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Ein drittes Auge. Wünschte sich Steve. Im Hinterkopf.

Ein Chamäleon müsste man sein. Das seine Augen in alle Richtungen drehen konnte. Und sich der Umwelt so sehr anpassen, dass man es nicht mehr sah.

Aber als Mensch … Als er das Gebäude verließ, in dem die Agentur die dritte Etage einnahm, blickte er nach links und dann nach rechts. Wie man das so tut, wenn man aus einem Haus geht.

Wüsste er wenigstens, wonach er Ausschau hielt. Männer in schwarzen Anzügen mit dunklen Sonnenbrillen in finsteren Limousinen oder SUV s verfolgten einen sicher nur in Filmen. Er versuchte, sich alle Autos zu merken, die in Sichtweite geparkt standen. Alle Menschen, die sich da bewegten. Oder standen. Oder vielleicht hinter einem Hauseingang hervorlugten? In dem Straßengarten des Restaurants dort vorn saßen?

Langsam schloss er sein Fahrrad von dem Verkehrsschild los. Scannte dabei die Umgebung weiter aus den Augenwinkeln.

Dann fuhr er los.

Schulterblick.

Am Himmel hingen graue Wolken. Vielleicht würde es regnen. Der Wetterbericht war nicht eindeutig. Vor ihm radelte eine Frau auf einem Citybike. In einigem Abstand hinter ihm waren ebenfalls mehrere Radfahrer. Er zweigte nach rechts ab.

Schulterblick. Noch jemand? Drei Autos. Keine schwarzen Limousinen oder SUV s. Hieß nichts. Dazwischen ein Motorradfahrer. Grauer Helm. Zwei Radfahrer.

Gestern hätte er fast einen Fußgänger gerammt, der überraschend zwischen zwei Autos auf die Straße getreten war.

Vielleicht sollte er sich einen Rückspiegel für seinen Lenker anschaffen. Lächerlich. Und zu auffällig.

Er ärgerte sich vor allem über sich selbst. Dieses permanente Gefühl der Bedrohung. Einer möglichen Bedrohung. Eigentlich war sein größter Feind gerade seine eigene Angst.

Angst war vielleicht übertrieben. Sorge. Er wusste nicht einmal genau, wovor.

Dass sie ihn identifiziert hatten? Und fanden? Und was würden sie dann tun? Ihn den Medien zum Fraß vorwerfen? Ihn verhaften wollen? Entführen? Alles schon vorgekommen. Ihn verschwinden lassen?

Er bog nach links ab. Wenn ihm jemand folgte, musste er sich fragen, wohin Steve wollte.

Schulterblick. Die Autos von vorhin waren verschwunden. Musste nichts bedeuten. Falls es mehrere gab, konnten sie sich abwechseln. Damit sie nicht so auffielen. Nur eine der Radfahrerinnen war noch da. Er erkannte nicht mehr als ein normales Citybike, auf dem eine Frau undefinierbaren Alters – zu weit weg – sehr aufrecht saß. Ein schwarzer Drahtkorb hing vor dem Lenker. Ein grünblauer Fahrradhelm, wenn er das in der Schnelligkeit richtig erkannt hatte. Immerhin hielt sie Steves Tempo. Vielleicht ein E-Bike.

Steve nahm die nächste Gasse rechts. Trat in die Pedale.

Schulterblick.

Die Frau radelte geradeaus.

Auch sonst folgte niemand.

Wieder falscher Alarm.

Sollte er jetzt mit einem permanenten Schulterblick leben?

Er nahm die nächste links, zurück auf seine ursprüngliche Route.

Reflexartig wieder ein Schulterblick. Er sollte das einfach lassen.

War so ein Wagentyp nicht in der vorletzten Straße hinter ihm gewesen?

Also an der nächsten Kreuzung noch einmal links. Und gleich die nächste rechts.

Das Auto war weg.

Er durfte sich echt nicht verrückt machen!

Etwas lockerer radelte er weiter. Zwang sich, nicht zurückzublicken.

Tat es dann doch.

Da war ein Motorradfahrer mit grauem Helm.

So einen hatte er doch vor ein paar Minuten schon einmal gesehen! Da war er zwischen den Autos gefahren. Das Motorrad hatte Steve dabei nicht erkannt. Noch ein Schulterblick. So leise, das Ding. Elektro?

Abbiegen.

Der graue Helm folgte ihm.

Noch einmal abbiegen.

Der graue Helm blieb hinter Steve.

Steve spürte die Hitze in seinen Kopf steigen.

Er bog wieder ab. Falls das tatsächlich Verfolger waren, musste ihnen Steves absurde Route zeigen, dass er Verdacht schöpfte.

Dann konnten sie ihr Spiel mit verschiedenen Verfolgern fortsetzen – wenn es die denn gab.

Oder die Karten auf den Tisch legen.

Falls es tatsächlich Verfolger waren.

Also. Karten auf den Tisch. Steve bog ab und strampelte los.

Auf halber Strecke zur nächsten Kreuzung blickte er über die Schulter.

Der graue Helm war verschwunden.

Nur eine einsame Fahrradfahrerin auf einem Citybike folgte ihm. Sehr aufrecht. Mit einem schwarzen Drahtkorb vor dem Lenker. Einem blaugrünen Fahrradhelm auf dem Kopf. Ungewöhnlich schnell für ein Citybike. Vielleicht ein E-Bike.

Fuck!

Steve richtete den Blick auf die Straße. Er drosselte das Tempo. Hier konnte er niemanden abschütteln. Mit einem Mal nahm er die Welt um sich herum viel klarer wahr. Bis er verstand, dass sie nicht schärfer geworden war. Er hatte sie während der vergangenen Minuten, vielleicht während der vergangenen Stunden bloß wie durch einen Nebel wahrgenommen. Seit der Nachricht von Douglas Turners Verhaftung.

Auch seine Gedanken wurden klarer. Immerhin wusste er jetzt, woran er war. In moderater Geschwindigkeit fuhr er weiter. Überlegte. Den Schulterblick brauchte er nicht mehr.

Da vorn war eine Kneipe. Steve hielt, band sein Rad an ein nahes Verkehrsschild. Betrat die Kneipe. Der Laden war schon gut besucht. Hauptsächlich Leute seines Alters. Bier, Softdrinks, erste Cocktails auf den Tischen. Helle Holzmöbel, stylisches Zeug. Trotzdem fand er einen Platz am Fenster.

Setzte sich. Inspizierte die Straße.

Entdeckte schließlich den grauen Motorradhelm. Weit hinten, zwischen zwei geparkten Fahrzeugen auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Er bestellte einen Wodka. Den brauchte er jetzt. Nur einen. Er musste einen einigermaßen klaren Kopf behalten.

Wie hatten sie ihn gefunden?

Für US -Geheimdienste war das wahrscheinlich kein Kunststück. Steve besaß zwei Kreditkarten. Eine Bankkarte. Ein Mobiltelefon. Lebte und arbeitete unter seinem offiziellen Namen. Das deutsche Meldegesetz verpflichtete jeden Bewohner, sich an seinem Wohnort zu registrieren. Nicht unwahrscheinlich, dass die Geheimdienste sich das ebenfalls ansahen.

Glühend heiß fiel Steve sein Telefon ein.

Mit spitzen Fingern holte er es hervor.

Hatten sie ihn etwa schon gehackt und konnten damit all seine Bewegungen verfolgen?

Aber warum sollten sie dann gleich mehrere Menschen persönlich hinter ihm herschicken?

Doch wenn sie es noch nicht infiltriert hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis es so weit war.

Er öffnete Franks Nachricht.

Sorry, dass ich mich so spät melde! Kein Durchkommen in DH. Was Wunder! A sagt auch sorry! Aber: Bleib ruhig! Du bist sicher! Für den Fall der Fälle hast du das Telefon.

Das altmodische Telefon. Wie lange hatte er nicht daran gedacht. Seit er mit Catherine zusammengezogen war? Eineinhalb Jahre?

Keiner der Verfolger war in das Lokal gekommen.

Jemand war also hinter ihm her. Verdächtigten sie ihn nur? Oder wussten sie, was er getan hatte? Aber warum sollten sie dann warten? Und ihn bloß beschatten statt verhaften? Vielleicht hatte Frank recht. Erst einmal unauffällig verhalten.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass er bei seinen seinerzeitigen Vorkehrungen einen großen Fehler begangen hatte. Oder nachlässig geworden war. Wohl in der insgeheimen Hoffnung, sie nie in Anspruch nehmen zu müssen.

Er konnte gar nicht sofort untertauchen.

Er zahlte und verließ das Lokal.