Ohr. Als hätte es Corona nie gegeben.

»Sieh dir das an!«

Steve schaute eigentlich gerade auf den Bildschirm. Mit seinen Kurven und Tabellen auf der einen Seite, dem App-Design auf der anderen.

»Was soll ich ansehen?«

Er blickte auf. In dem Loftbüro war alles wie immer. Zwanzig- und Dreißigjährige und zwei Vierzigjährige, die alles dransetzten, am jüngsten von allen auszusehen, standen in einer großen Traube um einen Bildschirm und starrten darauf. Oder auf ihre Handys. Oder auf beides. Nur dass sie alle das sonst eher für sich taten.

»Was?«, fragte er Jürgen. »Porno?«

»Besser.«

»Was denn nun?«

»Guck selbst.«

»Alter, jemand muss hier arbeiten.«

»Ist echt krass«, sagte er. »I mean – this is crazy!«

Als würde Steve es auf Englisch besser verstehen. Was er im Allgemeinen tat. So wie die meisten anderen hier.

Crazy. Krass. Die Ähnlichkeit war ihm noch nie aufgefallen. Selber Wortursprung? Musste er mal nachsehen. Widerwillig erhob er sich. Man wollte dann ja doch nicht der Spielverderber sein.

»Der ehemalige US -Präsident Douglas Turner wurde in Athen verhaftet«, erklärte Jürgen auf dem Weg. »Wegen Kriegsverbrechen!«

Seine Worte wirkten auf Steve, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über ihn ausgegossen.

Kühler Schweiß trat auf seine Stirn und Nase.

»Du machst Witze«, sagte er. Krächzte er.

»Nein! Schau!«

Jetzt stand er bei den anderen vor dem großen Bildschirm. Da lief ein Video.

Steve sah nur unscharfe Hinterköpfe irgendwelcher Menschen durch das Bild schwanken. Tumultartige Szenen. Dahinter, klein, immer wieder kurz ein paar Uniformierte. Einer der Beamten sprach zu einem der Männer in der vorderen Reihe, von dem Steve auch nur den Hinterkopf sah. Er ahnte, wessen. Die Bilder verwischten und verwackelten, Stimmen in verschiedenen Sprachen riefen durcheinander, hauptsächlich Englisch, doch Steve verstand kaum ein Wort. Er hörte genau hin. Die Stimmen klangen dumpf, verwaschen, weit weg. Aber wenn man wusste, was gesagt werden könnte, verstand man. Zuerst den Namen.

»Douglas Turner?«

Damit war eigentlich schon alles klar. Der Angesprochene erwiderte kurz etwas, doch der Polizist redete gleich weiter: »Ich verhafte Sie im Auftrag des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen.«

Sie führten ihn ab.

In der Menschentraube um Steve arbeiteten sieben Nationalitäten: Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden, Taiwan, Südkorea, Vereinigte Staaten. Aufgeregt riefen sie durcheinander. Kommentierten in allen möglichen Sprachen, vor allem auf Englisch.

Wie cool ist das denn? Die spinnen ja! Die trauen sich was! Das werden sich die Amis nicht gefallen lassen. Höchste Zeit, dass sich mal einer traut!

In diesem Laden waren die Meinungen eindeutig.

Tina, eine Schwedin, wandte sich an Steve. »Du kommst aus den USA . Was hältst du davon?«

Was Steve als US -Bürger darüber dachte? Gerade dachte er gar nichts. Sein ganzer Körper war ein einziger Schrei: Lauf weg! Verschwinde!

»Ja«, rang er sich ab. »Verrückte Sache.«

Das war unverbindlich. Er wollte das jetzt nicht mit ihr diskutieren. Oder mit irgendjemandem.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Jetzt bloß nichts anmerken lassen.

»Ist gerade erst in den sozialen Medien aufgetaucht«, sagte Tina. »Ich weiß auch nicht mehr.«

»Noch weiß niemand mehr«, sagte Jürgen.

Steve musste mehr wissen. Er nestelte sein Telefon aus der Hosentasche. Wenn bloß seine Finger nicht so gezittert hätten.