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»Und jetzt?«, fragte der Ratspräsident in die virtuelle Runde. Wieder einmal hatten sie sich alle vor Bildschirmen in ganz Europa versammelt. Der Ratspräsident hatte den Rahmen klein halten wollen. Aber über den Nachmittag hinweg hatten sich fast alle Regierungschefs von EU -Staaten hineinreklamiert. Diesmal war auch Nikólaos auf den Bildschirmen vor dem Ratspräsidenten dabei.

»Die Chefanklägerin des ICC will nach Athen, und niemand fliegt sie. Alle Unternehmen fürchten sich vor amerikanischen Sanktionen.«

»Pure Erpressung«, knurrte irgendjemand. Der Ratspräsident ging nicht darauf ein. Natürlich war es das. Aber das gehörte zur Politik dazu.

»Warum ist sie nicht mit dem Auto gefahren?«, fragte der Pole.

»Hätte zu lange gedauert«, erwiderte der Ratspräsident.

»In diesem Moment muss Europa Stärke zeigen!«, deklamierte eine andere Stimme. Der Italiener. Ausgerechnet. Wobei man ihm zugutehalten musste, dass Italien seinerzeit einer der wenigen Staaten gewesen war, die CIA -Agenten verhaftet hatten, weil sie auf italienischem Boden einen ägyptischen Imam entführt und nach Ägypten verbracht hatten, wo er gefoltert wurde. Lange her.

»Wir müssen die Situation kalmieren, nicht eskalieren.« Wer hatte diesen schlauen Spruch wieder losgelassen?

»Erweitern wir das Blocking Statute«, schlug der Deutsche vor. Immerhin einer machte einen konkreten Vorschlag.

Mehrfaches Aufstöhnen aus anderen Fenstern.

»Das Sperrgesetz nützt doch nichts.«

»Haben wir 2018 bei den Sanktionen gegen den Iran auch gemacht. Hat nichts geholfen.«

Das Blocking Statute der Europäischen Union ging auf das Jahr 1996 zurück. Es sollte dafür sorgen, dass Gesetze, die in anderen Ländern, etwa den Vereinigten Staaten, aufgestellt wurden, aber in der EU nicht galten, für Unternehmen aus der EU keine Gültigkeit hatten. Wenn also, wie 1996, die USA ein Embargo gegen Kuba verhängte und allen Unternehmen weltweit, die dagegen verstießen, mit Sanktionen drohte, sollte das Blocking Statute Unternehmen aus der EU trotzdem erlauben, nach Kuba zu liefern. 2018 wurde es nach Sanktionen der Amerikaner gegen den Iran erweitert. Zudem wurden wirtschaftliche Konstruktionen eingerichtet, die entsprechenden Unternehmen Handel mit dem Iran ermöglichen sollten.

Die allermeisten großen Unternehmen nutzten es natürlich nicht. Das Statut war ein zahnloses politisches Symbol.

»Wir müssen es zumindest öffentlich diskutieren«, stimmte der Niederländer dem Deutschen zu. Seltenheitswert. »Um zu signalisieren, dass wir unsere Verantwortung für den ICC ernst nehmen.«

»So bekommen wir die ICC -Frau aber noch nicht nach Athen«, bemerkte die Finnin.

»Wer will sie denn dort überhaupt haben?«, fragte der Österreicher. »Nikólaos, du?«

Kurze Stille. Alle warteten auf die ersten Worte des Hauptverantwortlichen für den Schlamassel. Hatte nicht einmal seine – inzwischen gefeuerte – Justizministerin im Griff.

»Ich brauche sie nicht«, sagte er. »Aber macht natürlich keinen schlanken Fuß, wenn wir uns von den Amerikanern so vorführen lassen. Wichtiger wäre, den Türken entschieden entgegenzutreten. Heute haben sie wieder eines unserer Schiffe gerammt!«

»Lenk nicht ab«, sagte der Niederländer. »Die Türken fühlen sich doch durch die Situation, die ihr zugelassen habt, erst ermutigt!«

Oh-oh.

»Heute ist es ohnehin zu spät«, schritt der Ratspräsident ein, bevor diese Diskussion eskalierte. »Geht kein Linienflug mehr. Und morgen haben eure Richter das hoffentlich erledigt.«

»Und wenn nicht?«, fragte der Niederländer.

»Kann man immer noch einen Privatjet schicken«, sagte Nikólaos.

»Hat der ICC schon versucht«, sagte der Niederländer. »Auch die trauen sich nicht. Irgendjemanden muss man doch finden!«

»Kannst ja einen Regierungsflieger stellen«, erwiderte der Grieche.

Die Nerven lagen allmählich blank. Bis jetzt hatten sich alle beherrscht.

»Ich gebe Nikólaos recht«, sagte der Franzose. »Vielleicht können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Den Türken müssen wir ein Signal geben, dass es so nicht geht. Da sie momentan von den Amerikanern unterstützt werden, wäre das indirekt auch ein Signal an Washington: So nicht! Wir könnten ein paar Kriegsschiffe im östlichen Mittelmeer in die umstrittene Region schicken. Wir haben einen Flugzeugträger in Südzypern vor Anker. Der könnte gleich los. Das wäre ein deutliches Zeichen.«

Mehrfaches Murren wurde laut.

»Kriegsschiffe? Völlig übertrieben! Eskaliert statt kalmiert.«

Andere nahmen die Anregung auf. Wenn auch nicht alle ganz begeistert.

»Vielleicht nicht gleich losschicken, aber androhen. Unsere Schiffe können nicht so schnell los. Na ja, vielleicht als letzten Schritt.«

Erste Teilnehmer guckten demonstrativ auf die Uhr.

»In Ordnung«, sagte der Ratspräsident. »Wir bringen das Blocking Statute in die öffentliche Diskussion, wenn alle damit einverstanden sind.« Allgemein zustimmendes Gemurmel ertönte. »Und bemühen uns weiter um eine rasche Transportmöglichkeit für die ICC -Chefanklägerin nach Athen. In der Hoffnung, dass wir sie nicht mehr brauchen, weil eure Richter morgen die Sache erledigen, Nikólaos.«