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Langsam zogen unter ihnen Hügel, Wälder, Felder, Ansiedlungen vorbei. Sie flogen gerade über Ohio, vermutete Derek. Stabil lag die Air Force One in der Luft, das leise Brummen ihrer Triebwerke bildete das Hintergrundgeräusch für die aufgeregte Unterhaltung im Inneren der Maschine.

Die Landschaft lenkte Derek nur kurz von den Bildern auf dem Monitor ab. Mit seinem engsten Stab hatte sich Arthur Jones in die Präsidentensuite zurückgezogen. Die Wahlkampfkoordinatorin Sandra Pilasky und die Medienchefin des Wahlkampfteams Kim Song waren mit dabei.

Sie starrten auf die Aufnahmen aus Athen. Der Journalistenhaufen vor den Toren einer Haftanstalt, zwischen denen McIntyre seine Ansprache hielt. Die diplomatischen Qualifikationen des Industriellen bestanden in großzügigen Spenden für Jones’ Wahlkämpfe. Die Wording-Empfehlungen aus der Presseabteilung des Weißen Hauses hatte er ignoriert. Deutlich sollte er sein. Aber nicht gleich die Griechen gegen ihre eigene Regierung aufbringen. Das war für Stufe zwei oder drei vorgesehen. Wenn überhaupt. So etwas musste man geschickter angehen. Plumpe Drohungen von außen schweißten ein Land meist im Inneren zusammen.

»Die Griechen haben Turner ins Athener Korydallos-Gefängnis gebracht«, erklärte Derek. »In eine Hochsicherheitszelle, die sie üblicherweise für ihre Terroristen vorsehen! Die gibt es in Griechenland ja immer wieder. Unser Botschafter vor Ort war bei ihm. Er und Turner wurden über das weitere Vorgehen informiert.«

»Ist diesen Leuten klar, in welche Situation sie sich bringen?«, fragte Jones. »Sich und uns? Die Vereinigten Staaten werden vor der ganzen Welt bloßgestellt. Der gesamten westlichen Welt! In ein Gefängnis! Ein ehemaliger US -Präsident! Ich dachte, Adam« – der Außenminister – »hat mit dem ICC gesprochen.«

»Hat die wohl nicht beeindruckt«, bemerkte Derek.

Jones stierte auf die Monitore, über die die Bilder der Nachrichtensender flackerten. Kommentatoren überschlugen sich in ersten Analysen. Moderatoren und eilig zusammengewürfelte Expertenrunden wechselten sich im aufgeregten Geschnatter ab.

»In der Presseaussendung des International Criminal Court werden dem ehemaligen Präsidenten Kriegsverbrechen vorgeworfen«, erklärte einer und wedelte mit einem Papier. »Mehr gibt der ICC derzeit nicht bekannt.«

»Aber welche sollten das sein?«, fragte ein anderer. »In die Folterungen unter George W. Bush nach 9/11 war Turner nicht involviert.«

»Wir wissen auch nicht mehr?«, fragte Jones das Team.

»Ein bisschen mehr«, erwiderte Derek. »Angriff auf Zivilbevölkerung in Afghanistan, Verschwindenlassen, Mord.« Er wurde abgelenkt von den Bildern auf einem der Monitore. »Hier«, sagte er zu Jones nur.

Staubiger, mit Steinchen übersäter rötlicher Boden wackelt über den Monitor. Knirschende Schritte. Ab und zu steigt ein khakifarbener Stiefel ins Bild. Vorbei an armseligen, dürren Gestrüppresten. Keuchen, verhaltene Stimmen, unverständlich. Ins Bild schwenkt der Lauf einer Maschinenpistole. Verschwindet. Der Blick der Kopfkamera richtet sich nach vorn. Eine Ansammlung niedriger Häuser, in derselben Farbe wie der Boden, wohl aus Lehm.

Dazwischen spielen vereinzelt Kinder. Die Landschaft dahinter karg, schroffe Berge ohne Vegetation, in Rot bis Dunkelgrau gefärbt von der abendlichen Sonne. Blicke nach links und rechts. Männer in der typischen Kleidung, wie man sie von Videos aus Afghanistan oder Pakistan kennt. Farben wie der Boden, die Berge, die Häuser. Die weiten Hosen, manche mit Westen, die meisten mit Pakol oder Tuch auf dem Kopf. Alle tragen Bart, Sonnenbrillen und automatische Waffen. Laufen nun auf die Siedlung zu. Gebellte Befehle in einer fremden Sprache, Trampeln, wirbelnder Staub. Die Kinder in der Siedlung blicken auf, einige erstarren, andere verschwinden zwischen den Häusern.

Die Männer erreichen die Häuser. Jetzt sind alle Kinder weg. Hektische Schreie, weitere Befehle. Die Rücken einiger Bewaffneten schieben sich vor die Kamera. Die Männer nehmen die Waffen in Anschlag, treten brüllend die Tür eines Hauses auf. Die Kamera folgt ihnen in das finstere Loch, der Bildschirm wird schwarz.

Taschenlampen – an den Waffen? Woanders? – tauchen das Innere des armseligen Hauses in nervöse, gleißende Lichtscheiben. Zwischen dem rohen Männergebrüll nun hohe, panische Stimmen. Kinder, Frauen. Da hockt eine in einer Ecke, in ihrem langen Kleid, Tücher um den Kopf, vor dem Gesicht, hüllt zwei kleine Kinder mit ihren Armen ein. Davor ein Mann, bärtig, zerfurchtes Gesicht, Pakol auf dem Kopf, die Hände zur Abwehr erhoben, heiser auf die Eindringlinge einredend, wechselnd ins Flehende. Noch mehr Frauen und Kinder. Und Männer. Sie stehen vor den Läufen der Eindringlinge, gestikulierend, beschwörend, bettelnd, die Hände vor den Gesichtern wedelnd. Nun wieder im Bild der Waffenlauf des Kameraträgers, der verzweifelte Mann davor, die panischen Menschen dahinter. Ein Knall, nicht lauter als ein kleiner Feuerwerkskörper. Die Kamera fetzt nach links, alles verwackelt. Einer der Männer stürzt vor einer Maschinenpistole zu Boden. Bleibt regungslos liegen. Das Stimmengewirr noch hysterischer jetzt, Männer, Frauen, Kinder durcheinander. Fokus zurück auf den Mann vor der Kamera. Ein paar weitere Knallerbsengeräusche, dumpfes Fallen lebloser Körper, die Frau hinter dem Mann kauert sich noch mehr zusammen, zieht ihre Kinder unter die Tücher. Ein Blitz aus dem MP -Lauf, gleichzeitig der Knall. Als das Bild wieder scharf und erkennbar ist, verschwindet gerade der Männerkopf mit dem verrutschten Pakol nach unten aus dem Bild. Zwischen den Tüchern, die die Frau verhüllen, schimmern kurz zwei große schwarze Augen, die Lichter der Lampen spiegeln sich darin.

Vielfältiges Geschrei, mehr von den Schnalzgeräuschen, mit denen Geschosse die Läufe der Waffen verlassen. Das Schreien wird weniger. Dann ein Blitzgewitter. Unklar, ob aus dem Lauf im Bildausschnitt oder von woanders. Als es vorbei ist, liegt die Frau in der Ecke vornübergekippt auf dem Boden. Ein Bündel Tücher. Unter ihrer linken Seite ragen zwei reglose Beinchen hervor, das Kind kann nicht älter als zwei gewesen sein. Auf der rechten Seite das Gesicht eines vielleicht vierjährigen. Schmutzverschmiert, verfilztes, wirres Haar. Junge? Mädchen? Der Körper gleichfalls unter der Mutter. Die Augen starren direkt in die Kamera. Groß, dunkel. Blinzeln nicht. Erwarten nichts mehr. Sehen nichts mehr. Bleiben starr auf die Betrachter gerichtet. In die Ewigkeit dahinter.

Der Lauf der Waffe senkt sich aus dem Bildfeld. Die Lichtscheibe wendet sich ab, streift während ihres Schwenks durch den Raum über ein Dutzend weitere Tote, übereinandergefallen wie fortgeworfene Lumpen. Erwischt die Rücken der Bewaffneten, die das Haus verlassen. Folgt ihnen. Lässt die Toten in der Dunkelheit zurück und steigt hinaus ins vergehende Tageslicht.

»Tiere«, sagte Jones.

»Die Toten waren Taliban, hieß es«, erklärte Derek, »die Terrorangriffe geplant hatten und von afghanischen Truppen ausgeschaltet wurden.«

»Ich erinnere mich daran«, sagte Sandra. »Es sorgte vor einigen Jahren kurz für Aufregung.«

»Das sind nicht einmal amerikanische Soldaten«, erwiderte Jones. »Was hat das mit Turner zu tun?«

»Eigentlich nichts«, sagte Derek. »Da bringen die Journalisten wohl etwas durcheinander. Dieses Video zeigt einen klassischen Night Raid afghanischer Einheiten. Die wollten wohl brutale Bilder. Oder verwechseln das mit gezielten Tötungen«, sagte Derek. »Die führen wir seit Jahrzehnten durch. In verschiedenen Ländern. Besonders seit Bush nach 9/11 den ›Krieg gegen den Terror‹ erklärte. Obama intensivierte sie weiter …«

»Ach nee«, spottete Jones. »Als hätte ich davon noch nie gehört. Mann, ich genehmige laufend gezielte Tötungen!«

»Ich weiß.«

»Das hier zeigt keine gezielte Tötung«, widersprach Jones, »sondern ein Massaker.«

»Die Vorwürfe tauchen immer wieder auf«, meinte Derek. »Dass die Einsätze nicht immer so chirurgisch genau seien wie behauptet.«

»Weiß ich doch! Aber wir haben ein klares Prozedere dafür! Ich selbst muss die Ausschaltung von Terroristen immer wieder unterzeichnen. Das wurde im Vorhinein von Dutzenden Experten und Verantwortlichen geprüft! Und dann beobachten wir die Typen oft noch wochenlang mit Teams, mit Drohnen, bevor unsere Leute zuschlagen. So etwas wie das würde ich nie genehmigen!«

Er schüttelte den Kopf. »Das bringt uns alles nicht weiter. Wir müssen andere Geschütze auffahren.« Er sah auf, zu Derek. »Jemand muss nach Athen, um sich vor Ort darum zu kümmern.«

Derek brauchte keine Sekunde, um zu verstehen, wen er damit meinte.

»Ich bin dein Wahlkampfleiter«, gab er zu bedenken.

»Eben«, sagte Art. »Und ihr habt mir vorhin erklärt, dass diese Geschichte meinen Wahlkampf entscheiden wird. Also schicke ich am besten meinen Wahlkampfleiter. Außerdem«, fügte er hinzu, »bist du der beste Fixer, den ich kenne. Du fixt das.«

»Dann muss ich ein paar Anrufe machen«, sagte Derek.