Du bist eine Schande für uns alle!
Dana sollte sich noch einmal in den Fall vertiefen. Die Details der griechischen Gerichtsbarkeit und Zuständigkeiten in der Sache studieren. Und schlafen, damit sie morgen fit war.
Stattdessen konnte sie nur auf die Nachricht ihres Vaters starren.
Sie sah ihn vor sich. Der Tag, an dem sie ihr Abizeugnis bekommen hatte. Ganz hinten hatte er gesessen, in seinem besten Anzug. Der schäbiger war als die einfachsten, oft schlampigen und stillosen Freizeitklamotten, die manche Eltern ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler zu dem Anlass getragen hatten. Geschämt hatte er sich dafür. Dafür, nach zehn Jahren in diesem Land immer noch abgelehnt zu werden. Trotz aller Anstrengungen. Allen Bemühens. All die Jobs weit unter seiner Qualifikation als Lehrer. All das Anpassen, Buckeln, Dienern, Lächeln. Das Gefühl, nicht hineinzupassen. Nur ganz dünn hatte durch diese dicke Schicht der Trauer und der Demütigungen etwas geschimmert wie … ja was? Am ehesten Staunen. Dana hatte alles wettgemacht, was ihm hier versagt geblieben war. Irgendwann hatte er doch ein wenig gelächelt, später, beim Essen. Ihr auf die Schulter geklopft, sie umarmt und ihr ein teures Halstuch geschenkt. Um bald darauf wieder in seiner Schwermut zu versinken.
Neben ihm Danas Mutter. Sie hatte sich nicht geschämt. Sie hatte vor Stolz und Freude geglüht! Ihre Tochter! Einser-Abi! Jetzt schon Zusagen der Unis ihrer Wahl, Stipendien. Dana hatte Glück im Unglück gehabt. Einzelkind. Die meisten ihrer bosnischen Freundinnen in Deutschland hatten nach dem Pflichtschulende zu arbeiten begonnen, um ihre Eltern und jüngeren Geschwister finanziell zu unterstützen.
Dana wechselte zu der Nachricht ihrer Mutter. Musste lächeln beim Anblick der Emojis. Wow! Und Staunen. Das war Mama: immer erstaunt, immer neugierig. Immer ein wenig besorgt, aber noch mutiger, jede Sache anzupacken.
Dana konnte nicht anders. Es zog sie zurück zu dem anderen Text. Der ihr Herz zerschnitt und zerriss und zerdrückte.
Du bist eine Schande!
So konnte sie nicht schlafen gehen.
Sie begann zu tippen.
Lieber Papa, es tut mir leid, dass du das so siehst. Ich weiß, was die Amerikaner und andere damals für uns getan haben. Es war eine andere Zeit. Ein anderer Präsident. Erinnerst du dich, als du nach dem Krieg immer wieder beklagt hast, dass es keine Gerechtigkeit gebe? Vielleicht gab es für dich tatsächlich keine. Womöglich wird es für andere eine geben. Sei tausendmal umarmt!