Steve steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn um. Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Steve öffnete und rief: »’n Abend! Ich bin zu Hause!«
Cath antwortete nicht.
Steve hängte sein Zeug in der Garderobe auf. Sie bewohnten eine Achtzig-Quadratmeter-Wohnung. Vorraum, WC , geräumiges Wohn-Esszimmer mit offener Küche, Schlafzimmer, Bad.
Weder im Wohnraum noch im Schlafzimmer traf er Cath an. Aus dem Bad hörte er ein Rauschen. Cath stand unter der Dusche.
Unter anderen Umständen hätte er angeboten, sich dazuzustellen. Oder es einfach getan.
Heute schlich er wieder hinaus.
Im Abstellraum hinter der Küche hatten sie in einem großen Schrank allerhand Kram verstaut, den sie nie benötigten. Erinnerungen, Weggelegtes, Vergessenes. Seit Monaten, wenn nicht Jahren unberührt.
Steve beeilte sich. Die Kartonbox stand ganz unten, ganz hinten. Steve musste zwei andere Schachteln, einen verstaubten Entsafter, zwei nie aufgehängte Bilder und ein paar alte Bücher wegräumen, bevor er die gesuchte Box fand.
Er setzte sich im Schneidersitz hin und stellte sie auf seine Beine. Dann öffnete er den Deckel.
Der Mann Steve gegenüber schloss seinen Koffer, in dessen Schaumgummipolsterung das Aufnahmegerät und das Mikrofon gebettet waren. Der Laptop stand geöffnet daneben.
In dem fensterlosen Raum saßen sechs Personen: der Mann, der Steves Stimme aufgenommen und mit jener von dem Videoband verglichen hatte. Ann, die Menschenrechtsanwältin. Frank, Steves Anwaltsfreund. Ein Mittvierziger vom International Criminal Court, der sich als Ted vorgestellt hatte. Eine junge Frau vom ICC namens Dana.
»In Ordnung«, sagte der Gutachter. Er drehte den Laptop, sodass die anderen an dem Tisch den Monitor sehen konnten. In einem Fenster waren die Auf-und-ab-Balkendiagramme einer Tonaufnahme zu sehen. In einem Fenster darunter ein weiteres Diagramm, das dem ersten sehr ähnlich sah.
Mit einem Fingerstrich über das Trackboard des Laptops legte er die beiden übereinander.
Deckungsgleich.
»Das ist Ihre Stimme«, sagte der Mann.
Steve nickte.
»Ich weiß.«
Die ICC -Leute sahen sich an.
Nickten.
»Das ist ein großer Schritt«, sagte Ted. »Danke, dass Sie uns diese Aufnahmen zur Verfügung stellen.«
Der Tontechniker klappte seinen Laptop zu.
»Das komplette schriftliche Gutachten erhalten Sie in spätestens vier Wochen«, sagte er zu Ted und Dana.
Der Mann verließ den Raum.
»Drei unabhängige Gutachten«, sagte Ted. »Das muss genügen. Danke noch einmal, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben. Ihre Anonymität bleibt weiterhin gewahrt. Wir erreichen sie jederzeit über Ann und Frank.«
Er legte die Hände auf den Tisch, als ob alles erledigt wäre und er sich erheben wollte.
»Eine Sache habe ich noch«, sagte Ted. »Wie gesagt, wir tun alles für Ihre Anonymität. Trotzdem kann man gewisse Entwicklungen nie ausschließen.« Er senkte den Blick in Steves. »Sie wussten, welche Konsequenzen diese Geschichte für Sie haben kann. Nicht muss. Aber kann.«
Er legte ein einfaches Mobiltelefon auf den Tisch.
»Sollten Sie jemals das Bedürfnis haben oder sollte die Notwendigkeit bestehen, direkt Kontakt mit uns aufzunehmen, verwenden Sie dieses Telefon. Es ist ein anonymer Burner. Darin ist eine einzige Nummer gespeichert. Und eine verschlüsselte E-Mail-Adresse. Damit erreichen Sie jederzeit die Zeugenschutzabteilung des ICC . Mich. Oder wer immer dann für den Fall zuständig ist. Wenn überhaupt, wird das erst in ein paar Jahren sein. Heben Sie das Telefon gut auf. Testen Sie von Zeit zu Zeit, ob es noch funktioniert. Sollte es das irgendwann nicht mehr tun, sagen Sie Frank Bescheid. Dann lassen wir Ihnen über ihn ein neues zukommen.«
Steve starrte auf das Gerät.
Es jetzt zu nehmen bedeutete einen weiteren Schritt auf dem Weg. Dabei war er sich nach wie vor nicht sicher, ob er nicht völlig verrückt war.
»Du kannst immer noch zurück«, sagte Frank.
Die Mienen der anderen im Raum waren regungslos.
Ted legte ein Ladekabel neben das Gerät.
»Das brauchen Sie auch.«
Steves Blick hatte sich nicht verändert.
Steve wischte sich mit der Hand über das Gesicht und starrte in die Kartonbox.
Darin lagen zwei alte Fotobüchlein, verwickelte Kabel, ein Reisesteckdosenadapter, ein paar Prospekte.
Ein altmodisches Mobiltelefon. Mit Tasten.
Ein dazu passendes Ladekabel.
Er hatte gehofft, es nie zu brauchen.
Er hatte ein Leben. Catherine, die er liebte, die Kinder mit ihm wollte.
Die nichts ahnte.
Die er nicht gefährden wollte, indem er sie einweihte.
Würde sie ihn verstehen? Würde sie ihm irgendwann verzeihen?
Er legte Telefon und Ladegerät neben sich und schloss die Schachtel wieder.
Dann räumte er sie zurück an den Platz ganz unten, ganz hinten.
In eine freie Steckdose in dem Abstellraum stöpselte er das Ladegerät.
Catherine hatte fertig geduscht.
Steve überraschte sie im Bad.
»Guten Abend!«
»Du bist schon da!«
»Lass dir ruhig Zeit. Was wollen wir zu Abend essen?«
»Wir haben Aufschnitt, Brot, Salat und Gemüse, Käse.«
»In Ordnung.«
Steve lief zurück in den Abstellraum. Das Telefon war inzwischen einsatzbereit.
Erhalten hatte er es vor drei Jahren. Ob die Nummern und Adressen wirklich noch funktionierten?
Steve tippte eine Nachricht an die gespeicherte Adresse.
Jemand folgt mir. Was tun? Nach Den Haag kommen?
Er rechnete nicht sofort mit einer Antwort und schob das Telefon hinter ein Regal. Dann ging er in die Küche. Im Kühlschrank fand er eine angebrochene Flasche Rotwein. Er schenkte sich ein Glas ein. Nahm einen Schluck.
Dachte nach.
Zog sein normales Telefon hervor.
Wischte und tippte sich durch die neuesten Nachrichten. Immer mit dem Hintergedanken, dass womöglich jemand sämtliche seiner Aktivitäten auf dem Handy verfolgte. Aber er war in diesem Augenblick sicher nicht der Einzige, der sich über die Entwicklungen rund um den Ex-US -Präsidenten informierte. Turner war noch immer in Haft.
»Krieg ich auch eines?« Catherine, in T-Shirt und leichter Hose, das Haar nass zurückgekämmt.
Steve schenkte ihr Wein in ein Glas.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie gut gelaunt.