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Genervt und erschöpft hatte sich Dana nach einer langen Dusche auf das Bett geworfen und ihre Nachrichten überflogen. Wer sich da alles meldete! Maria! Und wer nicht. Henk, zum Beispiel. Oder ihr Vater. Keine Reaktion auf ihren Versuch einer Erklärung.

Maria hatte eine kurze Sprachnachricht hinterlassen: »Ruf mich an!«

Ups.

»Da bist du ja!«, rief Maria, nachdem Dana ihre Nummer gewählt hatte. »Folgendes«, schoss sie los, ohne nach Danas Befinden zu fragen, »ich bin immer noch in Den Haag. Niemand will mich nach Athen fliegen.«

»Die Sanktionen«, sagte Dana. »Habe ich auch schon gemerkt. Meine Kreditkarten funktionieren nicht mehr. Und aus dem Hotel hätten sie mich auch hinausgeworfen, hätte Vassilios nicht ausgeholfen.«

»Diese Säcke«, zischte Maria. »Dabei hatten wir derartige Möglichkeiten extra mit ihnen besprochen!«

»Haben wohl kalte Füße bekommen, als es ernst wurde.«

»Diese Luschen von der EU helfen bis jetzt auch nicht. Haben heute Abend überlegt, das Blocking Statute zu erweitern, aber noch nichts Konkretes beschlossen.«

»Ohnehin fraglich, ob das etwas bringen würde.«

»Bezweifle ich auch. Selbst die Niederländer konnten sich noch zu keiner Unterstützung durchringen. Mein Tipp: Die spielen alle auf Zeit und hoffen, dass das Gericht Turner morgen ohnehin freilässt. Ihr müsst morgen also ohne mich auskommen.«

»Ein ungleicher Kampf ist das.«

»Das wussten wir vorher. Und bei dir?«

Dana erzählte kurz von ihrem Besuch der Akropolis, den nicht funktionierenden Karten, nichts von Alex und den Vorfällen in der Bar, dafür von Vassilios’ Hilfe und Übernachtungsangebot.

»Kannst du annehmen«, sagte Maria. »Nun zur Arbeit. Wir haben die Unterlagen für morgen gerade dem griechischen Staatsanwalt geschickt. Du hast eine Kopie bekommen. Vassilios auch. Du kennst das Material. Schau es dir noch einmal an.«

»Natürlich. Aber ich …«

»Du schaffst das. Ihr schafft das. Von solchen Kinkerlitzchen lassen wir uns nicht aufhalten. Bei Fragen: jederzeit. Gute Nacht!«

Nachdem Maria die Verbindung beendet hatte, starrte Dana noch minutenlang an die Wand.

Dann legte sie das Telefon zur Seite und beantwortete keine Nachricht. Stattdessen schaltete sie den Fernseher ein. Es war gegen Viertel vor zwölf. Auf dem Gerät konnte man auch im Internet surfen. Sie überflog die internationalen Nachrichten. Die europäische und die US -Börse hatten jeweils über sechs Prozent verloren. In Athen war zweimal sogar der Handel ausgesetzt worden, weil die Verluste noch deutlich größer waren. Überall war die entlassene griechische Justizministerin zu sehen. Bislang hatte sie sich zurückgehalten. »Griechische Ex-Ministerin erklärt sich«, schrieben die Ticker am unteren Bildschirmrand. Dana ließ das Interviewstück, das alle brachten, länger laufen.

»Vor ein paar Wochen erklärten mir meine Ärzte, dass ich höchstens noch ein halbes Jahr zu leben habe«, sagte sie in geschliffenem Englisch. »Ich überlegte, was ich in dieser Zeit noch Sinnvolles tun könnte. Bedeutendes. Etwas, das bleibt.« Sie sprach dabei sehr ruhig. »Dann kam die vorsichtige Anfrage von Maria Cruz. Wir kannten uns von früher. Ob ich mir eventuell vorstellen könnte … Sie wusste nichts von meiner Diagnose.« Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »It was the chance of a life time.« Die Chance ihres Lebens. Schwarzer Humor auf den letzten Metern. Zum Wundern? Bewundernswert? Auf jeden Fall erklärte das Statement ihren Alleingang. Manche Kommentatoren spekulierten nun, dass das Geständnis die Lage der griechischen Regierung erleichtern könnte. Die hatte nichts gewusst. Andere meinten, dass es keine Folgen haben würde. Schließlich hätte die Regierung Turner trotzdem längst freilassen können.

Die Sender brachten Bilder aus London, Paris, Rom und anderen europäischen Hauptstädten. Lange Reihen schwer bewaffneter Polizisten standen Hunderten, in manchen Städten Tausenden Demonstranten vor US -Botschaften gegenüber. In den meisten Städten verliefen die Proteste friedlich. Lediglich in Berlin und Madrid kam es zu vereinzelten Ausschreitungen. Molotowcocktails, Vermummte, brennende Autos und Barrikaden. Dana konnte nicht immer ausmachen, ob die Protestierenden für oder gegen die Verhaftung waren. Die meisten dafür, wie es schien. Ähnliche Bilder kamen aus den USA . In Washington demonstrierten einige Hundert Menschen vor der griechischen Gesandtschaft, die Mehrheit für eine Freilassung Turners. Eine Minderheit forderte auf Plakaten und Transparenten »Stoppt das Töten!«, »Frieden« und »Gerechtigkeit«. Ohne jedoch explizit Turners Verhaftung gutzuheißen.

Sie griff nach ihrem Telefon. Suchte Vassilios’ Nummer. Zögerte. Fand auf dem Fernseher eine Liveschaltung vor dem spärlich beleuchteten Korydallos-Gefängnis. Eine atemlose Reporterin berichtete, dass in wenigen Minuten das Ultimatum der USA ablaufe, Douglas Turner freizulassen. Ein Kameraschwenk offenbarte Straßen voller Demonstranten. Zwischen ihren Plakaten und Transparenten waberten zahllose leuchtende Punkte. Telefone, die über den Köpfen der Menge filmten. Wie auf einem Konzert!

Dana tippte Vassilios’ Nummer an.

Nach dem zweiten Freizeichen hob er ab.

»Störe ich so spät?«, fragte sie.

»Haben Sie mit Maria gesprochen?«

»Ja. Sie ist noch immer nicht da.«

»Ich weiß. Wir haben telefoniert. Die Sanktionen. Ich habe ihr angeboten, einen Flug zu organisieren. Hobbyfliegerfreunde von mir, die das unter dem Radar machen würden. Buchstäblich.«

»Und?«

»Will sie nicht. ›Entweder aufrecht, offen und vor aller Augen oder gar nicht‹, hat sie gesagt. ›So können wir uns nicht behandeln lassen!‹ Womit sie recht hat.«

»Sie hat Unterlagen geschickt.«

»Habe ich bekommen.«

»Vielleicht ist ohnehin alles gleich vorbei«, sagte Dana.

»Auch vor dem Fernseher?«, erkundigte er sich.

»Ja.«

»Was werden sie tun?«, fragte sie.

»Die führen sich auf, als wäre Silvester«, bemerkte William Cheaver angesichts der Bilder vom Korydallos-Gefängnis auf den Großbildschirmen im Lagezentrum. Das gesamte Team hatte sich um den Besprechungstisch versammelt. Starrte gebannt auf die Monitore. Botschafter Jeremy McIntyre und Lilian Pellago hingen an ihren Telefonen. Alle Sender lieferten ähnliche Perspektiven. Reporter im Zentrum, dahinter das Gefängnis oder Demonstranten. Manche standen so günstig, dass sie beides erfassten. Über den Demonstranten kreisten zahlreiche filmende Telefone wie Glühwürmchen.

Ein Chor aus Hunderten Kehlen wurde laut.

»Elf!«

»Zehn!«

»Neun!«

Selbst manche Berichterstattende stimmten nun mit ein.

»Noch acht Sekunden bis Mitternacht! Sechs! Wird Douglas Turner freigelassen? Drei!«

Als ginge es um den Start einer Rakete. In gewisser Weise würde womöglich eine Bombe gezündet.

»Zwei!«

»Eins!!!«

Der Countdown löste sich auf in ein vielkehliges Gemisch aus Empörung, Entsetzen und Jubel.

»Bis jetzt haben wir keine Nachricht, dass Douglas Turner aus dem Gefängnis Korydallos in Athen entlassen wurde«, rief ein erhitzter Journalist in sein Mikrofon. Auf den Bildschirmen daneben andere. Bilder der Demonstranten. Ein paar Feuerwerksraketen stiegen auf. Aufnahmen von den Demonstrationen vor den US -Botschaften in europäischen Städten. Jubel. Vor der griechischen Botschaft in Washington gereckte Fäuste. US -Flaggen.

Derek wandte sich an Jeremy, an Lilian.

Der Botschafter verzog den Mund und schüttelte den Kopf.

Lilian hörte aufmerksam zu. Schüttelte dann auch den Kopf.

Derek griff zu seinem Telefon und wollte die Kurzwahlziffer drücken, da brummte es.

Arthur Jones war ihm zuvorgekommen.

»Verdammt, Derek, was ist da bei euch los?! Dafür habe ich euch nicht hingeschickt!«

»Nein, Art.«

»Damit treten die Sanktionen in Kraft.«

»Wir sollten mehr vorbereiten«, sagte Derek. »Morgen ist der nächste Prozesstag. Wahrscheinlich entscheidet das Gericht dann über eine Entlassung oder weitere Haft.«

»Wenn die Griechen nicht vorher zur Vernunft kommen. Und wenn das Gericht so verrückt ist, ihn in Haft zu behalten?«

»Hat Turner noch die Berufung. Das kann nochmals bis zu fünfzehn Tage dauern. Aber das ist es wert. Bedenk doch mal: Wenn ein Gericht Turner freilässt, ist die ganze Anklage des ICC lächerlich gemacht.«

»Sicher nicht!«

»Nein.«

»Mister President«, mischte sich Nestor Booth ein, »im östlichen Mittelmeer patrouillieren diverse unserer Schiffe im Rahmen von NATO -Missionen. Wir könnten ein oder zwei Fregatten oder sogar Kreuzer dezent Richtung Athen steuern. Nur so als Zeichen …«

»Und was für ein Zeichen sollte das sein?!«, fragte Derek. »Dass wir bereit sind, einem Verbündeten offen mit Waffengewalt zu drohen? Genügt Ihnen nicht, dass sich bereits zwei NATO -Partner wie kleine Kinder benehmen?« Er wurde lauter. »Wollen Sie zusätzlich Öl ins Feuer gießen?!«

»Andernfalls machen uns der ICC und die Griechen weiterhin lächerlich«, wandte der General ein. »Nicht nur uns, den ganzen Westen, das westliche Bündnis, all unsere Werte! Die Franzosen erwägen schon, ein Schiff zu schicken, um ihre Unterstützung der Griechen im Gasstreit zu signalisieren. Da geht es doch nicht nur ums Gas. Die Franzosen fallen uns in den Rücken!«

»Und wenn sich nun drei oder mit den Franzosen gar vier NATO -Mitglieder in der Ägäis gegenseitig beharken, ist das weniger lächerlich?«, erwiderte Derek.

»Noch haben die Franzosen niemanden geschickt«, sagte Arthur. »Aber wir müssen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Für diesen Fall fahren wir noch stärkere Geschütze auf. Haltet Schiffe bereit, aber vorläufig bleiben sie bei ihrer bestehenden Mission. Herrschaften, kotzt mich das alles an«, hörte Derek ihn noch fluchen, bevor die Verbindung beendet wurde.

Sein Blick glitt über die Monitore mit den aufgeregten Berichten. Nur in einem kleinen Fenster links unten herrschte einigermaßen Ruhe. Die etwas verzerrten Bilder einer Überwachungskamera. Mit einem Fischauge beobachteten sie ein Hotelzimmer. Auf dem Bett lag Dana Marin in T-Shirt und Unterwäsche. Ein Telefon am Ohr, verfolgte sie die Berichterstattung auf dem Fernseher. Mit der anderen Hand tippte sie auf der Fernbedienung herum. Sie hatte ihre Beine übereinandergelegt. Ihre Zehen bewegten sich auf und ab. Nervös oder gedankenverloren. Sie legte die Fernbedienung ab und fuhr sich mit der Hand durch das nun offene, schulterlange Haar, das gelockt um ihren Kopf wirbelte. Eine andere Person, als er heute im Gerichtssaal kennengelernt hatte. Wie sie da so lag, sah sie noch fragiler aus, verletzlich. Sie legte das Telefon auf das Nachtkästchen. Schaltete das Licht aus. Das bläuliche Flackern des TV -Geräts betonte ihre Konturen noch stärker. Sie griff nach einem Tabletcomputer und begann konzentriert zu lesen. Wer von ihnen heute wohl eher einschlief?