Sean Delmario wartete im Café Dennos auf dem Agentensitz. Rücken zur Wand, das ganze Lokal und den Eingang im Blick. Drinnen saß um die Jahreszeit niemand. Der Kellner und Besitzer, ein alter Mann mit grauem Schnurrbart und schwarzem Jäckchen, machte zwei Kaffee und brachte sie hinaus zu Gästen an einem der Tische auf der Straße. Zwei weitere alte Männer mit Schnurrbärten und verwitterten Gesichtern saßen dort im Licht der Straßenlampen. Er blieb bei ihnen stehen und unterhielt sich mit ihnen. Stammgäste. Touristen verirrten sich so gut wie nie in das kleine Café am Rand von Limassol. Sean scrollte durch die neuesten Nachrichten zu Douglas Turners Verhaftung. Diese Geschichte war ein Dammbruch. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Wie konnten die es wagen? Er sah wieder hoch. Vor ihm hatte sich nichts verändert.
Sean hatte den Libanesen per Telefon hierherbestellt, nachdem er ihn über ein paar andere Stationen geschickt hatte. An jeder beobachtete einer von Seans Leuten, ob der Libanese allein unterwegs war und ihm niemand folgte. Was natürlich nicht gegen Sender und Drohnen half. Gegen Sender half die erste Station, an der einer von Seans Männern den Libanesen gecheckt hatte. Gegen Drohnen half der Umweg durch zwei Tiefgaragen, die ganze Häuserblöcke verbanden und in denen der Libanese Wagen wechseln musste. Wagen, die kein eingebautes Navigationssystem besaßen. Und kein GPS -Ortungssystem zur Diebstahlsicherung. Elektronisch weder zu orten noch zu verfolgen. Die letzten zweihundert Meter ließ er den Libanesen trotzdem zu Fuß gehen, durch einen Häuserblock, dessen Gebäude im Inneren verbunden waren. Um ins Café zu gelangen, musste sein Gesprächspartner nur mehr aus dem Nebenhaus treten und nah genug an der Hauswand bleiben, um von den vorspringenden Dächern vor Beobachtern von oben geschützt zu sein. Sean sah seine Silhouette an dem Fenster neben der Tür vorbeihuschen, durch die er gleich darauf trat. Er musste sich nicht umschauen, nur seine Augen an das Zwielicht gewöhnen, doch Sean war nicht zu übersehen.
Der Libanese trug einen hellen Sommeranzug über dem weißen Hemd. Das früh schütter gewordene Haar kämmte er mit viel Gel nach hinten. Er breitete die Arme aus und legte ein schleimiges Grinsen auf.
»Mein Freund!«, sagte er und kam an Seans Tischchen.
»Mahir«, sagte Jean nur.
Mahir setzte sich auf den Stuhl links von Sean, von dem aus er einen fast ebenso guten Überblick hatte.
Der Besitzer des Ladens hatte die Ankunft des neuen Gastes bemerkt, tat aber so, als ginge sie ihn nichts an. Er plauderte weiter mit seinen Kumpels auf der Straße.
Jean musterte ihn. Eigentlich sah Mahir nicht schlecht aus. Was ihn so unattraktiv machte, waren der untertänige Zug um den Mund und der seelenlose Blick. Sean kannte ihn seit zwölf Jahren und wusste, dass der Mann keine Seele hatte. Ebenso fehlten ihm jegliches Gefühl, Gewissen, Moral oder Skrupel. Der ideale Geschäftspartner. Jeder wusste, woran er war. Es ging um Geld. Viel Geld. Viel mehr als sonst. Mehr hatte Mahir ihm nicht gesagt. Nicht sagen wollen. Unüblich. Sean hatte gute Lust gehabt, ihn abblitzen zu lassen. Doch dann war er doch neugierig gewesen.
Er wartete, dass der andere zu reden begann.
»Du wunderst dich über meine Geheimnistuerei«, eröffnete Mahir. »Aber du wirst gleich verstehen, dass ich gute Gründe habe.«
Jetzt bequemte sich der Wirt doch heran. Mahir bestellte eiskalte Zitronenlimonade. Ohne eine Regung schlurfte der Alte hinter den Tresen. Sean und Mahir beobachteten ihn, wie er mit einem Glas und einer kleinen Flasche aus dem Kühlschrank zu ihnen zurückkehrte, beides wortlos vor Mahir abstellte und wieder zu seinen Freunden auf der Straße verschwand.
Mahir schenkte sich ein, nahm einen ordentlichen Schluck und seufzte demonstrativ erleichtert.
»Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit«, sagte Sean. »Worum geht es?«
»Immer so sachlich«, klagte Mahir. »Man könnte meinen, du bist Deutscher, nicht Amerikaner.«
»Ich hatte eine deutsche Urgroßmutter.«
»Aber einen italienischen Vater. Von dem könntest du doch etwas Dolce Vita …« Er winkte ab. »Also gut. Zur Sache. Ich brauche jemanden, der einen Gefangenen befreit.«
»Wo? Aus welcher Situation?«
»Vielleicht sollte ich zuerst an deinen Patriotismus appellieren.«
»Patriotismus ist eine Sache. Das Geschäft eine andere. Also?«
»Die Zielperson ist US -Bürger. Derzeit in Athen. Da bleibt sie aber nicht.«
Sean beschlich ein eigenartiges Gefühl. Mahir konnte unmöglich von dem sprechen, der ihm zu Athen sofort in den Sinn kam.
»Wohin wird sie gebracht? Wann? Wie? Von wem?«
»In den kommenden Tagen wird sie nach Den Haag gebracht. Wann, weiß ich noch nicht genau.«
Wollte ihn der Typ verarschen?
»Erfährst du rechtzeitig. Wie, ist auch noch unklar. Die Intel dazu kommt hoffentlich bald. Durchführen werden den Transport wohl …«
»Moment!«, unterbrach ihn Sean. »Von Athen nach Den Haag? Kurzfristig? Und du weißt noch nichts Genaues? Wahrscheinlich weil die Sache so geheim und heiß ist, dass sogar du und deine Auftraggeber Schwierigkeiten habt, an die Informationen zu kommen?«
Er lehnte sich zurück und atmete einmal durch, während er Mahirs Gesicht scannte. »Und dann bringst du gleich zu Beginn auch noch Patriotismus ins Spiel. Wenn mein Verdacht stimmt, hast du den Verstand verloren.«
Mahir blickte emotionslos zurück.
»Was nimmst du dafür?«, fragte Mahir schließlich.
Sean konnte ein ungläubiges Lächeln nicht unterdrücken.
»Das ist unbezahlbar«, antwortete er.
Mahir sah ihn mit einem schiefen Blick an. Komm schon. Alles hat seinen Preis.
Sean konnte es noch immer nicht fassen.
»Wie stellt ihr euch das vor? Wie soll das gehen? Wenn wir vorab so gut wie nichts wissen? Nicht wissen, wo, wann, welchen Plan wir einsetzen könnten? Welches Material wir brauchen? Wie viele Leute? Das ist ja kein Banküberfall im Wilden Westen, bei dem man ein wenig mit der Waffe herumwedelt und seine Beute mitnimmt!«
»Die Planung müsste kurzfristig sein, das stimmt«, sagte Mahir. »Material ist kein Problem. Ihr bekommt alles, was ihr braucht, innerhalb von zwölf Stunden überallhin.«
Sean konnte es noch immer nicht glauben. War das die Falle, auf die er schon so lange wartete? Oder sein Ticket zu einer eigenen Insel?
»Die US -Regierung kann es nicht selbst machen«, dachte er laut. »Wenn etwas schiefgeht und ein paar Seals oder sonstige zurückbleiben, wäre das ein Desaster. In vielerlei Hinsicht. Deshalb schicken sie dich. Um jemanden zu rekrutieren. Mit wem redest du noch? Harry? Zak?«
Mahir antwortete nicht.
»Selbst wenn es Private machen wie wir – wer sonst würde eine solche Aktion in Auftrag geben? Der Öffentlichkeit gegenüber.«
»Die Familie?«, schlug Mahir vor. »Reiche Patrioten? Oder empörte Patrioten, die das Know-how haben?«
Sean musste wieder lächeln.
»Das wäre im Ernstfall meine Legende? Empörter Ex-US -Elitesoldat und seine Kumpels befreien ihren Ex-Präsidenten auf eigene Faust?«
Zugegeben: Turner war sein Präsident gewesen. Sein Oberbefehlshaber. Sean hatte unter ihm gedient. Und war unter ihm ausgeschieden.
»Eventuell. Aber daran arbeiten wir noch.«
»Wir.«
Mahir hob die Schultern, lächelte entschuldigend. Das kann ich dir nicht sagen.
»Ist das überhaupt notwendig?«, fragte Sean. »Bekommt Jones ihn nicht so heraus? Diplomatie?« Er spuckte das Wort fast aus. »Wirtschaftlicher Druck?«
»Das versuchen sie natürlich«, sagte er. »Ihr wärt sozusagen die letzte Rettungsstufe, wenn nichts anderes funktioniert.«
»Wann wissen wir, ob nichts anderes funktioniert?«
»Das entscheidet letztlich Washington. Zuerst einmal muss ein griechisches Gericht entscheiden, ob Turner überhaupt in Haft bleibt und überstellt wird. Inklusive Einsprüche vom Staatsanwalt und von Turners Anwälten kann sich das über mehrere Wochen hinziehen.«
»So lange wird Jones nicht warten wollen«, sagte Sean. »Er ist im Wahlkampf.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Mahir trank sein Glas leer.
»Ihr müsstet schnellstens euren Plan ausarbeiten und auf Abruf bereitstehen. Ich tippe auf maximal fünf bis sechs Tage. Länger wird Jones dem innenpolitischen Druck nicht standhalten. Kann aber natürlich auch schneller gehen.«
Die Idee erschien Sean nach wie vor verrückt. Turner saß laut Medien zwar im Korydallos-Gefängnis, aus dem schon diverse Gefangene geflohen oder befreit worden waren. Unter anderem per Hubschrauber, erinnerte sich Sean. Ein Spaziergang war solch eine Aktion trotzdem nicht. Er überschlug die Zahlen. Wen würde er brauchen? Wie lange? Was würden sie verlangen, wenn sie erfuhren, worum es ging?
Vergiss es! Es ist Wahnsinn!
Er wusste, wie er die Geschichte vom Hals bekam.
»Zweihundert Millionen Dollar«, sagte Sean. »Material und Spesen exklusive, versteht sich.« Damit würde er Mahir los.
Im Gesicht des Libanesen zuckte kein Muskel.
»Zehn Mann à zwanzig Millionen«, sagte Mahir abwägend. »Das scheint mir angemessen.« Sein Kopf wackelte.
Angemessen? Zwei? Hundert? Millionen? Dollar? Hatte er zu wenig verlangt? Sean gefiel das nicht.
»Fünfzig Millionen vorab«, fügte er hinzu, »unabhängig davon, ob es zum Einsatz kommt.« So ein Prozentsatz vorab war nicht ungewöhnlich. Die Summe war es schon. Besonders angesichts des Umstandes, dass sie selbst bei Nichteinsatz zu zahlen war. Dazu konnte Mahir nicht Ja sagen. So eine Budgethoheit würde ihm die CIA , oder wer immer dahintersteckte, nicht gegeben haben. Nicht diesem windigen Schieber. Nicht für die Befreiung einer einzelnen Person. Bei solchen Beträgen würde er wenigstens rückfragen müssen.
Andererseits: Es handelte sich um den ehemaligen Präsidenten.
»Hast du für solche Summen Kanäle?«, fragte ihn Mahir stattdessen. Durfte das wahr sein?! Jetzt musste Sean erst mal mitspielen.
»Müsste ich einrichten.«
»Müsste schnell gehen. Ich kann dir ein paar Tipps geben«, sagte Mahir.
»Was, wenn er vorher freigelassen wird?«, versicherte sich Sean. Checkte Mahir ihn jetzt ab? Oder was wurde das hier? »Und der Einsatz ausfällt?«
»Habt ihr eure fünfzig Millionen«, sagte der Libanese. »Leicht verdientes Geld.«
Meinte der das noch immer ernst?
Ein letzter Versuch.
»Was genau werfen sie Turner vor? Ich habe etwas von Kriegsverbrechen gelesen.«
Mahir lächelte maliziös.
»Du meinst wegen deiner Vergangenheit beim Militär?«
Sean antwortete nicht. Natürlich meinte er das.
»Weiß man noch nicht genau«, sagte Mahir. »Der ICC untersucht seit Jahren das Verhalten von US -Verantwortlichen in Afghanistan und europäischen Ländern. Zuerst wegen der Folter unter Dabbelju. Später auch wegen anderer Dinge. Bei Turner können es eigentlich nur die gezielten Tötungen sein, bei denen es viele zivile Opfer gab. Wahrscheinlich werfen sie ihm mangelnde Sorgfalt bei der Vermeidung ziviler Opfer vor. Mit den Folterungen hatte er nichts zu tun.«
»Das wäre dünn«, sagte Sean. »Bei solchen Einsätzen kommt es nun mal zu Opfern. Das sieht sogar das Kriegsrecht ein.«
Mahir zuckte mit den Schultern.
»Sonst weiß ich nichts.«
Sean dachte nach. War so eine Aktion möglich? Wahrscheinlich schon. Nicht einfach, aber möglich. Trotz des American Service-Members’ Protection Act würde niemand ernsthaft mit einer gewalttätigen Befreiung Turners aus den Händen eines eigentlich befreundeten Staates rechnen. Wo würden sie am besten zuschlagen? Noch im Gefängnis in Athen? Auf dem Transfer nach Den Haag? Kaum. Dazu müsste das griechische Gericht sehr schnell urteilen, und Turners Anwälte dürften keinen Einspruch erheben. Oder erst dort? Letzteres schien ihm die unwahrscheinlichste Option. Andererseits hätten sie dafür am meisten Vorbereitungszeit. Mit Medienpräsenz mussten sie überall rechnen. Macht die Sache nicht unkomplizierter. Obwohl, vielleicht versuchten sie, den Transport in aller Heimlichkeit durchzuziehen. Ohne Ankündigung. Oder mit Ablenkungsmanövern.
Nicht ganz wohl war Sean bei dem Gedanken an die Intel. Wer mochte die Quelle sein? CIA , NSA ? Wie konnte er sichergehen, dass er alle notwendigen Informationen bekam? Und dass es die richtigen waren? Auf jeden Fall würde er sich um seine eigene Informationsbeschaffung kümmern müssen.
In seiner aktiven Zeit hatte er Hochrisikooperationen durchgeführt und dafür kaum etwas bezahlt bekommen. Seit er als privater Unternehmer unterwegs war, meinte er das Risiko immer ganz gut abschätzen zu können. Erschien es ihm zu hoch, lehnte er ab.
Dieses Risiko konnte er nicht abschätzen. Es war zu einzigartig. So wie die Bezahlung.
»Haben wir einen Deal?«, fragte Mahir.
Wie bitte?!
»Das muss jemandem wichtig sein«, sagte Sean, um Zeit zu gewinnen.
»Natürlich.«
»Du darfst freihändig zweihundert Millionen vergeben?«
»Du hast es auf den Punkt gebracht, mein Freund«, sagte Mahir mit einem schleimigen Grinsen. »Mehr hätte ich dir nicht geben können.«
Verdammt! Wahrscheinlich hätte Sean das Doppelte herausschlagen können.
Hatten sie einen Deal? Bei so einer Geschichte musste er sein Team fragen. Würde auch nur einer bei mehreren Millionen pro Mann Nein sagen? Egal, worum es ging? Nicht anzunehmen. Und wenn, hatte Sean Ersatz in der Hinterhand.
»Bleibt noch eine ganz wichtige Frage«, sagte er. »Wohin bringen wir Turner, wenn wir ihn haben? Angenommen, die Aktion steigt in Athen: in die US -Botschaft? Souda Bay? Woandershin?«
»Die US -Botschaft bringt nur neue Schwierigkeiten«, sagte Mahir. »Ist zwar unantastbares Areal, liegt aber trotzdem mitten in der Stadt. Nein. Souda Bay ist auch problematisch. Die Navy hat dort zwar ein paar Hundert Personen stationiert, aber es ist kein US -Stützpunkt, sondern einer der NATO . Da das Ganze NATO -intern zu heftigen Konflikten führen wird, ist das politisch zu heikel. Ihr fliegt am besten direkt in die Staaten.«
Sean überlegte kurz, was das bedeutete.
»Das heißt, wir müssten Turner zu einem nahen Flughafen bringen, wo ein Privatjet mit entsprechender Reichweite wartet. Das heißt auch, wir müssen während der Flucht verdammt schnell zu diesem Flughafen kommen und mögliche Startverbote ignorieren oder die Transportmittel wechseln, um unsere Spuren zu verwischen, und quasi anonym oder mit falschen Identitäten in den Flieger kommen.«
»Kein solches Problem an Privatjetterminals.«
»In so einer Situation vielleicht schon.«
»Die griechischen Behörden werden mit beiden Augen wegschauen, da gehe ich jede Wette ein«, sagte Mahir. »Die sind froh, wenn sie den Fall los sind.«
»Ganz schöner Aufwand, ganz schönes Risiko.«
»So viel Geld bekommt man nicht umsonst, mein Freund.«