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Vor dem Gericht drängten sich die Journalisten. Alle wollten ein Bild mit dem Gebäude im Hintergrund. Für den Augenblick, in dem die Vertreter des Ex-US -Präsidenten im Ausgang auftauchen würden. Oder jene des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft. Oder des Internationalen Gerichtshofs. Bislang gab es nur eine dürre Pressemeldung des Gerichts.

»Nicht einmal die Mitglieder des Gerichts sind bekannt«, berichtete eine Reporterin empört. Sie musste anschreien gegen das Tosen der Demonstrierenden, das man im Hintergrund vernahm.

»Gerüchteweise hat die US -amerikanische Regierung einen ganzen Beratertross nach Athen entsandt, der die Geschichte so schnell wie möglich einem Ende zuführen soll«, ein anderer. »Wer diesem Team angehört, so es tatsächlich existiert, wurde nicht mitgeteilt.«

»Unbestätigten Meldungen zufolge soll jene Frau, die gestern bei der Verhaftung von Douglas Turner als Vertreterin des International Criminal Court anwesend war, sich für allfällige Konsultationen weiterhin in Athen aufhalten.«

»Währenddessen protestieren über fünfhundert Menschen vor dem Gericht. Die einen für eine Freilassung von Douglas Turner, die anderen dagegen. Die Polizeikräfte wurden im Lauf des Vormittags so weit aufgestockt, dass sie die Parteien voneinander getrennt halten können.«

Ein Schwenk über die Menschenmassen mit ihren Transparenten, Postern und Flaggen. Auf der einen Seite viel Rot-Weiß-Blau. Die andere Seite bunt. Dazwischen eine zehn Meter breite Freifläche, zu beiden Seiten flankiert von mobilen Metallabsperrungen und Dutzenden Polizisten mit Visierhelmen, Schildern und Knüppeln.

Einer der Demonstrantinnen wurde ein Mikrofon unter die Nase gehalten. Die Kamera so nah, dass Sean nicht erkennen konnte, zu welcher Seite sie gehörte. Sie saßen in einer großzügigen Lounge der Villa vor einem kinogroßen Fernseher.

»Was halten Sie von der Entscheidung des Gerichts?«

»Ich bin froh, dass es so geurteilt hat. Alles andere wäre Wahnsinn gewesen!«

Schnitt zu einem Mann. Auch bei ihm war unklar, von welcher Fraktion. Sein Kopf wirkte gerötet, ob vom Vormittag in der Sonne, vor Aufregung oder von ungünstigen Lichtverhältnissen.

»Eine Frechheit! Ist dieses Gericht verrückt geworden? Man kann nur hoffen, dass gegen diese Entscheidung so schnell wie möglich Berufung eingelegt wird!«

»So weit erste Stimmen aus der Bevölkerung«, erklärte eine Journalistin der Kamera. »Vom Gericht hat sich niemand persönlich in der Öffentlichkeit geäußert. Die Entscheidung wurde vor wenigen Minuten durch eine Pressemeldung bekannt gegeben.« Sie wedelte mit einem Papier vor der Linse. »Details sollen folgen. Wir warten auf das Erscheinen oder Stellungnahmen der jeweiligen Parteien in dem Verfahren. Noch gibt es weder eine Reaktion von amerikanischer Seite oder dem griechischen Staatsanwalt, der in der Causa zuständig ist. Auch der ICC hat sich nicht geäußert.«

»Das Gericht hat entschieden«, erklärte der vorsitzende Richter. »Punkt eins: Der Verhaftete ist die im Haftbefehl bezeichnete Person. Punkt zwei: Das gesetzlich vorgesehene Prozedere für die Verhaftung wurde eingehalten. Diese Punkte sind erfüllt. Punkt vier.«

Warum Punkt vier? Was war mit Punkt drei? Dana stöhnte innerlich auf. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken. Aus den Augenwinkeln schielte sie zur amerikanischen Seite. Versteinerte Mienen. Nein, da und dort verzogen sich nun Augenbrauen oder Mundwinkel.

»Vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und Mord stehen auf der Liste von Kriegsverbrechen im Rom-Statut. Aber die Verteidigung hat schwere Bedenken angebracht, die das Gericht nicht ignorieren kann. Es ist in aller Interesse, dass diese Angelegenheit so rasch wie möglich entschieden wird. Daher ersucht das Gericht den Internationalen Strafgerichtshof um Übermittlung zusätzlicher Informationen, worum es bei den dem Verhafteten vorgeworfenen Verbrechen genau geht, und Beweise, die diese untermauern.«

Dana benötigte einen Wimpernschlag, um zu begreifen, was das bedeuten konnte: Wenn sie Informationen liefern sollten, musste Turner doch noch so lange in Haft bleiben? Oder verstand sie da etwas falsch?

Michelakis sah auf. Zuerst zu Stouvratos, dann zu Turner.

»Punkt drei.«

Die Ziffer betonte er besonders.

»Wurden die Rechte des Verhafteten gewahrt? Was die Punkte ›Übersetzer‹ und ›Rechtsvertretung‹ angeht, wurden sie das. Für das Gericht besteht jedoch keine Klarheit über die Verhaftungsgrundlagen. Der Verhaftete erhielt daher nicht ausreichend Informationen, um vor diesem Gericht die Zuständigkeit des ICC anfechten zu können. Das Gericht nimmt hier die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit von weiteren Konsultationen in Anspruch. Es erwartet von der Vertretung des Verhafteten Unterlagen, welche die vorgebrachten Argumente stützen. Der ICC wird eine Gelegenheit bekommen, diese zu kommentieren. Für den ersten Schritt durch die Vertretung des Verhafteten gewährt das Gericht maximal drei Tage. Für den zweiten Schritt durch den ICC einen Kalendertag. Sollte die Vertretung des Angeklagten früher liefern, wird der ICC verständigt und muss im angegebenen Zeitraum reagieren. Das Gericht wird anschließend entscheiden. Dafür hat es maximal fünfzehn Tage Zeit. Ab heute.«

Noch einmal blickte er zu Turner.

»Bis zur endgültigen Entscheidung des Gerichts bleibt Herr Turner in Haft.«

Am liebsten wäre Dana aufgesprungen und hätte gejubelt. Hätte den alten Vassilios neben sich umarmt, wäre mit ihm auf und ab gehüpft. Hätte die Fäuste triumphierend hochgereckt, den Kopf in den Nacken gelegt und laut »Jaaa-haaa!« gerufen.

Im selben Moment war ihr klar, dass die Richter eine ohnehin schon dramatische Situation um gleich ein paar Stufen weiter eskaliert hatten. Diese Entscheidung würden sich die Amerikaner nicht gefallen lassen. Durften sie sich nicht gefallen lassen. Sie mussten reagieren. Und sie würden es mit Härte tun, davon war Dana überzeugt.

Nicht hier und jetzt in diesem Gerichtssaal. Doch bei allem, was noch folgen würde.

Vassilios neben ihr stieß sie sacht mit dem Ellenbogen an. Dana blieb reglos. Beobachtete die Richter hinter ihrem Tischpult.

So eine Entscheidung machst du dir nicht einfach. Sie fragte sich, ob die drei ihren Entschluss einstimmig gefällt hatten. Ob eine oder zwei Zweifel geäußert hatten.

Die Amerikaner waren im ersten Augenblick so ruhig geblieben wie während der vorigen Erklärungen. War es fassungslose Ungläubigkeit? Dass es tatsächlich jemand wagte? Überraschung? Oder gar Schock? Nicht einmal ein Lidschlag bei Douglas Turner. Dana hatte aber auch keine der gern für solche Situationen beschriebenen Reaktionen beobachtet – weder wich ihm alles Blut aus dem Gesicht, noch sackte er zusammen oder Ähnliches. Fast war es, als hätte der Richter gar nichts gesagt, und die Zeit wäre einfach nur eingefroren. Niemand da drüben bewegte sich für ein paar sehr lange Sekunden.

Dann beugte sich Ephramidis zu den Amerikanern in der ersten Bank und flüsterte mit ihnen. Keine Minute später stand er auf und wandte sich an das Gericht.

»Euer Ehren«, sagte er. »Die geforderten Unterlagen werden dem Gericht noch heute übermittelt. Wir beantragen einen Termin gleich morgen früh, um die Sache zu beenden.«

»Das ist knapp«, flüsterte Dana Vassilios zu, während die Richter leise miteinander beratschlagten.

»Auch das Gericht will die Sache möglichst schnell vom Tisch haben«, erwiderte Vassilios ebenso leise. »Müssen sich nur alle freischaufeln, sollten sie andere Termine haben. Wie sieht es bei euch aus?«

Der Vorsitzende winkte den Staatsanwalt zu sich. Tauschte sich auch mit ihm kurz aus, während Dana Vassilios antwortete: »Das muss ich mit Maria klären.«

»Mein dringender Rat: Schafft es auch bis morgen!«, flüsterte Vassilios. »Schon wegen des politischen Drucks. Jeder Tag Verzögerung verschafft den Amerikanern mehr Möglichkeiten, Turner auf anderem Weg herauszubekommen.«

Der Staatsanwalt war zu ihnen getreten. Fragte: »Bekommen wir diese Unterlagen auch bis morgen?«

Dana wechselte einen Blick mit Vassilios. Sie konnte das nicht entscheiden.

»Dazu muss ich erst mit Den Haag sprechen«, sagte sie.

Der Staatsanwalt kehrte zurück an den Richtertisch. Schließlich wandte sich Michelakis an alle im Raum.

»Der Zeitpunkt des nächsten Termins wird bekannt gegeben, sobald das Gericht erfährt, wann es die Unterlagen des ICC erhält.«

Auf amerikanischer Seite blickte Dana in empörte Gesichter. Nur Derek Endvor schien die mögliche Verzögerung nicht zu berühren. Der Richter sagte etwas in ein Interkom auf seinem Tisch, das Dana bis dahin nicht aufgefallen war. Gleich darauf erschienen in der Tür hinter der Anklagebank die Polizisten. Und forderten Turner auf, mit ihnen zu kommen.

Dana erwartete Proteste, gar Widerstand.

Nichts.

Turner folgte den Männern aus dem Saal. Die Tür schloss sich.

Als wäre nichts geschehen, sammelten Ephramidis und die Amerikaner ihre Unterlagen zusammen.

Richterin und Richter standen auf und schickten sich an, den Raum zu verlassen. Sofort erhoben sich die übrigen Anwesenden.

Und dann war der Termin vorbei.

»Selbstverständlich gehen wir vorn raus«, sagte Ronald Voight.

Für den Moment hatte Derek ihm die Regie überlassen. Er war der Kommunikationsexperte. Und sie hatten etwas mitzuteilen.

»Soll heißen, Inoffizielle wie wir halten sich von Kameras und Mikrofonen fern. Herr Ephramidis stellt sich den Kameras. Er ist Douglas Turners Vertreter vor Gericht in Griechenland. Und Jeremy als offizieller Vertreter der USA

Ephramidis warf sich in die Brust. »Ich werde …«

»… das sagen, was wir jetzt besprechen«, unterbrach ihn Ronald. »Die ganze Welt hört uns zu. Und sie wird sehr genau zuhören. Das Gericht mit seiner Blitzpressemeldung hat überraschend professionell agiert. Es hat damit den Rahmen gesetzt für jede Botschaft, die wir, die Staatsanwaltschaft oder der ICC aussenden.«

»Die haben uns die Message Control aus der Hand genommen«, brummte Trevor.

»Deshalb werden wir uns einen Teil davon zurückholen«, erwiderte Ronald gelassen. »Vor allem aber müssen wir ein paar Punkte klar und deutlich rüberbringen. Wir haben da draußen einen Haufen verschiedener Ohren, die wir erreichen müssen: Politiker in Griechenland und Europa. Die Richterin und die Richter.«

»Nennen wir ihre Namen?«, fragte Ephramidis. »Sie haben es ja noch nicht öffentlich gemacht.«

»Vorläufig nicht«, sagte Ronald, »und schon gar nicht auf diesem direkten Weg und bei dieser Gelegenheit. Dann wären da noch die Zuständigen beim ICC . Und natürlich die üblichen Zeugen, Whistleblower und andere. Für alle gibt es verschiedene Botschaften. Die teilen wir folgendermaßen zwischen ihnen beiden auf.«

»Sagen wir da draußen etwas?«, fragte Vassilios.

Durch die riesigen Glasfenster der Gerichtsfassade hatte Dana einen fantastischen Überblick. Im Vordergrund wuselten zwischen den Übertragungswagen Journalisten, Kameraleute, Techniker herum. Hinter den Absperrungen füllten Demonstrierende und Schaulustige den Boulevard mittlerweile so weit, wie Dana sehen konnte. Sie ließ das Telefon sinken, mit dem sie Maria über die aktuelle Entwicklung informiert hatte.

»Den Haag verschickt etwas«, sagte sie. Vassilios wirkte enttäuscht. Sie konnte sich vorstellen, dass er ganz gern vor Kameras auftauchte. Das zeigten schon die zahlreichen Bilder, die sie online von ihm gefunden hatte. Ob die Nachrichten, die er zu verkünden hatte, gut oder schlecht waren, spielte dabei eine zweitrangige Rolle. »Kommen wir so heraus, wie wir hereingekommen sind?«