Dana drückte ihren abgewetzten Plüschhasen an sich und ihre Kindernase an die Scheibe des Busses. Ihr Atem beschlug das Glas. Draußen drängten sich Menschen. Riefen durcheinander. Abgezehrte Gesichter. Welke, bleiche Haut spannte über spitzen Knochen. Augen von dunklen Ringen umrahmt. Weinten. Knorrige Hände winkten. Männer umarmten ihre Frauen, Kinder zum Abschied. Auf dem Sitz neben Dana kniete ihre Mutter und schluchzte. Schlang den linken Arm um Dana. Winkte mit der Rechten hinaus. Draußen winkte Papa. Seine Lippen zitterten. Dana verstand, dass er versuchte, nicht zu weinen. Oder wenigstens ohne Tränen. Viele da draußen hatten keine Tränen mehr.
Mit einem Ruck setzte sich der Bus in Bewegung. Zuerst stockend, weil er durch die Menschenmassen kaum hindurchfand. Dann schneller. Die meisten hatten sich gesetzt. Manche blickten noch immer durch die Fenster nach hinten. Konnten ihre Trauer nicht zurückhalten. Andere schauten ängstlich nach vorn durch die Scheibe. Oder auf die Seiten, hinauf in die Hügel und Berge, von denen jede Sekunde der Tod einschlagen konnte. Nach ein paar Minuten war der Abschiedsschmerz einer gespenstischen, ängstlichen Stille gewichen. Dana hörte nur mehr das Dröhnen des alten Dieselmotors und das Krachen des Schotters unter den Reifen.
Wir dürfen die Stadt verlassen, hatte ihre Mutter ihr erklärt. Ein paar Busse, hatte sie gesagt. Wir wurden ausgewählt. Wegen ihrer Verletzung. Wir, das waren nicht Dana, Mama und Papa. Papa musste zurückbleiben. Außer dem Fahrer saß in dem Bus kein einziger erwachsener Mann. Frauen und Kinder. Vor ihnen fuhr ein Bus. Hinter ihnen ein dritter. Jeweils mit einigem Abstand. Damit eine Granate nicht alle drei treffen konnte. Das hatte sie erst viel später erfahren. Die UNO garantiert unsere Sicherheit, hatte ihre Mutter gesagt. Dana wusste nicht, wer das war. Sicherheit war gut. Aber nicht immer garantiert in diesem Krieg, selbst wenn vereinbart. Aber auch das hatte sie erst viel später erfahren. Lange, lange nach dieser unendlichen Fahrt durch die Nacht, durch einen weiteren Tag, in einen Abend hinein. Durch Länder, die es wenige Jahre zuvor noch nicht gegeben hatte. Auch das wusste sie damals noch nicht. Sie wusste nur, dass alle in dem Bus Angst hatten. Zuerst vor den ersten Stunden der Fahrt. Später vor dem, was sie wohl erwartete. In diesem fremden Land. In dem sie die Leute nicht verstand. In dem die Menschen Dana nicht verstanden. Dort seid ihr in Sicherheit, hatte Papa gesagt. Irgendwann schlief sie ein. Irgendwann erwachte sie wieder. Presste die Nase gegen die Scheibe. Bekam zu essen und zu trinken. Sah Landschaften vorbeiziehen. Schlief wieder ein. Und wurde wieder wach. Es sah nicht viel anders aus als daheim, fand Dana, als sie schließlich ankamen. Hochhäuser hatte sie erwartet. Und Felder voll mit Süßigkeiten. Das Paradies. Stattdessen Berge, Wälder, Wiesen, Städte. Die Städte sahen teilweise älter aus als Sarajevo. Manche auch jünger, mit kleinen eckigen Häusern. Aber nirgendwo entdeckte Dana zerschossene Gebäude mit kaputten Fenstern. Keine Einschlagkrater oder verbrannte Autos auf den Straßen. Alles wirkte so sauber. Ein paarmal fuhren sie an Männern in Uniformen mit Gewehren vorbei. Nach dem letzten Mal brachen einige im Bus in Jubel aus, andere in Tränen, viele in beides. Wir sind in Deutschland!, riefen sie. Wir haben es geschafft!
Es war schon finster, als sie ihr Ziel erreichten. Die Busse wurden langsamer. Dana sah kaum etwas. Presste die Nase gegen die Scheibe. Dann tauchten erste Menschen am Straßenrand auf. Winkten ihnen zu. Oder schüttelten sie die Fäuste? Dana konnte noch nicht lesen. Selbst wenn, hätte sie nicht verstanden, was auf den Kartons und Leintüchern stand, die manche der Menschen da draußen hochhielten. Immer mehr wurden es. Der Bus schob sich durch Menschenmassen. Die draußen riefen etwas zu ihrem Empfang. Sie sahen anders aus als die Menschen in Sarajevo. Runder, rosiger, gesünder. Keine spitzen Knochen in den Gesichtern. Keine Ringe unter den Augen. Und ihre Kleidung … Noch nie hatte Dana so schöne Kleidung gesehen! Sie spürte, dass die Stimmung im Bus unruhig wurde. Wispern. Diskussionen. Ihre Mutter legte den Arm um Danas Schulter. An einer Scheibe vor Dana explodierte etwas. Dana fuhr zusammen. Das tat sie seit dem Granateneinschlag immer, wenn ein lautes Geräusch sie überraschte. Eine Flasche war an einer Scheibe des Busses zersprungen. Ihr Inhalt rann nun über das Glas. Warum bewarfen die Menschen da draußen sie mit Flaschen? Dort bist du in Sicherheit, hatte Papa gesagt. Waren sie etwa wieder in Sarajevo? Dana nahm die Nase von der Scheibe und drückte sie in Mamas Ellenbeuge, die da mit einem Mal war. Immer lauter wurden die Stimmen von draußen.