Da standen die Polizisten. In der Schulklasse. Zwei Männer. Eine Frau. Dana saß in der zweiten Reihe, neben Anja. Sicher dachten alle, dass Horst-Jürgen wieder etwas angestellt habe. Aber die Polizei? Horst-Jürgen war neun Jahre alt. So wie Dana. So wie die meisten anderen in der Klasse. Nur Dana dachte etwas anderes. Sie hatte davon gehört. Dass Leute wie sie von der Polizei überraschend abgeholt wurden. Dass sie mit ihrer Familie in ein Flugzeug nach Bosnien gesetzt wurden. Dana wollte da nicht hin. Seit drei Jahren lebte sie in der kleinen bayerischen Stadt. Längst sprach sie perfekt Deutsch. Mama hatte sie dazu gedrängt. Jeden Tag mit ihr gelernt. Von Beginn an. Jetzt ging Dana in die dritte Klasse. Und gehörte zu den Besten. Auf einmal fröstelte sie.
»Iljana Halilovic?«, fragte die Polizistin und sah sich um. Dann prüften sie ein Papier in ihren Händen. Iljana saß schräg hinter Dana. Sie meldete sich nicht. Sie ahnte wohl, worum es ging. Dana war so froh, dass die Männer nicht nach ihr fragten. Und so sehr verzweifelt wegen Iljana. Sie mochte Iljana. Sie war ein paar Wochen vor Dana aus Tuzla nach Deutschland gekommen. Iljana gehörte zu Danas besten Freundinnen. Dana half ihr beim Rechnen. Iljana half ihr beim Turnen. Sie gehörte nicht zu den Besten der Klasse. Aber auch nicht zu den Schlechtesten.
»Was wollen Sie von ihr?«, fragte die Lehrerin die Polizisten.
Die hatten Iljana inzwischen erkannt. Der eine hielt nämlich ein Foto in der Hand. Jetzt gingen sie auf Iljana zu.
»Iljana?«, fragte die Polizistin sanft. »Kommst du bitte mit?«
»Weshalb?!«, rief die Lehrerin aufgebracht. »Das dürfen Sie nicht!«
»Bitte«, sagte einer der Polizisten ruhig zu ihr, »machen Sie das hier nicht noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.«
Iljana sah sich hilflos um. Ihr Blick traf Danas. Dana biss sich auf die Zähne. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
»Frau Kowalczyk!«, rief sie schließlich mit dünner Stimme. »Helfen Sie Iljana.«
Iljana war inzwischen aufgestanden. Schweigend. Hatte ihre Schulsachen zusammengepackt.
»Die brauchst du nicht«, sagte der eine Polizist.
Iljana ließ sie auf ihrem Platz liegen.
»Iljana!«, rief Dana. Sie sprang auf und fasste Iljanas Hand.
»Iljana«, sagte die Polizistin, die ihre Freundin an der anderen Hand genommen hatte. »Kommst du?«
So zogen sie einen kurzen Moment in verschiedene Richtungen. Dann löste Iljana ihre Hand aus Danas. Blickte sie noch einmal traurig an. Folgte der Polizistin.
Vor der Tür hatte sich Frau Kowalczyk aufgebaut.
»Iljana geht hier nicht weg«, erklärte sie entschieden. Die Polizisten waren einen Kopf größer.
Einer der Polizisten zeigte ihr ein Blatt Papier.
»Hier«, sagte er. »Das ist die Abschiebeorder. Bitte, lassen Sie uns durch.«
Dann ging er einfach weiter. Frau Kowalczyk versuchte, sich ihm entgegenzustellen, doch er hielt einfach nicht an. Sie musste den Weg freigeben. Rief dabei laut etwas von: Dürfen Sie nicht. Können Sie doch nicht machen. Ist so gut. Hat sich integriert. Wo soll sie denn hin?
Iljana drehte sich nicht mehr um.
Dana atmete schwer, als hätte sie einen Dauerlauf auf dem Sportplatz hinter sich. Sie schreckte hoch. Für einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war.
Athen. Hotel.
Wieder hörte sie von der Straße Lärm. Diesen Traum hatte sie lange nicht mehr gehabt. Ein paarmal in den ersten Jahren nach Iljanas Abschiebung. 1997 war das gewesen. Dana hatte Iljana nie wiedergesehen. Der Traum war verschwunden, nachdem ihr klar geworden war, dass sie und ihre Eltern in Deutschland bleiben durften. Das war 2004 gewesen. Dana erinnerte sich genau an den Tag. Ihre Mutter hatte sie zur Feier in eine Konditorei auf ein Stück Kuchen eingeladen. Absoluter Luxus damals.
Verschlafen rieb sich Dana die Augen. Dass gerade diese Träume nun wiederkehrten. Wie spät war es? Durch Schlitze im Vorhang drang Sonnenlicht.
Der Wecker neben dem Bett zeigte halb sieben.
Dana wälzte sich aus dem Bett. Fühlte sich überfahren. So viel hatte sie gestern Abend doch nicht getrunken?
Sie zog die Vorhänge zur Seite. Die Demonstranten füllten die gesamte Straße vor dem Hotel. Das waren mindestens zweihundert.
Zur rechten Seite hin erkannte Dana Plakate und Transparente, die Turners Freilassung forderten. Griechische und US -Flaggen. Zur linken ragten Plakate und Transparente über die Köpfe, die »Gerechtigkeit«, »Sperrt ihn ein!« und »Stoppt gezielte Morde!« forderten. Friedenstauben und Peacezeichen.
Ein paar verlorene Polizisten schützten gerade mal den Hoteleingang.
Zuerst ins Bad. Das Notwendigste. Dann warf sie sich mit dem Tablet auf das Bett. Nachrichten lesen.
Eine von Alex. Woher hatte er ihren Kontakt?
Natürlich. Sie hatte ihn angerufen. Unbedacht. Er musste nur mehr auf »Antworten« tippen.
Sorry wegen gestern Abend! Das nutzen die Amis natürlich aus! …
Was meinte er damit?
Wie sieht es aus mit Dinner heute? Vielleicht an einem weniger öffentlichen Ort? Verstehe aber auch, wenn du mal ausspannen willst .
Der wurde ja richtig hartnäckig.
… Stavros, Manolis, Tania und ein paar Kumpel haben ein bisschen nachgeholfen, damit du wenigstens nicht die Einzige im Kreuzfeuer bist.
Kreuzfeuer? Wovon schrieb er?
»Die Telefone der Botschaft sind noch überlasteter als zuvor«, sagte Jeremy. Der Gesandte war ins Lagezentrum gekommen, um sie abzuholen. Auf einigen der Monitore waren Blogs und Postings zu sehen. Ronald zappte sich durch. In allen Derek und die anderen. Manchmal war nur der Artikel der griechischen Zeitung geteilt worden. Andere gaben ihren eigenen Senf dazu. Selten freundlich.
Der Spindoktor. Bild: Derek. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, frühere Projekte der Gruppenmitglieder auszugraben. Zumindest jene, die bekannt waren.
Die Dreckschleuder. Bild: Ronald.
Die Spinne. Bild: Lilian.
»Da hat jemand nachgeholfen«, stellte Ronald fest. »Das hat diese komische Zeitung nicht allein geschafft.«
Er wies auf einige der Postings. »Das sind Bots. Ganze Botarmeen, die das verteilen.«
»Wissen wir, wer?«, fragte Derek. Er mochte diese Art der Öffentlichkeit nicht. Nicht für sich. Oder das Team. Ihre Arbeit sollte im Hintergrund stattfinden.
Damit war es jetzt vorbei.
»Der ICC ?«, fragte Derek.
»Die hier waren die Ersten, wie es scheint«, sagte Ronald. Er rief mehrere Seiten von Blogs und sozialen Medien auf, die ähnlich aussahen. Auch die Gesichter darin wiederholten sich. Derek hatte sie schon einmal irgendwo gesehen.
»Woher kenne ich die?«, fragte er.
Ronald spielte Bilder von Dana Marin und ihrem griechischen Begleiter in der Bar ein. Neben den beiden standen ein paar Personen, die jenen auf den Webseiten ähnelten.
»Daher kennst du die«, sagte Ronald. »Freunde von Marins Athener Bekanntschaft. Linke Blogger und Aktivisten. Andere sind dann gefolgt. Ab einer gewissen Masse springen die Kommerziellen auf. Die Falschnachrichten, Gerüchte, Verschwörungstheorien und den ganzen Mist verbreiten, weil es genug Schwachköpfe gibt, die das lesen und denen man dazwischen dann Werbung verkaufen kann. Simples Geschäftsmodell mit der Dummheit der Menschen. Und wahrscheinlich die Russen, die Chinesen. Nordkorea. Iran. Um uns eins auszuwischen. Werden wir nachvollziehen.«
»Bekommen wir wohl nicht mehr eingefangen«, sagte Derek.
»Nein. Das verschwindet aber so schnell, wie es gekommen ist. Solche Kampagnen haben eine kurze Halbwertszeit. In ein paar Stunden trendet schon wieder ein ganz anderes Thema. Dafür sorgen wir schon.« Er dachte kurz nach. »Vielleicht haben sie uns damit sogar einen Gefallen erwiesen.«
Dereks Telefon läutete. Sandra. Er trat zur Seite.
»Ihr schlaft gerade auch nicht viel«, sagte er.
»Nach dem Wahlkampf«, flachste Sandra.
»Glaubst du«, sagte Derek. »Was hast du?«
»Die neuesten Zahlen. Die Rede des Präsidenten kam gut an. Staatsmännisch, ausreichend entschieden und patriotisch, aber auch weltmännisch. Hielt aber nur kurz. Dass Turner nach Mitternacht immer noch drin war, half nicht. Erste Onlineumfrage unter ausgewählten Zweitausend: Der Präsident stürzt weiter ab. Ihr müsst was tun. Sonst verlieren wir die Wahl definitiv. Wrights Team drückt inzwischen auch massiv auf die Tränendrüse. Mit Bildern aus dem griechischen Gefängnis. Ist ja wirklich ein Drecksloch. Eine Frechheit. Langsam tut Turner sogar seinen Gegnern und Nichtsympathisanten leid. Der ›Gefängnis geschähe ihm recht‹-Spin wird immer schwieriger, womöglich riskant.«
»Dann lasst ihn. Oder tragt ihn niederschwellig weiter. Vielleicht brauchen wir ihn ja doch noch. Was Neues zu eventuellen heimlichen US -Unterstützern des ICC ?«
»Nichts bislang. Könnte echt ein Alleingang der griechischen Justizministerin gewesen sein. Das Interview mit ihr habt ihr wahrscheinlich gesehen. Unsere ersten Recherchen ergeben, dass die Geschichte stimmen könnte.«
»Hat uns der Franzose aufs Glatteis geführt mit seinem Verdacht?«
»Wie auch immer. An der Geschichte bleiben wir dran, so oder so. Aber wir brauchen mehr. Sonst können wir die Wahl vergessen.«
Dana überflog Alex’ Links. Die Nachricht über Derek Endvor und sein Einsatzteam hatte sich über Nacht rasant im Internet verbreitet. In manchen Berichten wurden den Bildern des US -Teams jenes Danas gegenübergestellt. Eine junge Frau gegen ein grimmiges Spezialistenteam. Das Framing der Botschaft war deutlich. Sie wurde hier zur Heldin stilisiert, zur Jeanne d’Arc. Dana hatte nicht darum gebeten. Hoffentlich schadete es der Sache nicht. Aber immerhin: Jetzt waren die Amis auch im Licht der Öffentlichkeit.
Eine Nachricht von Henk. Mist! Bei ihm hatte sie sich gestern Abend nicht mehr gemeldet.
Deshalb höre ich nichts von dir. Wenigstens Spaß gehabt?
Dazu ein paar Links. Hinter dem ersten öffnete sich ein Bild. Halbdunkel, schlecht belichtet und doch eindeutig erkennbar.
Sie und Alex gestern Abend in der Bar. Sie wirkten darauf vertrauter, als Dana es empfunden hatte. Fast intim. Alex’ Freunde rundum. Nicht sofort als dazugehörig erkennbar.
Da wird noch mehr kommen, hatte sie Manolis’ Prophezeiung vom Vorabend im Ohr.
Sie las die Bildunterschrift. »Dana Marin, Vertreterin des International Criminal Court, die Ex-US -Präsident Douglas Turner in Athen verhaftete, feiert mit unbekanntem Beau in Athener Linksextremistenviertel.«
Fuck!
Das nutzten die Amis natürlich aus.
Das hatte Alex in seiner Nachricht gemeint.
Beau? Auf seine Art attraktiv, vielleicht. Aber Beau?
Und: Linksextremistenviertel?
Schnell scrollte sie weiter. Da waren noch mehr Fotos von ihr und Alex in der Bar.
Nichts von der Schlägerei danach.
Von wem stammte der Mist?!
Ein Blog, den Dana noch nie gesehen hatte.
Hastig öffnete sie den nächsten Link.
Nun wurden sogar Tania, Stavros, Manolis und Dimitrios gezeigt und identifiziert. Als die Verfasser eines linksradikalen Blogs.
Alles, was du tust, kann vor dem Onlinemobgericht gegen dich verwendet werden.
Dana scrollte weiter. Diese und andere Bilder waren überall in den sozialen Medien. Brennende Autos und Barrikaden. Rauch und Tränengasschwaden. Demonstrierende, die vermummte Polizisten mit Gegenständen bewarfen. Darunter die Artikel. Die Dana mittels der Bilder mit diesem Milieu verbanden. Offensichtlich hatte Alex sie in das Stadtviertel Exarchia verschleppt, bekannt für seine linke bis anarchistische Szene und Demonstrationen, die mitunter gewalttätig wurden. Hunderte hatten die Postings geteilt. Tausende. Die Bildunterschrift des Blogs war gegen viele davon geradezu freundlich. Darunter die perversesten Kommentare. Rüdest formulierte Massenvergewaltigungs-, Folter- und Mordfantasien. Nach einem Dutzend hörte Dana auf zu lesen. Welche Perverslinge schrieben so etwas? Dachten es sich überhaupt aus? Manche der Postings hatten Hunderttausende Likes!
Dann fand sie auch Bilder von sich und Alex, wie sie aus der Schlägerei flüchteten. Dazu Bilder der Schlacht vor und in der Bar. Das völlig zerstörte Lokal danach. Zertrümmerte Hocker, die kreuz und quer in einem Scherbenmeer lagen. Die Straße davor ein Schlachtfeld. Mittendrin Polizeiwagen mit Blaulicht. Flaschen. Steine. Möbel brannten auf der Straße.
»Eine Frau glaubt, sie sorgt für Gerechtigkeit. Stattdessen bewirkt sie Chaos und Gewalt.«
In der Art ging es überall weiter.
Der ersten Nachricht mit den Links hatte Henk eine zweite hinterhergeschickt.
Gebt den Fall auf! Ihr habt euren Punkt gemacht! Ihr hattet eure 15 Minuten Ruhm. Gebt endlich Frieden!
Sie warf das Tablet zur Seite. Draußen brüllten die Demonstranten gegeneinander an. Vermutlich schlief in diesem Hotel kein einziger Gast mehr.
Eine Schmutzkübelkampagne.
Da würde noch mehr kommen.
Dabei waren sie erst an Tag drei von Douglas Turners Verhaftung.
Und Henk, der Idiot, hatte nichts Besseres zu tun, als ihr eine Szene zu machen. Wie hatte sie sich so in diesem Menschen irren können? Jahrelang! Wütend griff sie wieder zu dem Tablet.
Glaub doch, was du willst!
Beim Zimmerservice bestellte sie Frühstück. Dann wählte sie Marias Nummer.
Die Chefanklägerin hob nach dem ersten Freizeichen ab.
»Guten Morgen!«, rief sie in den Hörer. »Was gibt’s?«
Wach. Entschieden. Direkt.
»Mir ist da etwas Unangenehmes passiert«, gestand Dana. »Ich war gestern Abend noch kurz etwas trinken. Man hat mich erkannt, und das führte zu einer Auseinandersetzung unter den Gästen. Irgendjemand, wahrscheinlich die Amerikaner, schlachten das jetzt kommunikativ aus.«
In ihrem Telefon blieb es einen Moment still.
»Wie schlimm?«, fragte Maria schließlich.
»Das muss die Presseabteilung beurteilen«, sagte Dana. »Ich schicke ein paar Links zu Berichten.«
Wieder kurze Stille. Dann: »In Ordnung. Danke, dass du Bescheid gesagt hast. Viel Glück für später.«
Als Dana an die Hotelrezeption trat, eilte ein junger Mann aus dem Raum dahinter zu ihr. Das Schild an seinem Revers wies ihn als Costas aus. Martin war wohl schon im Bett.
»Costas«, sagte sie, »guten Morgen! Kann ich bei Ihnen ein Taxi zum Gericht ordern?«
Sie musste laut sprechen, um das Brausen der Demonstranten zu übertönen.
»Frau Marin«, sagte er und knetete die Hände, »ich muss mit Ihnen reden.«
»Das tun Sie ja schon.«
Ein paar Hotelgäste an der Bar auf der anderen Seite der Lobby beäugten sie skeptisch.
»Ich …«. Er brachte kaum ein Wort heraus. »Ich muss Sie bitten, das Hotel zu verlassen.«
»Das habe ich gerade vor«, sagte sie mit einem komischen Gefühl im Bauch, dem sie nicht glauben wollte. »Wenn Sie mir ein Taxi rufen.«
»Ich meine«, stammelte er, »ganz verlassen. Sie können hier nicht weiter wohnen.«
Also tatsächlich.
Erst einmal blöd stellen. Und ihn wenigstens in Verlegenheit bringen für sein Duckmäusertum.
»Wieso? Was soll das heißen?«
»Sie sehen selbst«, sagte er mit einer Geste zu den Demonstranten. »Unsere Gäste haben keine Ruhe, solange Sie hier wohnen.«
»Dann sorgen Sie für Ruhe.«
Noch so eine hilflose Bewegung.
»Nicht einmal die Polizei kann das«, klagte er. »Sie haben nicht genug Leute, sagen sie.«
»Sie werfen mich aus dem Hotel? Ernsthaft?!«
»Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte er. Senkte die Stimme. »Unter uns: Ich finde es großartig, was Sie getan haben.«
Das half ihr gerade wenig.
Er sprach wieder in normaler Lautstärke. »Aber die Eigentümer fürchten die Sanktionen. Sie können Sie hier nicht mehr beherbergen.«
Obwohl der ICC das vorab besprochen hatte.
»Können nicht?! Wollen nicht.«
Nur noch Achselzucken.
»Da hilft mir Ihre Bewunderung wenig«, sagte sie. Bei manchen Kämpfen wusste Dana, ob zu kämpfen sinnvoll war oder nicht.
»Ein Taxi bestellen Sie mir aber noch?«
»Selbstverständlich«, versicherte er mit einer Verbeugung.
»Machen Sie bitte meine Rechnung fertig«, sagte sie kühl. »In einer Viertelstunde bin ich zurück.«
Die Nacht war überraschend ruhig verlaufen. Zwischendurch war der Mann sogar eingedöst. Ein Ohr war trotzdem immer wach. Kapo hatte keine weiteren Angriffe gewagt. Entweder war er nicht so mächtig, oder das Geldversprechen hatte ihn gefügig gemacht. Oder er war einfach clever genug. Wie auch immer.
Das Frühstück wurde in einem Speisesaal ausgegeben, der so appetitlich war wie die Zellen. Das Mobiliar hätte nicht einmal mehr die Caritas angenommen.
Den US -amerikanischen Ex-Präsidenten entdeckte der Mann nirgendwo. Bekam sein Frühstück wohl ans Bett serviert. Der Mann fragte sich bloß, von wem. Selbst in dem Riesensaal mit Hunderten Häftlingen entdeckte er neben dem Küchenpersonal gerade einmal vier Justizbeamte. Sie patrouillierten entlang der Wände. Ab und zu wagte sich einer durch die langen Tischreihen. Arbeitskräfte schienen in dieser Einrichtung Superluxus.
Er stellte sich mit den anderen Inhaftierten in die Schlange an der Essensausgabe. Vor Kapo. Der Großteil der Häftlinge war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ihre Gebisse hätten gut in ein Gemälde eines niederländischen Meisters des siebzehnten Jahrhunderts gepasst. Ihre Haut zeugte von zu viel Alkohol, Zigaretten, schlechter Ernährung, Sonne und zu wenig Geld. Die meisten sahen älter aus, als sie waren. Natürlich gab es die Muckibrüder. Und ihre sehnigen Wieselkumpel. Sie hatten den Mann sofort ausgespäht. Ein Neuer. Dass er sich unbehelligt und aufrecht vor Kapo hinstellen durfte, verwirrte sie. Ihn kümmerte es nicht. Er holte sich seine Pampe ab und setzte sich an einen freien Platz.
Kapo setzte sich neben ihn. Mit gebeugtem Rücken und dem Löffel in der Hand, als lernte er gerade erst, mit Besteck zu essen.
»Wir müssen über unser Geschäft reden«, sagte er.
»Geduld«, sagte der Mann und schob den Löffel in den Mund.
Hinter ihnen lief einer der Wachbeamten vorbei. Auf dem Tablett des Mannes landete ein kleines Telefon. Altmodisch, aber kompakt und mit allem, was man brauchte. Ein klassischer Burner. Der Wärter hatte es so unauffällig hingelegt, wie es die Situation erforderte. Jedoch auffällig genug, dass es der gesamte Tisch mitbekommen hatte. Und ein paar Typen an den Nachbartischen dazu.
Die Botschaft war angekommen. Hier saß jemand mit Einfluss. Mit einem direkten Draht. Jemand, der Zeug beschaffen konnte. Wichtiges Zeug. Jemand, der die Kontrolleure kontrollierte.
Der Mann ließ das Telefon liegen und löffelte weiter. Ließ den Moment wirken. Ein weiteres Zeichen der Macht. Die anderen Wächter hatten nichts gesehen oder taten wenigstens so. Der Beamte war in der nächsten Tischreihe.
Jetzt steckte der Mann das Gerät ein. Ohne es zu prüfen. Ohne wichtige Nachrichten abzurufen. Oder gar zu telefonieren. Wer wichtig war, rief niemanden an. Er wurde angerufen. Angeschrieben. Außer er musste Anweisungen erteilen. Befehle geben.
Musste er nicht.
Er aß weiter.
Kapo neben ihm löffelte, als wäre nichts geschehen. Doch der Mann registrierte, dass sich Kapos Gesicht noch tiefer über den Teller beugte. Untertänig.
Auch die Muckis und Wiesel hatten den Vorfall mitbekommen.
Ein neuer Spieler war im Haus. Der Mann spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Gegner? Oder möglicher Verbündeter?
Steve kam als Erster in die Küche. Cath schminkte sich noch im Bad. Steve prüfte das Telefon im Abstellraum.
Keine neue Nachricht.
Der Akku des Geräts war jetzt vollständig aufgeladen. Steve steckte es in die Hosentasche.
Angespannt bereitete er das Frühstück zu. Wie konnten ihn die so hängen lassen? Andererseits … Was sollten sie tun? In ein totales Zeugenschutzprogramm wollte er nicht. Noch nicht. Wollte er damals nicht und hatten sie ihm auch nicht angeboten. Nur dass er vor dem ICC anonym würde aussagen dürfen – sollte er überhaupt aussagen müssen. Wofür eigentlich kein Grund bestand. Das Video sagte genug.
Beim Frühstück sprachen Steve und Cath nicht viel. Beide löffelten verschlafen von ihrem Müsli oder aßen ihr Brot, tranken ihren Kaffee und wischten über ihre Smartphones. Steve spürte den Wein vom Vorabend. Hatte auch nicht geholfen, ihre Diskussion zu klären.
Turner saß immer noch in dem Athener Gefängnis. Die internationalen Medien ergingen sich in Spekulationen, der Rest des Internets in Verschwörungstheorien und gegenseitigen Beschimpfungen. Die USA drohten mit weiteren Sanktionen gegen Griechenland und den ICC . Einige Meldungen fand Steve über Dana Marin. Sie war damals bei der Befragung und dem Stimmvergleich dabei gewesen. Und nun bei Turners Verhaftung. Eine Flut ähnlicher Artikel grub in ihrem Vorleben herum. Aber auch über ein US -Spezialistenteam fanden sich eine Menge Berichte. Steve kannte niemanden davon. Er wollte schon zum Sport wechseln, als er über eine Schlagzeile stolperte:
USA beantragen internationalen Haftbefehl gegen ungenannten Verräter von Staatsgeheimnis.
Washington, D. C. – Die Vereinigten Staaten haben einen internationalen Haftbefehl gegen einen Verräter hochgeheimer staatlicher Informationen erlassen. Die Identität der gesuchten Person ist den Behörden bekannt. Aus Sicherheitsgründen wird sie vorerst nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt. Ob der Haftbefehl im Zusammenhang mit der Verhaftung von Ex-US-Präsident Douglas Turner in Athen im Auftrag des International Criminal Court steht, wurde nicht kommentiert, aber auch nicht dementiert. Die verdächtige Person soll sich ins Ausland abgesetzt haben. Zuverlässige Quellen aus dem Umfeld des Weißen Hauses sprechen jedoch von einem Zusammenhang mit Turners Verhaftung. Die Rede ist von einem Aufenthaltsland in Europa. Vielleicht Deutschland. US-Behörden geben dazu keinen Kommentar, haben jedoch ihre Spur aufgenommen und arbeiten mit internationalen Polizeidiensten zusammen. Sie rechnen mit einer baldigen Festnahme.
»Ist was?«, fragte Cath. »Zu viel Wein gestern?«
»Wieso?«, fragte Steve.
»Du bist ganz weiß im Gesicht. Dein Gesicht glänzt richtig. Brauchst du eine Aspirin?«
Aspirin würde da nicht helfen.
»Danke, geht schon.«
In Steves Hosentasche glühte das andere Telefon. Doch er konnte es jetzt nicht einfach hervorziehen und eine Nachricht senden. Statt sich noch ein Brot zu streichen, stand er auf.
»Bin kurz im Bad.«
»Hm«, machte Cath nur, ohne von ihrem Telefon aufzusehen.
Im Bad wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Fuhr sich mit den nassen Händen über die verschwitzte Kopfhaut. Holte das Telefon aus der Hosentasche. Tippte.
Meldung über internationalen Haftbefehl gegen US-Bürger wegen Geheimnisverrats. Identität bekannt, wird aber nicht veröffentlicht. Soll sich »ins Ausland abgesetzt« haben. Laut anderen Quellen mutmaßlich Europa, eventuell Deutschland! US-Behörden haben bereits Spur. Erwarten Festnahme in den kommenden Tagen. Bin das ich???
Er steckte das Telefon weg und musterte sich im Spiegel. Keine schöne Farbe, Cath hatte recht. Schon wieder spürte er den kalten Schweiß unter dem Haar, auf der Stirn, unter den Augen, über den Lippen.
Zog das Telefon noch einmal hervor.
Keine neue Nachricht.
Er kehrte an den Frühstückstisch zurück.
Cath hatte inzwischen alles weggeräumt.
»Ich muss los«, sagte sie. »Denk dran, heute Abend sind wir bei Delli und Emil.«
Weg war sie.
Steve ließ sich auf den Stuhl fallen. Tippte sein Handy an, das noch dalag. Starrte auf die Meldung über den internationalen Haftbefehl, die sofort auf dem Screen erschien. Ob Cath nachgesehen hatte?
Und wenn.
Er musste los. Davor musste er aber noch etwas finden.