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Dana tauchte in das Getümmel der schmalen Straßen und ließ sich treiben. Sie hatte die Richtung zur Akropolis eingeschlagen, aber keine Eile, auf dem kürzesten Weg dorthin zu gelangen. Die Eindrücke und Reize der fremden Stadt halfen ihr, die Aufregungen des Tages ein wenig in den Hintergrund zu drängen. Sie spazierte an Souvenir- und Modeläden vorbei, die ihre Waren auch um diese Zeit noch den flanierenden Touristen anboten, inspizierte hier ein Tuch, dort eine Sommertunika, probierte Sonnenbrillen. Ihre Handtasche mit Telefon, Geld und Schönheit hielt sie unter die Achsel gepresst. An einer besonders belebten Ecke bog sie ab. Vor ihr öffnete sich eine Art Platz. Dahinter erstreckten sich Ruinen und parkartiges Gelände, aus dem sich in einiger Entfernung ein mächtiger Felsen erhob. Ihn krönten die beleuchteten Tempel der Akropolis. Staunend und bewundernd hatten auch andere Spaziergänger angehalten. Dana ließ das Panorama auf sich wirken. Hier stand sie also am Geburtsort der Demokratie. Sie hatte sich mit dieser Erzählung nie anfreunden können, gestanden die antiken Politikmacher das Recht zur Mitbestimmung im Staat doch nur freien Männern zu, die nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten. Handwerker und Bauern, Frauen, Sklaven, Fremde und alle anderen blieben ausgenommen. Mitbestimmen durften also nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Selbst sogenannte Väter der demokratischen Idee wie Aristoteles vertraten diese Ansicht und zogen dieser geringen Beteiligung eine Mischung aus Oligarchie, also eine Herrschaft von noch weniger Personen, und Demokratie vor. Warum dieses Konzept als Ursprung der Demokratie galt, hatte sich Dana bis heute nicht erschlossen.

Aber der pittoreske Felsen war schön anzusehen. Auf dem Platz boten mehrere Restaurants Tische im Freien an, die gut besetzt waren. Sicher Touristenfallen, aber was soll’s? Nach einigem Suchen fand sie einen freien Platz mit Blick auf die leuchtenden Ruinen. Ein Kellner mit Menükarten tauchte auf.

»Deutsch? Englisch? Französisch?«

So offensichtlich? In ein Restaurant an diesem Ort gingen wohl nur Touristen.

»Irgendeine«, sagte sie auf Englisch.

»Sind Sie allein?«, fragte er einigermaßen flüssig und griff zu einer zweiten Karte.

Sie winkte ab. »Ja danke.«

»Was für eine Schande!«, erklärte er mit gespielter Empörung. Um seine Augen bildeten sich sympathische Lachfalten. »Darf ich schon einmal etwas zum Trinken bringen?«

»Haben Sie ein Glas Sekt?«

»Fabelhaft«, sagte er und reichte ihr eine Karte. »Kommt sofort.«

Dana entschloss sich schnell für das sommerliche Grillgemüse.

Der Kellner kam mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Sektflöten standen, eine weniger gefüllt. Und ein Schnapsglas.

Das volle Glas und den Schnaps stellte er vor Dana auf den Tisch.

»Feiern soll man nicht allein«, rief er gut gelaunt. »Was immer Sie zu feiern haben, jamas!«

Er hob sein halb volles Glas.

Überrascht hob sie das ihre, und er stieß mit ihr an. Ja, warum denn nicht? Sie tranken beide.

»Sehr gut«, sagte er und wies auf das kleine Gläschen. »Ouzo«, erklärte er. »Geht aufs Haus.«

»Danke.«

»Was darf ich Ihnen zum Essen bringen?«

Er nahm ihre Bestellung auf und verschwand mit seinem Glas.

Dana nippte am Ouzo. Für den bitteren Anisgeschmack hatte sie sich nie erwärmen können. Doch heute Abend schmeckte er ihr. Trotzdem nahm sie lieber noch einen langen Schluck aus ihrem Sektglas, versunken in den Anblick der antiken Steine.

Was für ein Tag! Noch immer war die Anspannung nicht von ihr abgefallen. Ein weiterer Schluck Sekt. Aus einem in Schwedisch geführten Gespräch an einem Nachbartisch hörte sie die Worte »Turner«, »Amerika«, »ICC «. Dezent warf sie einen Blick auf die Runde. Touristen im Rentenalter. Nun fiel ihr auf, dass »Turner« und dazu passende Begriffe von mehreren Tischen durch das vielsprachige Geplapper drangen. Auch unter den Touristen beherrschten die Ereignisse des Tages die Unterhaltungen. Auf Dana achtete niemand. Zu anders sah sie aus als auf den Bildern in den Medien.

Sie griff zum Telefon. Dutzende neue Nachrichten. Egal. Sie schoss ein paar Bilder von der Akropolis, dem Treiben um sie herum. Warf einen Blick in die sozialen Medien und ihre bevorzugten Nachrichtenportale.

Turners Verhaftung dominierte alles. Immer noch viele Bilder mit Dana. Und ein neues war dazugekommen. Es zeigte eine Frau Ende fünfzig, die schwarzen Haare von einer silbernen Strähne durchzogen, mit streng entschiedenem Blick. Dana erkannte sie sofort: Kalomira Stakis, die griechische Justizministerin. Jene Frau, die Turners Verhaftung ermöglicht oder zumindest nicht verhindert hatte.

Griechischer Ministerpräsident Nikólaos Laskaris entlässt Justizministerin Kalomira Stakis.

Die Hitze schoss in ihr Gesicht, und nicht vom Sekt. Fieberhaft scannte Dana andere Newsoutlets. Die Meldung war erst wenige Minuten alt. Ein Nachfolger stand noch nicht fest, wie es schien. Keiner der Artikel äußerte sich darüber, ob Laskaris zugunsten Turners intervenieren wollte. Oder ihn gar freilassen würde. Die Entlassung von Stakis machte natürlich deutlich, dass er ihr Vorgehen nicht billigte. Oder dies zumindest in der Öffentlichkeit kommunizieren wollte.

Nun überflog Dana doch die Liste der Nachrichtenabsender und eingegangenen Anrufe auf ihrem Telefon. Maria Cruz hatte vor sieben Minuten versucht, sie zu erreichen. Keine Nachricht in der Mailbox hinterlassen.

Dana wählte ihre Nummer. Besetzt.

Sie legte das Telefon neben sich auf den Tisch, damit sie den nächsten Anruf von Cruz nicht versäumte. Der Kellner kam mit einem Teller und seinem strahlenden Lächeln. Mit einem Blick auf die halb leeren Gläser fragte er: »Noch eins?«, während er ihre Bestellung servierte. Dana zögerte nur kurz. Sie wollte endlich ein wenig entspannen! Die Nachricht von Stakis’ Kündigung hatte genau das Gegenteil bewirkt.

»Bitte«, sagte sie.

Der Grill hatte schwarze Streifen in das ölige Gemüse gebrannt. Als läge es hinter Gitter. Unwillkürlich musste Dana an Turner denken. Wie es ihm wohl im Korydallos-Gefängnis ging? Sie wollte gerade zu essen beginnen, als ihr Telefon brummend einen Anruf von Maria Cruz ankündigte.

»Dana Marin.«

»Ein bisschen übereifrig gewesen heute, was?«, sagte Maria ohne Begrüßung. Dana schoss erneut die Hitze ins Gesicht, doch bevor sie antworten konnte, meinte Maria: »Kann ich verstehen. Jetzt kennt halt jeder dein Gesicht. Schon Drohungen bekommen?« Sie klang besorgt.

»Zu viele Nachrichten«, sagte Dana. »Selbst wenn, ich komme nicht dazu, sie zu lesen.«

»Ist wahrscheinlich besser so. Nachricht über Stakis schon gesehen?«

»Ja. Werden die Griechen Turner jetzt gleich wieder freilassen?«

»So einfach können sie es sich wohl nicht machen. Aber wer weiß. Gehört habe ich noch nichts. Weder so noch so.«

»Jasper hat sich bei mir noch nicht gemeldet. Ist er schon da?«

Jasper Brunt sollte den ICC in den kommenden Tagen in Athen vertreten. Der dreiundfünfzigjährige Däne war seit zwei Jahren einer der führenden Juristen im OTP , dem Office of the Prosecutor beim ICC . Er hatte den Haftbefehl mit vorbereitet und sollte mit seiner Erfahrung das Internationale Gericht in den kommenden Tagen bei Bedarf in Athen vertreten. Dana war nur die Vorhut gewesen. Wäre die Verhaftung gescheitert, hätte sie sich ohne großes Aufsehen nach Den Haag zurückgezogen. Ihre Aufgabe war erfüllt.

»Ich habe noch nichts von ihm gehört. Er wird schon Bescheid sagen, sobald er angekommen ist. Oder du hast seine Nachricht in der Masse der anderen übersehen? Ich muss weitermachen. Schönen Abend noch! Ach, und – gut gemacht.«

»Danke«, erwiderte Dana verdutzt, doch da hatte Maria die Verbindung bereits unterbrochen. Erleichtert starrte Dana ihr Telefon an. Dann auf die Akropolis.

Gut gemacht.

Ohne es zu bemerken, hatte sie während des Gesprächs beide Gläser geleert.

Ihrem Kellner hingegen war es nicht entgangen.

»Nachschub?«

»Bitte.«

Mit Appetit machte sie sich über ihr Abendessen her. Nach Jaspers eventuell übersehener Nachricht würde sie später suchen.