Derek stand am Fuß der Treppe, die in die Gulfstream G600 führte, und sah dem ersten SUV entgegen. Der Wind hatte aufgefrischt, am Himmel zogen dunkle Wolken auf. Das Fahrzeug hielt vor ihm. Bevor der Chauffeur herausspringen und die Türen öffnen konnte, hatten sich die Passagiere schon selbst geholfen. Auf Dereks Seite stieg ein athletischer, mittelgroßer Mann mit millimeterkurz geschorenem Haar aus dem Wagen, in dunkelblauem Anzug. William Cheaver, zweiundvierzig Jahre alt, war einer der renommiertesten Experten für internationales Strafrecht. Professuren an Elitehochschulen, Berater diverser internationaler Institutionen, mehrfacher Buchautor. Ihm folgte eine Frau in dunklem Kostüm. Die gebürtige Puerto Ricanerin Alana Ruíz, achtundvierzig, im typisch hyperschmalen Look Washingtoner Establishmentfrauen, ebenfalls internationales Recht, seit Art Jones’ Präsidentschaft eine führende Persönlichkeit im Justizministerium, schon mehrmals als US -Vertreterin bei der UNO gehandelt. Von der anderen Seite her umrundete ein massiger, fast zwei Meter großer Kerl in Chinos und Rugby-Sweater den Wagen. Ronald Voight, vierundvierzig, hatte als früher Digitalchef und später als Kommunikationsleiter für Senatoren, Gouverneure, Präsidenten und Unternehmen gearbeitet, bevor er in einer der größten internationalen Kommunikationsagenturen rasant zum Chef aufgestiegen war. Vor fünf Jahren hatte er sein eigenes Beratungsunternehmen gegründet. Kaum hatte Derek sie begrüßt, hielt bereits der nächste Wagen. Er entließ Lilian Pellago. Die erst Dreiunddreißigjährige mit Doktortiteln aus Harvard, Georgetown und dem MIT galt als eines der größten Talente im Außenministerium, aber auch als unkonventionell. Mit ihrem Afro und dem dunklen Hosenanzug im Siebzigerjahreschnitt, der sich von ihrer Haut fast nur durch die Stresemannstreifen abhob, hätte sie ebenso gut auf ein Vogue-Cover gepasst. Ihr wurde nachgesagt, dass sie nur zwei Stunden Schlaf brauche. Aus demselben Wagen stieg nun Trevor Strindsand. Er war einer der Geheimdienstkoordinatoren in Arthur Jones’ Team. Derek hatte für jeden ein freundliches Wort übrig, während die Fahrer das Gepäck der Passagiere in die Maschine schafften. Vorstellen musste er die Anwesenden einander nicht. Sie kannten sich, mehr oder weniger. Einige hatten in früheren oder auch ihren gegenwärtigen Funktionen schon miteinander zu tun gehabt. Die gegenseitigen Begrüßungen waren professionell, teils sogar herzlich.
»In Athen wird General Nestor Booth zu uns stoßen«, erklärte er. »Army«, fügte er hinzu, denn Nestor Booth war keine bekannte Größe in Washingtoner Zirkeln. Damit war jedem klar, dass der Mann für einen eventuellen Einsatz im Rahmen des American Service-Members’ Protection Act zuständig war.
»Griechenland«, sagte Voight. »Warum ausgerechnet die Griechen?«
»Sieht eher nach einer amoklaufenden Ministerin aus«, meinte Lilian Pellago. »Höre ich aus Insiderzirkeln. Die übrige Regierung wurde davon ebenso überrumpelt wie die restlichen Europäer.«
Ronald Voight sah aus seiner Überblicksposition in die Runde und nickte anerkennend: »Cooles Team. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.«
Die anderen erwiderten die Freundlichkeit, während sie die Treppen hinaufstiegen. Nur Lilian Pellago blieb noch stehen, hörte jemandem in ihrem weißen Ohrstöpsel zu. Nickte, wandte sich zum Gehen.
»Gute Nachrichten«, sagte sie zu Derek, der auf sie gewartet hatte. »Gleich nach deinem Anruf habe ich ein paar Leute in Athen kontaktiert«, sagte sie, während sie an ihm vorbei die Treppe hinaufstieg. Auf seinen fragenden Blick antwortete sie, schnippisch lächelnd: »Erzähl ich dir drin.«
Nach einer langen Dusche warf sich Dana im Bademantel auf das Bett und scannte erneut ihr Telefon. Es war kurz nach acht Uhr abends. Ihre Enttäuschung über Henks Reaktion hatte sich in dumpfen Ärger irgendwo in ihrem Bauch verwandelt.
Vielleicht sollte sie einfach alle Nachrichten ungelesen und ungehört löschen. Oder archivieren. Für später. Irgendwann. Wenn das alles vorbei war. Wie auch immer es ausgehen würde.
Sie packte ihren kleinen Koffer aus. Sie hatte Kleidung für drei Tage mitgenommen. Mehr hatte sie nicht für notwendig gehalten. Eigentlich sollte sie nur die Verhaftung bezeugen. Und sicherheitshalber noch eine Nacht bleiben. Falls am nächsten Tag noch Formalitäten anfielen, für die jemand vom ICC vor Ort sein sollte. Auch wenn Dana keine bekannt waren. Das Prozedere lag vorerst in der Hand der griechischen Behörden. Dana – und die anderen beim ICC – erwarteten keine Wunder. Das Wunder war ihnen eigentlich schon mit der Verhaftung gelungen. Die Amerikaner würden alle Mittel einsetzen, Turner so schnell wie möglich aus der Haft zu bekommen: vor allem natürlich politischen Druck. Dazu rechtliche Mittel, wenn nötig.
Der International Criminal Court hatte keine eigenen Polizisten. Er besaß nicht das Recht, eigens jemanden festzunehmen. Er war auf Wohl und Wehe von der Kooperation der Unterstützerstaaten abhängig. Turner war von Griechen verhaftet worden. Ein griechisches Gericht würde darüber entscheiden, ob Turner tatsächlich der Richtige war, dass alles den Regeln nach abgelaufen war und Turners Rechte gewahrt worden waren. Erst wenn das Gericht dies bestätigte und keine politische Stelle für eine Freilassung intervenierte, würde Turner nach Den Haag in die Obhut des ICC überstellt werden. Je nach Tempo des griechischen Gerichts und der Rechtsunterstützung, die Turner sicherlich anforderte, konnte das bis zu einigen Wochen dauern. Aber vielleicht ging es auch schneller. Die Griechen würden alles tun, um sich die Geschichte so rasch wie möglich vom Hals zu schaffen.
Da die USA die Zuständigkeit des International Criminal Court für US -Bürger (und Green-Card-Besitzer) nicht anerkannten, würden sie ungern Anwälte nach Den Haag senden. Außer um für dessen Unzuständigkeit zu argumentieren. Erst wenn es tatsächlich zu einer Anklagebestätigung kam – was erst nach der Überstellung eines Verdächtigen nach Den Haag erfolgen konnte –, würden sie wahrscheinlich doch für Turners Verteidigung sorgen. Aber noch war es eine Angelegenheit der Griechen. Deshalb würde Turner von den USA wohl höchstrangige Rechtsprofis zur Seite gestellt bekommen. Botschafter McIntyres Auftritt vor dem Gefängnis hatte einen Vorgeschmack auf einen dritten, ganz wesentlichen Aspekt gemacht: Kommunikation.
Dana loggte sich mit ihrem Tabletcomputer über einen VPN ins Hotel-WLAN . Alle wichtigen und unwichtigen Medienoutlets präsentierten die Verhaftung auf ihren Startseiten. Oft mit einem Bild, auf dem auch Dana zu sehen war. Wieder begann ihr Herz zu rasen, brach ihr der Schweiß aus. Noch hatte sie sich an ihr Bild in den Medien nicht wirklich gewöhnt.
Seitenlange Analysen, Berichte. Sondersendungen. Die US -Börsen waren noch offen und auf Sinkflug. Aus dem Weißen Haus kamen derzeit keine neuen Stellungnahmen. Turners Familie, seine Frau, blonde Helmfrisur des Establishments, forderten in dürren Worten dessen Freilassung, ansonsten verweigerten sie vorerst jeden Kommentar. Dana suchte die englischsprachige Ausgabe griechischer Medien. Davon gab es nur wenige. Sie überflog die Berichterstattung, zuerst die griechische. Die Meinungen waren gespalten. Es überwog die Furcht vor einer Revanche der USA . In Washington hatte das Außenministerium den griechischen Botschafter einbestellt. Nach ein paar Minuten hatte sich Dana an ihr Konterfei gewöhnt. Ihr Körper beruhigte sich ein wenig. Umfangreich diskutierten die Medien auch die Verantwortung. Wer hatte die Verhaftung genehmigt? Wer durfte das überhaupt? Wer konnte es?
Prozesse des ICC kamen nie ausschließlich aufgrund rechtlicher Gründe zustande. Sie brauchten die Kooperation der Politik – Zustimmungen von Innen- oder Justizministern, Kanzlern, Ministerpräsidenten, anderen. Wozu sich hundertvierundzwanzig Länder im Rom-Statut verpflichtet hatten. Doch kaum ein Politiker weltweit würde auch nur erwägen, in seinem Land einen Haftbefehl gegen einen ehemaligen US -Präsidenten durchzusetzen. Und jene wenigen, die es vielleicht wagten, waren im Allgemeinen nicht an der Macht oder mit Partnern in Koalitionen gebunden, die es nicht zulassen würden.
Danas Vorgesetzte, die Hauptanklägerin des ICC , Maria Cruz, hatte recherchiert. Und eine einmalige Chance gesehen. Sie hatte kurzfristig einen vorläufigen Haftbefehl beantragt, und die Vorverfahrenskammer des Gerichts hatte ein Ersuchen um Verhaftung an das griechische Justizministerium gestellt. Exekutieren musste ihn der Staatsanwalt des Athener Berufungsgerichts. Michalis Stouvratos galt als gnadenloser Bürokrat und pedantischer Rechtsvertreter. Das Gesetz war ihm heilig.
In der Schlüsselposition saß die griechische Justizministerin. Sie gehörte der sozialdemokratischen Partei an, die in einer seltenen und konfliktbeladenen Koalition mit der konservativen Nea Dimokratia regierte. Schon mehrmals hatte diese den Rücktritt der Ministerin gefordert. Aus Insiderzirkeln war seit Wochen zu vernehmen gewesen, dass sie nicht nur stinksauer auf die Konservativen war, sondern auch auf ihre eigenen Leute, die sie nicht unterstützten. Gerüchte munkelten, sie wolle hinwerfen. A window of opportunity , hatte sich Cruz gedacht. Wenn die Justizministerin ihren politischen Gegenspielern so richtig eins auswischen wollte, dann hatte sie damit die Gelegenheit bekommen. Je nach politischer Richtung wurde die Ministerin in den griechischen Medien gefeiert oder gekreuzigt.
Maria war mit einem – notgedrungen kurzen – vorläufigen Haftbefehl ein kalkuliertes Risiko eingegangen. Ob das aufging, hing jetzt auch von der Bereitschaft der griechischen Richterinnen und Richter ab, sich nicht von der zu erwartenden Vernebelungstaktik der Verteidigung beeindrucken zu lassen.
Die internationalen Medien beschäftigten sich auch mit der globalen Situation. Erst vor wenigen Tagen war es wieder einmal zu einem Zwischenfall zwischen griechischen und türkischen Schiffen gekommen. Videos zeigten eine Fastkollision, bei dem zum Glück niemand verletzt worden war. Doch die Situation zwischen den zwei NATO -Partnern war angespannt. Was trieb Griechenland in dieser Situation dazu, den Zorn des mit Abstand wichtigsten NATO -Staates auf sich zu ziehen? Nichts wirklich, waren sich die Kommentatoren weitestgehend einig. Die Verantwortung wurde überwiegend einer durchgeknallten griechischen Justizministerin zugeschrieben.
Keine Reaktionen gab es bislang von den Staatsoberhäuptern der großen EU -Nationen. Auch Russland und China hielten sich zurück.
Zu dem Ärger über Henk hatte sich in Danas Bauch ein Gefühl von Hunger gesellt. Vor Aufregung hatte sie seit dem Morgen keinen Bissen hinunterbekommen. Sie legte das Tablet zur Seite und zog sich an. Ein leichtes Sommerkleid für den warmen Abend. Wenn sie schon in Athen war, sollte sie wenigstens einen kurzen Blick auf die Akropolis werfen.
Und eigentlich hatte sie jeden Grund zum Feiern. Jahrelange Arbeit war heute belohnt worden! Zum Teufel mit Henk! Beim ICC in Den Haag arbeiteten sie gerade wie verrückt, um nach dem vorläufigen Haftbefehl das eigentliche Überstellungsersuchen vorzubereiten. Sollten sie Dana brauchen, würde Maria sich melden. Ein Glas Sekt hatte sie sich verdient! Sie warf ihre Handtasche über die Schulter, noch einen Blick in den Spiegel. Die Haare frisch gewaschen und offen, ein wenig wellig in der schwülen Luft. Sommerkleid statt Kostüm. Keine Brille. Eine völlig andere Person als die strenge Gerichtsmitarbeiterin auf dem Video. Kein Mensch würde sie erkennen. Nichts wie hinaus in den Sommerabend!
Derek machte es sich in seinem Sessel bequem. Der Flug in der Gulfstream GS 600 von Washington, D. C., nach Athen würde gut zehn Stunden dauern. Die Piloten erwarteten die Ankunft am frühen Morgen. Genug Zeit für erste Besprechungen, Strategien und Anweisungen. Und vielleicht auch für ein paar Minuten Schlaf. An die dachte noch niemand.
Die Maschine war mit luxuriösen Ledersitzen ausgestattet, die über Schienen im Boden variabel angeordnet werden konnten. Während Start und Landung saßen sich je zwei Passagiere an kleinen Tischen gegenüber. Während des Fluges konnten diese Paarungen zu einem Besprechungstisch mit bis zu zehn Plätzen arrangiert werden.
Um diesen hatten sich die sieben Fluggäste verteilt. Das Personal hatte Häppchen und Getränke bereitgestellt und sich wieder zurückgezogen. Im winzigen Küchen-Servicebereich am hinteren Ende der Maschine warteten sie darauf, dass man sie rief. Dann, und nur dann, durften sie in die Reisekabine. Weder der Koch noch die Flugbegleiterin waren über den Grund der Reise, die Identität ihrer Gäste oder das Flugziel informiert worden. Erst in Athen würden sie vielleicht ihre Schlüsse ziehen. Selbst wenn, ihr Engagement verpflichtete sie nicht nur zu absoluter Diskretion, sondern auch zu höchster Geheimhaltung.
Ronald Voight griff beherzt zu. Der Riesenkörper brauchte dringend Energie.
»Bevor wir beginnen«, sagte Lilian Pellago, »ist die erste positive Nachricht jetzt auch offiziell: Die griechische Justizministerin wurde entlassen.«
Guter Start. Einige in der Tischrunde nickten zufrieden.
»Gegenwärtig führt der Premierminister Gespräche mit potenziellen Nachfolgern. Wir nutzen verschiedene Kanäle, um sicherzustellen, dass es keine Loose Cannon wie Kalomira Stakis wird.«
»Warum lässt er nicht auch gleich Turner frei?«, fragte Ronald Voight mit vollem Mund. »Damit würde er uns allen, inklusive sich selbst, einen großen Gefallen tun.«
»Ronald«, lächelte sie ihn süßlich an, »das weißt du am besten. Gesichtsverlust. Griechenland hatte das Rom-Statut unterzeichnet. Wenn er Turner heute noch mir nichts, dir nichts freilässt, macht er sich zum Gespött der halben Welt. Die ersten internationalen Stellungnahmen sind inzwischen da.«
Sie klappte den Tabletcomputer, den sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte, hoch und stellte ihn so auf, dass die anderen den Bildschirm sehen konnten. Mit ein paar Fingerwischern aktivierte sie ein Video.
Der deutsche Kanzler, wie immer, als hätte er einen Stock verschluckt, sprach in ein Bündel Mikrofone. Untertitel übersetzten seine Erklärung ins Englische.
»… respektiert Deutschland die Entscheidung des unabhängigen International Criminal Court in Den Haag. Wir sind überzeugt davon, dass das Internationale Gericht seinen Aufgaben mit höchster Gewissenhaftigkeit nachkommt und unter genauester Beachtung internationaler Verträge handelt. Nichtsdestoweniger werden wir akribisch beobachten und prüfen, ob dessen Vorgehensweise korrekt ist. Deutschland steht zu seinen internationalen Verpflichtungen, ebenso wie zu seiner jahrzehntelangen, engen Freundschaft mit den Vereinigten Staaten. Diese tiefe politische und wirtschaftliche Verbundenheit unserer beiden Völker wird durch die Handlungen eines internationalen Organs weder infrage gestellt noch beeinträchtigt. Die Bundesrepublik wird mit allen Kräften an einer alle zufriedenstellenden Lösung der Situation mitarbeiten.«
Windelweiches Geschwurbel.
»Denen geht der Arsch auf Grundeis«, brachte Ronald Voight es auf den Punkt.
Ohne Ton ließ Lilian die Gesichter weiterer Regierungsoberhäupter über den Screen laufen, während sie erklärte: »In ähnlichem Tenor äußern sich die Regierungschefs fast aller EU -Staaten, die EU -Kommissionsvorsitzende und der EU -Ratsvorsitzende. Alle putzen sich am ICC ab, ohne jedoch rundheraus eine Enthaftung von Turner zu fordern. Zwischen den Zeilen werden einige jedoch etwas deutlicher als andere, namentlich Polen, Ungarn, Kroatien und die baltischen Staaten.«
»Klar«, meinte Ronald, »die müssen sich am meisten um einen Abzug von US -Truppen sorgen.«
»Außerdem stecken sie selber voll mit drin«, sagte Trevor Strindsand, der Geheimdienstkoordinator. »Die Deutschen lassen zu, dass vom US -Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland Drohnenflüge für gezielte Tötungen koordiniert und gesteuert werden, deutsche, britische, italienische, niederländische und andere Geheimdienste unterstützen die USA bei den Angriffen mit Informationen. Ganz zu schweigen von den Black Sites in Polen, Rumänien oder Litauen und der freundlichen Mitarbeit vieler europäischer Geheimdienste bei den ›erweiterten Verhörtechniken‹« – die letzten zwei Worte sprach er mit einem höhnischen Grinsen aus – »nach 9/11.«
»Nur die Niederländer und die Belgier kneifen den Arsch nicht ganz so fest zusammen und erinnern stärker an die Unabhängigkeit des ICC «, fuhr Lilian fort.
»Müssen die Holländer, als dessen Standortgeber«, sagte Derek.
»Was ist mit den Briten?«, fragte Trevor. Ob ihm bewusst war, dass er die ganze Zeit mit den Fingern seiner linken Hand auf die Sitzlehne trommelte?
»Sind auch Unterzeichner des Statuts, können also schlecht völlig ausscheren. Sie fordern in ihrer Stellungnahme allerdings sehr deutlich eine sofortige klare Darlegung der Anklagepunkte und geben zu verstehen, dass sie sich keine gerechtfertigten vorstellen können.«
»China, Russland?«
»Bis jetzt nichts.«
»Die lachen sich ins Fäustchen«, sagte Ronald.
»Ich habe bereits mit mehreren hochrangigen Regierungsvertretern aus Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien gesprochen und unseren Standpunkt deutlich gemacht«, sagte Lilian. »Und während wir hier sitzen, stehen einige meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kontakt mit weiteren.«
»Laskaris?«, fragte Derek.
»Hat mir versichert, dass er alles in seiner Macht Stehende tut. Aber er müsse sich an internationale Verpflichtungen halten, die Welt schaue auf Griechenland, blabla.«
»Dann hat er nicht sehr viel Macht«, meinte Trevor. »Oder er verarscht uns ganz gewaltig. So oder so ist er ein Problem.«
»Wir alle wissen, dass das hier nicht ablaufen wird wie in einem Actionfilm«, sagte Lilian, »in dem ein heroischer Leibwächter oder ein grandioses Einsatzteam binnen wenigen Stunden und unter Einsatz von wenig Grips und sehr viel Gewalt einen Trümmerhaufen hinterlässt.«
»Apropos Einsatzteam«, sagte Trevor, »was ist mit dem American Service-Members’ Protection Act?«
»Zweierlei«, sagte Derek. »Erstens, wie schon erwähnt, stößt Nestor Booth in Athen zu uns. Er ist General in der Souda Bay Naval Base auf Kreta. Er ist gebrieft und wird uns über entsprechende Optionen informieren.«
»Soll heißen, er bereitet etwas vor?«
»Grundsätzlich ja. Zweitens reden wir hier auch über eine rechtliche Frage.«
»Nicht ernsthaft«, sagte Trevor.
»Wir müssen sie zumindest in Betracht ziehen«, erwiderte Derek. »William, Alana?«
»Derek hat natürlich recht«, ergriff Alana Ruíz das Wort. »Bei dem ASMPA handelt es sich um ein US -Gesetz, das naturgemäß international umstritten ist. Nicht umsonst nennen es manche ›Den-Haag-Invasionsgesetz‹. Wie der Namensteil »American Service-Members’« schon sagt, ist es formuliert für Angehörige der US -Streitkräfte, Angehörige der Administration oder sonst wie in Kampfhandlungen involvierte Personen.«
»Douglas Turner war Präsident«, warf Trevor ein. »Und ist angeklagt wegen angeblicher Delikte, die er in dieser Funktion begangen haben soll. Der ASMPA ist also auf ihn anwendbar.«
»Ja«, sagte Derek, an ihn gewandt. »Aber zuerst müssen wir alle gewaltfreien Möglichkeiten ausschöpfen, allen voran juristische, weil es sich um ein Gerichtsverfahren handelt. Deshalb seid ihr hier. Selbst wenn uns allen bewusst ist, dass die anderen Handlungsoptionen, von politischem und wirtschaftlichem Druck über Kommunikation bis hin zum hoffentlich vermeidbaren Einsatz von Waffen, womöglich wirksamer sein werden, müssen wir es a) zumindest versuchen und b) nach außen hin die Form wahren. Jetzt einfach mit Gewalt reinzugehen … Na ja, wie gesagt, das funktioniert nur im Film.« Er wechselte zu einem Lächeln. »Wobei … das Korydallos-Gefängnis ist nicht das sicherste. 2006 und 2009 gelang demselben Verbrecher jeweils eine Flucht per Helikopter!«
»Da werden sie inzwischen etwas geändert haben«, meinte Ronald.
»Kaum. Sparmaßnahmen wegen des Faststaatsbankrotts nach der Finanzkrise 2008/9 und neuerlich nach den Corona-Lockdowns.«
»Warum haben sie ihn dann nicht woandershin gebracht?«
»Weil sie nichts haben, wie es scheint. Zumindest nicht so kurzfristig, wie die Sache gelaufen sein dürfte. Wie auch immer. Schauen wir uns noch einmal die Fakten an: Was gibt der ICC als Haftgrund an? Kriegsverbrechen. Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Verschwindenlassen, Mord. Mit den Folterungen nach 9/11 hat er definitiv und nachweislich nichts zu tun. Es müssen also vor allem die gezielten Tötungen sein.«
»Alle Indiziensammlungen und Zeugenaussagen, die der ICC und diverse NGO s zusammengetragen haben könnten, würden dem ICC sicher nicht genügen«, zeigte sich William Cheaver überzeugt. »Die müssen eine Smoking Gun haben. Sonst wagen sie so etwas nicht.«
»Was wäre eine Smoking Gun?«
»Zum Beispiel, dass Turner einen Befehl gegeben hat.«
»Zivilisten zu töten?«
William zuckte mit den Schultern.
»In den Executive Orders haben wir bei der Amtsübergabe nichts gefunden.«
»Vielleicht wurde er vorher vernichtet.«
»Dann müsste er aber noch davor an den ICC gegangen sein. Ein Whistleblower?«, fragte Ronald Voight.
»Du meinst einen Verräter«, spie Trevor Strindsand das Wort fast aus. »Falls es welche gibt, finden wir sie. Ist bereits in Arbeit.«
»Gibt es denn solches Material?«, fragte Ronald.
»Es gab da was«, merkte Alana zögerlich an. »Eine Geschichte mit Turner. Ich habe sie nur am Rande mitbekommen. Aber sie könnte hier natürlich eine Rolle spielen.«
»Welche Geschichte?«, fragte Derek.
»Ein Video. In dem er sehr explizit wurde.«
»Wie explizit?«
»Smoking Gun. Zumindest für den ICC .«
Warum rückte sie erst jetzt damit heraus? Derek fixierte sie, spürte die Falte zwischen seinen Brauen, lockerte sie sofort wieder.
»Habe noch nie davon gehört. Warum kennt man das nicht?«