Dana hatte ihr Essen beendet und den letzten Schluck ihres dritten Glases Sekt ausgetrunken. Den angebotenen zweiten Ouzo hatte sie stehen lassen. Sie spürte die Wirkung des Alkohols inzwischen auch so als angenehme Leichtigkeit hinter ihrer Stirn und in ihrem Nacken. Der Abend war lau, das Geplapper der anderen Gäste um sie herum verbreitete gute Laune, selbst wenn sie weiterhin ab und zu die bekannten Stichwörter hörte. Der Kellner musste ihr leeres Glas gesehen haben.
»Noch eines?«
Die Akropolis hatte Dana inzwischen lange genug angesehen. Sie überlegte, morgen auf den Felsen zu steigen und sie zu besichtigen, falls ihr die Zeit blieb.
»Danke«, sagte sie kopfschüttelnd. »Zahlen bitte.«
Der Mann kam aus dem Nichts. Bevor Dana reagieren konnte, hatte er ihre Handtasche geschnappt, die die ganze Zeit über in ihren Schoß gelegen hatte, den Schulterriemen einmal um ein Stuhlbein gewickelt. Er zerrte so heftig daran, dass der dünne Riemen abriss. Dann war er auch schon davon.
Dana sprang auf, lief hinter ihm her, rief. Die Menschen auf dem Platz sahen sich nach ihr und dem Mann um. Er war viel zu schnell. Dana versuchte es trotzdem. Da rammte ein anderer Mann den Dieb. Der Gauner stürzte, schlitterte über den Boden. Verlor Danas Tasche. Der andere Mann schnappte sie sich. Der Dieb rappelte sich derweil auf. Der Helfer versuchte, ihn festzuhalten, doch der Dieb hieb ihm heftig ins Gesicht. Der andere taumelte. Der Dieb rannte davon und verschwand in den Menschenmassen. Dana eilte zu dem Helfer, der sich Backe und Kinn hielt, in der anderen Hand Danas Tasche.
»Danke«, sagte sie auf Englisch.
»Ist das ihre?«, erwiderte er, ebenfalls auf Englisch.
»Ja.«
Er war etwa in ihrem Alter. Nicht viel größer, athletisch, aber ohne die aufgepumpten Muskeln vieler junger Männer heute. Das dunkelblonde gewellte Haar changierte ins Dunkelbraune, die Sommersonne hatte seine Haut in einem tiefen Bronzebraun getönt, sodass die weißen Zähne noch heller leuchteten, als er Dana aus seinen blauen Augen anstrahlte.
»Tut es sehr weh?«
»Geht so«, sagte er. Dana konnte den Akzent nicht einordnen.
»Nochmals vielen Dank«, sagte sie. »Sie haben mich gerettet. Da habe ich alles drin.«
Er lächelte sie an.
»Gern.«
Inzwischen hatten sich zwei Kellner des Restaurants zu ihnen gesellt.
»Alles in Ordnung?«, fragten sie. Redeten mit dem Mann auf Griechisch. Er nickte, antwortete.
»Kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen?«, fragte Dana. Nestelte in ihrer Tasche herum. Sie hatte nicht viel Bargeld dabei. Der Mann wehrte mit einer Handbewegung ab.
»Keinesfalls«, sagte er.
Einer der Kellner zog wieder ab. Zurück zur Arbeit. Der andere blieb. Hatte er Angst, dass Dana, ohne zu zahlen, abhaute?
»Darf ich Sie zum Dank wenigstens auf ein Glas einladen?«
Der Mann warf einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr.
»Ein Glas«, sagte er. »Danke.« Reichte ihr die Hand. »Alexandros.«
Dana zögerte einen Augenblick.
»Dana«, sagte sie.
Alexandros entpuppte sich als Athener, der drei Jahre in Berlin und zwei in Los Angeles gelebt hatte. Deutsch sprach er radebrechend, doch sein Englisch war ausgezeichnet. Er hatte Dana nicht erkannt, und sie hatte ihm nicht erzählt, wer sie war und was sie nach Athen gebracht hatte. Sie beließ es bei »beruflich«.
Als das Telefon diesmal brummte, sah sie Maria Cruz’ Namen auf dem Display.
»Das muss ich annehmen«, sagte sie zu Alexandros, sprang auf und lief ein paar Schritte auf den Platz hinaus. Sie holte tief Luft, um ihre Stimmung und ihre Stimme nüchtern zu bekommen.
»Dana, bist du noch wach?«, fragte Maria.
»Ja.«
»Gut. Folgendes: Ich habe vor ein paar Minuten erfahren, dass morgen um zehn der erste Termin vor dem Gericht in Athen stattfindet.«
»Jasper hat sich noch nicht bei mir gemeldet«, sagte Dana. Sie ging auf dem Platz auf und ab. Mal den Blick zu Boden, mal auf die Akropolis, mal auf Alexandros gerichtet.
»Das ist der zweite Grund, weshalb ich anrufe«, sagte Maria. »Jasper liegt mit Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus. Seit heute Nachmittag, hier in Den Haag. Deshalb musst du zu dem Termin morgen gehen.«
Mit einem Schlag war Dana nüchtern.
»Muss ich? Wir haben dort keine offizielle Rolle.«
»Sicherheitshalber. Ich möchte jemanden von uns dabeihaben.«
»Ich habe das noch nie gemacht. Kannst du keinen Ersatz schicken?«
»Heute ging kein Flieger mehr. Und morgen früh nicht rechtzeitig.«
Ihr Blick suchte Alexandros, der sie vom Tisch aus mit fragender Miene beobachtete. Sie bedeutete ihm, dass es noch kurz dauern würde.
»Deshalb habe ich dir Unterstützung besorgt«, erklärte Maria. »Vassilios Zanakis ist ein alter Bekannter von mir. Pensionierter Menschenrechtsanwalt, der auch schon mit dem ICC gearbeitet hat.«
»Pensioniert? Ist er up to date? Darf er überhaupt?«
»Ja, er hat nach wie vor seine Lizenz. Außerdem wollte ich ohnehin einen griechischen Juristen mit dabeihaben. Ich habe dir seine Nummer gerade geschickt. Dann könnt ihr alles Weitere besprechen. Du triffst ihn spätestens morgen früh um neun Uhr vor dem Gericht.«
Verwirrt fuhr sich Dana durchs Haar, dachte nach.
»Was muss ich vorbereiten?«
»Dana, du kennst den Fall in- und auswendig, du kennst die Gesetze. Die Bestätigung der Haft sollte reine Routinesache sein, wobei Turners juristisches Team sicher alle Register ziehen wird, um das Gericht zu verunsichern. Aber du bist gut vorbereitet. Und für das griechische Recht hast du Vassilios.«
»Danke für das Vertrauen.«
»Ich hatte übrigens schon ein aufschlussreiches Gespräch mit dem US -Außenminister. Er kündigt diverse Sanktionen an, speziell gegen Mitarbeiter des ICC . Sei also nicht überrascht, wenn da was kommt.«
»Was für Sanktionen?«
»Einfrieren von Vermögenswerten in den US …«
»Habe ich keine.«
»Geschäftsverbot mit Leuten wie uns für Unternehmen et cetera. Hoffen wir, dass die Griechen nicht mitmachen. Ist aber nicht auszuschließen. Falls du noch Fragen haben solltest, ich bin jederzeit erreichbar. Gute Nacht«, sagte Maria und beendete die Verbindung. Das Freizeichen im Ohr, stand Dana da und starrte auf den Burghügel.
Langsam wandte sie sich um und ging zu Alexandros.
»Ich muss zurück ins Hotel«, erklärte sie ihm.
»Was ist geschehen?«, fragte er.
»Beruflich«, sagte sie abwesend. »Dringend.«
»Ich bringe dich hin«, bot er an, während er sich erhob.
»Danke«, sagte sie, »aber ich gehe gern allein.«
»Das kann ich nicht zulass…«
»Das ist nett«, beharrte Dana. Ihr war nicht mehr nach Gesellschaft. Was so nicht ganz stimmte. Alexandros war ein anziehender Kerl. »Ich muss nachdenken«, sagte sie.
»Falls du morgen noch da bist, könnte ich dir die Akropolis zeigen.«
»Kann ich jetzt noch nicht sagen«, meinte sie. »Mal sehen.«
»Ich gebe dir meine Nummer«, schlug er vor, »und wenn du Lust hast, rufst du einfach an.«
Dana musterte ihn. Ein forscher Typ, verlor keine Zeit. Aber warum nicht. Solange er nicht ihre Nummer wollte.
Sie hielt ihr Telefon bereit. Er zögerte kurz, dann diktierte er die Ziffernfolge. Dana tippte sie ein.
»Danke für die Tasche«, sagte sie, »und für die nette Gesellschaft.«
Sie drehte sich um und marschierte los. Versuchte zu hören, ob er ihr folgte. An der Abzweigung in eine der belebten Gassen, die Richtung Hotel führten, wandte sie sich so unauffällig wie möglich um. Alexandros war nicht zu sehen. Sie beschleunigte ihre Schritte und konsultierte die Straßenkarte auf ihrem Telefon, um den schnellsten Weg ins Hotel zu finden.
Gleichzeitig suchte sie Vassilios Zanakis’ Namen online. Jede Menge Einträge. Und mindestens so viele Bilder. Sie zeigten einen Mann mit weißgrauem Bart und kinnlangen weißgrauen Locken, die er nach hinten zu bändigen versuchte. Auf den meisten trug er weite helle Sommeranzüge über einem weißen Hemd und dazu passende Hüte. In einigen thronte auf der markanten Nase eine mächtige Sonnenbrille. Auf manchen hielt er sich dabei noch eine halb gerauchte Zigarre vors Gesicht. Der Typ sollte ihr helfen? Dana hätte ihn für die Rolle eines alternden Dandys besetzt.
Lesen war im Gehen schwierig. Das würde sie in Ruhe auf dem Hotelzimmer machen. Sie suchte Marias Nachricht mit der Telefonnummer. Fand sie. Wählte.
Nach dem zweiten Freizeichen meldete sich eine raue Stimme.
»Zanakis.«
»Dana Marin. Ich habe Ihre Nummer von …«
»Dana!«, rief er. »Meine Heldin des Tages! Wie wunderbar, Ihre Stimme zu hören! Maria hat mir alles erzählt. Lassen Sie uns den Laden morgen rocken!« Er räusperte sich. Etwas beherrschter fuhr er fort: »Jetzt im Ernst. Haben Sie Fragen?«
Tausend, dachte Dana. Aber keine wichtige, wenn sie recht überlegte. Maria hatte recht. Fachlich war sie gut aufgestellt.
»Kennen Sie die Richter?«, fragte sie. Das Menschliche war in einem Prozess mindestens so wichtig wie das Gesetz.
»Ja«, sagte Vassilios. Es klang, als setze er etwas vom Mund ab, ein Glas oder eine Zigarre. »Ordentliche Juristen, keine Fähnchen im Wind. Der Vorsitzende ist vielleicht etwas eigenwillig, aber das kann uns sogar helfen.«
Oder schaden.
»Was muss ich vorbereiten?«
»Ich wette, ihr seid das in Den Haag Hunderte Male durchgegangen: die vier Punkte, die das Gericht morgen bestätigen muss, damit Turner nach Den Haag überstellt wird; alle Argumente dafür und dagegen, so absurd sie auch sein mögen.«
Das waren sie allerdings.
»Für die Feinheiten des griechischen Rechts bin ich ja da. Aber wir hoffen, dass das gar nicht notwendig sein wird, sondern wir eine rasche Bestätigung der Haft bekommen. Je schneller das Gericht die Sache los ist, desto besser für Griechenland. Wobei ich nicht erwarte, dass Turner morgen mit einem armen Pflichtverteidiger auftauchen wird. Vermutlich ist bereits ein Jet voll mit US -Spezialisten irgendwo über dem Atlantik unterwegs. Sehen Sie sich also alles sicherheitshalber noch einmal an. Und ansonsten versuchen Sie zu schlafen. Wir brauchen Sie morgen frisch und munter!«
Nach einem Martini und gemeinsam vier Flaschen Wein war die Welt leichter. Steve wusste nicht genau, wie spät es war. Sogar Turner war irgendwann aus Amelies, Catherines und Pauls Diskussion verschwunden.
»Was schenken wir denn nun Karin und Tobias zu Felicitas’ Geburt?«, fragte Amelie.
»Ein Lätzchen oder Handtuch mit Felicitas’ Namen drauf«, sagte Cath. »Ich weiß da einen süßen Laden, wie heißt der …?«
Sie holte ihr Telefon hervor. Zum ersten Mal während des Abendessens.
»Wie ist das denn mit euch beiden und Kindern?«, fragte Paul jovial. Ganz nüchtern war er nicht mehr.
»Ja, wie ist das?«, fragte Cath, hob den Blick und lächelte Steve an.
Ja, wie war das?
»Und bei euch?«, fragte Steve zurück.
»Wir arbeiten daran«, sagte Paul mit einem Grinsen. »Was, Schatz?«
»Paul, bitte«, sagte Amelie.
»Ich hab’s«, rief Cath. »Hier.«
Sie zeigte Musterbeispiele individualisierter Babyartikel.
»Süß!«, stimmte Amelie zu.
»Dann bestelle ich eines.«
»Was Neues von Turner?«, frage Paul.
Cath wischte ein paarmal über ihr Display.
»Mal sehen …«
»Endgültig das Ende des US -amerikanischen Jahrhunderts«, konstatierte Paul, die Sprache nicht mehr ganz flüssig.
»Allein der Umstand, dass die das getan haben.«
Jetzt holte auch Steve sein Telefon hervor. Nix von Ann oder Frank. Mistkerle!
»Noch immer nicht wieder draußen«, stellte Cath fest. »Die werden den doch nicht im Ernst über Nacht drinbehalten?«
Wenn sie ihn schon mal drinhatten.
»Darum geht es doch ab jetzt in der Sache«, sagte Steve.
»Die einen wollen ihn drinbehalten.« Ein Schluck Wein. »Die anderen wollen ihn rausbekommen.«
»Was sollen die Griechen auch anderes machen?«, sagte Paul. »Die haben gerade gar keine andere Wahl. Irgendein durchgeknallter Staatsanwalt oder Minister hat die Sache durchgewunken. Und jetzt müssen seine Landsleute und Mitpolitiker und Mitjuristen ihr Gesicht wahren. Während ihnen die USA Daumenschrauben anlegen. Und in den Hintern treten. Und vermutlich die versammelten EU -Staatschefs ihnen erste Messer in den Rücken stechen.«
»Dein Tipp?«, fragte Amelie Steve. »Wie brutal wird das?«
»Brutaler«, sagte Steve.
Sein Telefon leuchtete.
Ann.
Das Brennen in seinem Magen kam nicht vom Alkohol.
Sorry, dass ich mich so spät melde! Kein Durchkommen in DH. Was Wunder! A sagt auch sorry! Aber: Bleib ruhig! Du bist sicher! Für den Fall der Fälle hast du dein Telefon.
Du bist sicher!
Für den Fall der Fälle.
Was denn nun?!!!
Paul und Amelie merkten es nicht. Cath schon. Wie er den Wein mit einem Nackenknick wegkippte.
»Alles in Ordnung, Steve?«
In gewisser Weise, ja. Bloß dass er dabei draufgehen konnte.
»Wie sieht es aus?«, rief er mit betonter Fröhlichkeit. »Noch einen Grappa als Absacker? Und dann lassen wir euch weiter an einem Kind arbeiten.«