»Die führen ihn tatsächlich ab!«, fluchte der EU -Ratspräsident, als er das Video nun zum fünften Mal sah. Vor zwölf Minuten hatte eine seiner Assistentinnen es ihm zum ersten Mal gezeigt. Acht Minuten später stand die Konferenzschaltung mit den anderen. Auf den Bildschirmen zweier Laptops seines Teams hatte er in vier verschiedenen Fenstern den deutschen Kanzler, den französischen Präsidenten, die EU -Kommissionspräsidentin und die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik zugeschaltet. So einfach hatte er das Zustandekommen einer außerplanmäßigen Besprechung noch nie erlebt. Alle waren gerade unterwegs, in Autos, in Besprechungen, wo sie sich ruhige Plätze für das dringende Gespräch gesucht hatten. Alle starrten auf ihre Handys oder die ihrer Assistenten, außerhalb des Bildrahmens, nur kurze Blicke gingen immer wieder zum Ratspräsidenten.
»Wer, zum Teufel, hat das genehmigt?!«, wütete der Ratspräsident, umgeben von sechs Personen seines Teams. »Diese verdammten Griechen müssen doch davon gewusst haben! Wo ist Nikólaos Der Mistkerl muss zumindest eine Ahnung gehabt haben, oder?«
»Nicht zwingend«, warf der französische Präsident ein. »Falls ihn seine Behörden – oder wie heißt seine Justizministerin noch mal? – nicht informiert haben, als sie den Haftbefehl bekamen.«
»Sauhaufen! Dem reiße ich den Kopf ab! Das ist eine Angelegenheit von übernationaler Bedeutung! Da kann man nicht einfach im Alleingang …«
»Der Internationale Strafgerichtshof ist eine unabhängige Institution«, gab der deutsche Kanzler zu bedenken. »Wir haben da gar nichts …«
»Natürlich nicht«, höhnte der Ratspräsident, beruhigte sich aber ein wenig. »Ausgerechnet jetzt! Erst gestern gab es noch dazu diese Probleme mit den zwei Schiffen der Griechen und der Türken in der Ägäis wegen der Gasgeschichte – wieder einmal! Da sollte man doch den Ball besonders flach halten!«
»Oder jemand will hier internationales Poker mit Höchsteinsatz spielen«, meinte die Kommissionspräsidentin.
»So bescheuert können die doch nicht sein!«
»Wissen wir denn, was Turner konkret vorgeworfen wird?«
»Ist ja nicht so, dass es da nichts gäbe«, brummte der Deutsche.
»Haben sie denn überhaupt Beweise?«, fragte der Franzose. »Ich meine, vor Gericht verwertbare.«
»Muss das Gericht wohl welche haben, und zwar hieb- und stichfeste«, sagte der Deutsche. »Sonst würden sie das nicht wagen.«
»Die müssten doch eine direkte Verantwortung oder Verwicklung Turners nachweisen«, warf die Kommissionspräsidentin ein. »Woher sollen sie so etwas bekommen?«
»Nur von einem Whistleblower.«
»In dessen Haut möchte ich nicht stecken«, sagte die Kommissionspräsidentin und schüttelte sich. »Wer wäre so verrückt?«
»Oder so anständig«, hörte der Ratspräsident eine seiner Assistentinnen flüstern. Auf dem Bildschirm beugte sich der deutsche Kanzler halb aus dem Bild.
»Die Amis werden außer sich sein!«, zürnte der Ratspräsident.
»Das werden wir gleich wissen«, sagte der Deutsche, dessen Kopf in den Bildausschnitt zurückgekehrt war. »Ich habe Arthur Jones in der Leitung.«
Die anderen reagierten mit versteinerten Mienen, glücklich, dass es nicht sie als Erste erwischt hatte.
»Na, fabelhaft«, seufzte der Deutsche, »was sage ich ihm? Irgendwelche Ideen?«
Die Mienen blieben versteinert. Aber damit hatte der Deutsche natürlich gerechnet.
»Art«, begrüßte er den US -Präsidenten, das Mobiltelefon am Ohr. »Ich schalte dich gleich einmal auf laut, ich habe ein paar Kollegen hier, die gern mithören wollen …«
Der Franzose verdrehte die Augen, die Kommissionspräsidentin ließ ihre Backenmuskeln flattern. Die Hohe Vertreterin blieb ungerührt.
»… umso besser!«, schepperte Arthur Jones’ Stimme aus dem Lautsprecher des deutschen Mobiltelefons.
»Da sind Paul, Frankreich, du weißt schon, die EU -Rats- und EU -Kommissionspräsidentin, die Hohe Vertreterin …«
»Ja, ja!«, unterbrach ihn Jones. »Hört mal. Wer immer da den Verstand verloren hat, dem helfe Gott! Turner kommt frei, und zwar sofort! So-fort!«
»Wir haben keinen Einfluss auf …«
»Papperlapapp! So-fort!«
»Arthur …«
»Arthur mich nicht! Euch ist die Lage wohl klar! Wir werden vor der ganzen Welt blamiert! Wie wollt ihr das wiedergutmachen?! Das …«
»Das Gericht …«
»Das Gericht steht auf eurem Boden. Also kümmert euch darum!«
»Das Gericht ist trotzdem unabhängig. Ein unabhängiges Gericht, Arthur. Bei dem es um Menschenrechte geht. Ich muss einen US -Präsidenten sicher nicht daran erinnern, dass eine der wichtigsten Verfechterinnen und Entwicklerinnen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine US -Amerikanerin war, Eleanor Roosevelt, die höchstangesehene Frau eines deiner Vorgänger, Franklin Delano Roosevelt. Sie saß vor der Veröffentlichung der Erklärung sogar der UN -Menschenrechtskommission vor, wenn ich mich nicht täusche …«
»Spar dir deine Geschichtsstunde! Menschenrechte hin oder her, Turner kommt frei! Dafür sorgt ihr! Oder wir tun es! Ich gebe euch ein paar Anreize dazu. Wenn er bis zu unserer öffentlichen Reaktion in einer Viertelstunde kein freier Mann ist, werden wir Einreiseverbote für sämtliche Mitarbeiter des ICC verhängen. Außerdem werden wir gegen sie internationale Haftbefehle beantragen …«
»Das kannst du nicht …«
»Und wie ich das kann! Das …«
»Wir können die nicht exekutieren …«
»Ich helfe euch, das entschiedener anzugehen! Falls nichts geschieht, werden ab morgen sämtlichen europäischen Banken Geschäfte in den Vereinigten Staaten untersagt …«
»Arthur, das gibt einen Kollaps der Weltwirtsch…«
»Nichts Arthur! Und das ist erst der Anfang. Ihr seht, ich meine es ernst!«
Die Gesichter auf den Laptops hatten sich merklich verdüstert. Als Jones die Drohung gegen die Banken aussprach, schüttelte der Franzose sacht den Kopf.
»Hör mal, Arthur«, sagte er mit seinem französischen Akzent, »hier ist Paul. Hörst du mich?«
»Paul! Schlecht, aber ich verstehe dich. Ich habe alles gesagt. Es liegt nun an euch.«
»Arthur, wie du siehst, sind wir uns des Ernstes der Lage bewusst. Deshalb sind wir hier auch alle zusammengekommen. Aber ich frage mich, ob wirklich wir die entscheidenden Akteure sind.«
Die anderen Gesichter auf den Bildschirmen wirkten überrascht, und auch der Ratspräsident fragte sich, worauf der Franzose hinauswollte.
»Das Gericht musste doch mit genau so einer Reaktion rechnen«, fuhr Paul fort, »wie du sie gerade lieferst. Überleg: Bei früheren Gelegenheiten hat das Gericht schon den Schwanz eingezogen, wenn es nur überlegte, das Handeln von US -Soldaten zu untersuchen. Untersuchen. Nicht anzuklagen oder sie gar zu verhaften. Ein paar … Erinnerungen von euch an die Macht der USA , und selbst simple Ermittlungen wurden eingestellt. Gegen einfache Soldaten. Und diesmal? Der Präsident? Verhaftet?! Ernsthaft?!! Dafür, dass sich die das tatsächlich getraut haben, gibt es meiner Meinung nach nur eine Erklärung: Jemand garantiert ihnen, dass sie diesmal nicht so harte Konsequenzen fürchten müssen. Zumindest nicht langfristig. Und du weißt genauso gut, dass wir so eine Garantie weder geben können noch würden. Ihre Rückversicherung muss von woanders kommen. Wenn du mich fragst, unterstützt das jemand bei euch. Und zwar massiv. Jemand sehr Einflussreiches.«
Die Hohe Vertreterin, für ihre beherrschte Art bekannt, hob eine Augenbraue. Der deutsche Kanzler nickte anerkennend, formte mit den Lippen ein »Chapeaux«. Und die Kommissionspräsidentin hatte trotz des Ernstes der Lage Schwierigkeiten, ein Lachen zu unterdrücken.
Aus dem Telefon in der Hand des Deutschen kam kein Ton.
»Und diesen Verdacht werden schnell auch andere haben«, fuhr der Franzose fort.
Klug gemacht, dachte der Ratspräsident. Gab dem Ami zu verstehen, dass der Verdacht bei Bedarf eben gestreut werden würde, falls wider Erwarten niemand von allein darauf käme.
»Das berücksichtigend«, sagte Paul, »bitte ich dich, die Maßnahmen in ihrer Schärfe noch einmal zu überdenken und uns einen gemeinsamen Weg aus der Situation finden zu lassen. Wir wollen doch unsere Freundschaft deshalb nicht aufs Spiel setzen.«
Auch schön gespielt. Der Franzose wusste so gut wie sie alle, dass die Amerikaner reagieren mussten, zumal Jones im Finale des Wahlkampfs stand. Ließ ihn das Gesicht wahren, bei gleichzeitiger Rückzugsmöglichkeit. Vielleicht hatte er damit vorerst das Schlimmste verhindert.
Auch der Ratspräsident konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wenngleich ein säuerliches. Dass er nicht selbst darauf gekommen war!
Jemand bei euch .