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»Jetzt noch den Niketempel, dann haben wir’s«, sagte Alex gut gelaunt. »Komm!«, rief er und streckte Dana die Hand entgegen. Sie spürte die Hitze und die Müdigkeit nach dem Stress der vergangenen vierundzwanzig Stunden. Sie griff zu und ließ sich von ihm über ein großes Ruinenstück helfen. Er zog sie weiter, und sie ließ es zu. Seine Energie verlieh ihr ein wenig Schwung. Er hatte einen festen und doch angenehmen Griff, trotz der Temperaturen war seine Hand trocken, und auf seinem T-Shirt zeichneten sich kaum Schweißflecken ab.

Seit mehr als einer Stunde spazierten sie über den Festungsberg. Alex erwies sich als ausgezeichneter Fremdenführer.

»Ich habe das früher öfter für einen Freund meiner Eltern gemacht«, erklärte er. »Außerdem hat mich das antike Athen immer fasziniert.«

Er erzählte kurze, unterhaltsame Anekdoten zu den verschiedenen Tempeln und Bauten, zu ihrer Geschichte unter den Osmanen; als der Parthenon zur Moschee mit Minarett umgebaut oder das mittlerweile zur Kirche gewordene Erechtheion zum Harem umfunktioniert worden war. Dazwischen genoss sie die Blicke über die Stadt, die sie von dem Felsen aus hatten. Bis zum Meer. In der diesigen Luft ging sein Blau horizontlos direkt in den Himmel über.

Der Niketempel stand am Rand des weitläufigen Geländes, weshalb sie ihn zuletzt besuchten. Den kleinen Tempel konnten sie nur aus einigem Abstand sehen. Sie blieben stehen, und Alex ließ ihre Hand wieder los. Ein bisschen atemlos und erhitzt betrachtete Dana das kleine Gebäude mit den hübschen Proportionen.

»Ich mag den fast am liebsten«, sagte Alex.

Auch Dana gefiel er am besten von all den eindrucksvollen Bauten, die sie hier oben gesehen hatte.

Alex erzählte knapp von der wechselvollen Geschichte des Kleinods, dann rief er: »Jetzt haben wir eine Abkühlung verdient!«

Wieder fasste er ihre Hand und zog sie mit sich. Seine Berührung hatte etwas Selbstverständliches, deshalb ließ sie ihn gewähren. Am Ausgang wandten sie sich um und bewunderten ein letztes Mal das Panorama.

Rasch spazierten sie den Burgberg hinab. Nach etwa zwei Drittel des Weges bog Alex vom Hauptweg ab. Diesen Pfad nahm kaum jemand.

»Wohin gehen wir?«

»Weg von den Touristentrampelpfaden.«

In einer Taverne unterhalb der Mauern fanden sie ein schattiges Plätzchen im Garten. Eine Schilfmatte auf einem Metallgerüst spendete notdürftig Schatten. Darunter standen sechs grobe Holztische mit je vier Stühlen. Vier davon waren besetzt. Die meisten Gäste sahen wie Einheimische aus, die sich nach der Arbeit ein Glas Wein am Spätnachmittag gönnten. Alex bestellte für sie beide.

Erst als Dana in einem Gespräch am Nachbartisch das Wort Turner hörte, wurde ihr bewusst, dass sie fast zwei Stunden lang nicht an den Grund ihres Aufenthalts in der Stadt gedacht hatte.

Dankbar lächelte sie Alex an.

»Was?«

»Nichts.«

Die Kellnerin brachte ihre Getränke. Einen großen Krug Wasser, zwei kleine Gläser mit Wein.

»Danke«, sagte Dana zu Alex, als er Wasser einschenkte. »Das war ein sehr netter Nachmittag.«

»Gern geschehen.«

Sie schnappte ihr Telefon und schoss ein paar Bilder. Sonnenstrahlen, dünn wie Fäden, die durch die Schilfmatte stachen. Trinkende Griechen an den Nachbartischen. Einen lachenden Alex.

Kurz flippte sie durch die Fotos der vergangenen Stunden. Von der Akropolis hatte sie auf jeden Fall genug Bilder.

Noch immer wurde ihr Telefon auf allen Kanälen von Nachrichten geflutet.

»Entschuldige kurz«, sagte sie zu Alex. Sie hielt nur nach den wichtigsten Absendern Ausschau. Eine der jüngsten Nachrichten kam von Vassilios.

Schon gelesen? Freundschaft!

Dazu ein Smiley und ein Dutzend Links. Dana sah Alex um Verzeihung bittend an, nahm das Weinglas. Prostete ihm zu.

»Ich muss das nur kurz lesen, dann bin ich wieder bei dir.«

Dana tippte den ersten Link an.

Ein Blog, den Dana nicht kannte, präsentierte eine fette Überschrift:

Das kommunistische Gericht!

Darunter war das Bild einer Demonstration zu sehen. Es musste ein paar Jahre alt sein. Ein wenig unscharf, die Farben etwas verblasst. Plakate und Transparente. Viele junge Menschen. Solche Klamotten hatte man vor zehn Jahren getragen.

Hoch die internationale Solidarität!

Nieder mit dem Kapitalismus!

Stopp US-Imperialismus!

ANTIFA!

Peace!

Stop Racism!

Unser Klima ist unsere Zukunft!

Himmel, wofür oder wogegen hatten denn die demonstriert? Alles auf einmal? Gleichzeitig kam ihr die Szene verdammt vertraut vor.

Ein roter Kreis um ein Gesicht in der Menge. Direkt neben »Stopp US -Imperialismus!«. Der Kreis zeigte eine junge Frau mit langen braunen Haaren, die von einem breiten Band zurückgehalten wurden. Sonst sah man nicht viel, ein bisschen was von einer grünen Schulter.

Ein Parka. Die Erinnerungen kamen wieder hoch. Über dem T-Shirt hatte Dana einen Parka getragen. Ein grauer Herbsttag in Berlin. Elf Jahre war das her. Millionen waren weltweit auf die Straßen gegangen. Vorwiegend Schülerinnen, Schüler, Studierende, aber nicht nur. In erster Linie war es um die Folgen der Wirtschaftskrise von 2008/9 und das Klima gegangen. Weniger Brutalität gegen Staaten wie Griechenland. Ironie der Geschichte, dass sie nun hier saß. Drei Stunden waren sie durch die Stadt gezogen. Zwei weitere hatten sie vor dem Brandenburger Tor ausgeharrt, bei Reden und Musik. Danach Party.

»Dana Marin, heute jene inzwischen weltbekannte ICC -Mitarbeiterin, die Ex-US -Präsident Douglas Turner verhaften ließ, als Studentin auf einer antiamerikanischen Demonstration in Berlin«, erklärte die Bildunterschrift.

»Diese Saukerle«, zischte Dana. »Das war eine Klimademo!«

»Was?«, fragte Alex.

Erschrocken blickte Dana hoch.

»Nichts.«

Denn Artikel dazu wollte sie gar nicht lesen. Konnte dann aber doch nicht widerstehen.

Schon in jungen Jahren war Dana Marin offensichtlich eine Anhängerin extremistischer Ansichten. Wie diese Aufnahme zeigt, engagierte sie sich als Studentin in Agitationen für kommunistische und antiamerikanische Ideen. Bekannte von damals bezeichnen sie als »sehr engagiert, sehr emotional, kompromisslos«.

»Dana war Hardcore-Antiamerika«, erklärt ihre Studienkollegin M. B. (Name dem Verfasser bekannt), »wir nannten sie die Rote Bery.«

Wie bitte?! Was für ein Müll war denn das? Niemals hatte Dana sich auch nur in die Nähe des kommunistischen Engagements bewegt. Noch war sie grundsätzlich gegen die Vereinigten Staaten eingestellt. Sie hatte sogar zwei Jahre dort studiert und gelebt. Und war mindestens ein Dutzend Mal dorthin gereist. Davon stand in dem Artikel jedoch kein Wort, stellte sie beim Weiterlesen fest. Bloß ein paar weitere erfundene Zitate angeblicher ehemaliger Weggefährten und sogar Liebhaber!

Nichts davon war wahr.

Ohne aufzusehen, kippte sie einen weiteren Schluck von dem Wein hinunter.

Mit heißem Kopf öffnete sie die übrigen Links aus Vassilios’ Nachricht. Einige führten zu weiteren Blogs. Andere zu Postings auf Facebook und Twitter. Die schon zehntausendfach geteilt, gelikt und kommentiert worden waren. Immer dasselbe Bild. Ähnliche Schlagzeilen. In sieben verschiedenen Sprachen. Wahrscheinlich gab es noch mehr. Vergleichbare Drecksartikel darunter.

Am liebsten hätte Dana das Telefon auf den Boden geschmettert. Aber davon ging die Schmutzkampagne da draußen auch nicht weg.

Mit zittrigen Fingern tippte sie eine Antwort an Vassilios.

Dreckskerle! Lauter Lügen! Davon lasse ich mich nicht einschüchtern!

Sie legte das Telefon in ihren Schoß, sah zu Alex und versuchte ein Lächeln.

»Was ist los?«, fragte er. Wirkte besorgt. »Du siehst plötzlich gar nicht mehr so fröhlich aus wie eben.«

Noch bevor sie antworten konnte, brummte das Gerät in ihrer Hand.

Ist mir klar. Ich könnte immer noch etwas an Freunde schicken. Vass

Er meinte natürlich ihre Informationen über das US -Team von Derek Endvor, wollte das bloß nicht zu deutlich schwarz auf weiß schreiben. Vassilios hatte recht. Sie kämpften hier gegen einen übermächtigen Gegner. Der keine Skrupel kannte.

Dana tippte.

Könntest du …

Dann steckte sie das Telefon weg. Lächelte Alex an.

»Erzählst du mir jetzt einmal, was du hier machst und was so wichtig ist?«, fragte er.

Dana legte ihre Hand kurz auf seine.

»Ist nichts«, sagte sie und griff wieder nach ihrem Weinglas. »Jamas!«