Der Fahrer sprach schlecht Englisch. Dana war nicht böse darüber. Hatte sie ihre Ruhe. Die brauchte sie gerade. Ebenso wie eine Unterkunft für die kommende Nacht. Und womöglich noch einige weitere Nächte.
Die Klimaanlage des Wagens funktionierte nicht. Die Luft war schwül und schwer. Eine hauchdünne Wolkenschicht vor dem nun blassblauen Himmel ließ alle Konturen weicher wirken als das gleißende Licht der vergangenen Tage. Und noch etwas war anders. Sie runzelte die Stirn. Der Verkehr war es nicht. Er war so dicht wie eh und je.
Da war es wieder! Eine Menschentraube vor einem Laden. Was war das? Ein Supermarkt?
»Ist das ein Supermarkt?«, fragte sie den Fahrer.
»Ja«, sagte er.
»Warum sind da so viele Leute? Sonderangebote?«
»Angst.«
»Wovor?«
»Dass es bald nichts mehr gibt. Wegen Gericht.«
Ernsthaft jetzt? Mit einem Mal fror Dana.
Wegen des Gerichts?! Das Gericht hatte doch keine Sanktionen erlassen.
Hatte der Mann sie erkannt? Immerhin fuhr er sie zu ebendiesem Gericht.
»Sie meinen, weil die Amerikaner Sanktionen erlassen haben?«
»Wegen Gericht«, sagte er, »das amerikanischen Präsidenten verhaftet.«
»Deshalb gibt es aber doch keine Lebensmittelknappheit«, erwiderte Dana und bemühte sich, nicht zu aufgebracht zu klingen.
Der Fahrer schwieg.
Inzwischen waren sie ein paar Häuserblocks weiter. Vor einem Gebäude hatte sich eine lange Schlange Wartender gebildet.
»Was ist dort? Das ist kein Supermarkt.«
»Bank.«
Nicht wirklich, oder? Das hier war doch keine Finanzkrise oder Pandemie! Wer redete denen denn solche Ängste ein?!
»Auch wegen der Amerikaner?«
»Wegen Gericht«, sagte der Fahrer.
Eine Diskussion schien Dana sinnlos.
Während Steve das Fahrrad losschloss, scannte er unauffällig die Umgebung. Vielleicht der Wagen dort hinten. Motorrad- oder Fahrradfahrer bemerkte er keine. Er radelte los wie immer. Keine Schulterblicke, keine Umwege.
Heute allerdings fuhr er nicht direkt in die Agentur.
Gemächlich radelte er in die Innenstadt. Dort würden es Autos schwer haben, ihm zu folgen. Auf dem letzten Abschnitt in dem Einbahnstraßengewirr und der Fußgängerzone ohnehin.
Er suchte sich einen Radständer und schloss das Rad an.
Bis zur Filiale der Bank lief er zwei Minuten.
In der Bank trat er zu einem der freien Servicetische. Er wandte sich an die junge Frau dahinter.
»Ich möchte zu meinem Schließfach, bitte«, sagte er.
Die Bankangestellte erhob sich und ging voraus. Der Raum mit den Schließfächern lag eine Etage tiefer hinter einer Tür aus dicken Stahlstangen.
Die Frau ließ ihn ein und wandte sich zum Gehen.
Den Schlüssel für das Schließfach trug Steve immer bei sich, an seinem Schlüsselbund mit all den anderen Schlüsseln.
Er öffnete die niedrige, breite Tür und zog die Lade hervor.
Darin lagen übereinander zwei fingerdicke weiße Kuverts.
Steve öffnete sie und versicherte sich. Das Bargeld war noch drin. Zwölftausend Euro im einen. Achttausend US -Dollar im anderen. Immer wieder erstaunlich, wie wenig Platz eine solche Summe einnahm. Selbst wenn man sie, wie Steve, in größere und kleinere Scheinen aufgeteilt hatte.
Er steckte die Kuverts in die Bauchtasche, die er sich extra unter das Hemd geschnallt hatte. Die Messengerbag war ihm zu unsicher. Dieses Geld war seine Überlebenschance für den Fall der Fälle.
Das war sein Fehler gewesen: das Geld in einem Schließfach zu deponieren, auf das er nur zu Banköffnungszeiten Zugriff hatte. Was, wenn er sofort hätte untertauchen müssen und Geld gebraucht hätte, ohne digitale Spuren zu hinterlassen?
Er klingelte, und die Bankangestellte ließ ihn aus dem Tresorraum.
»Danke«, sagte er. Und, während sie die Treppe emporstiegen: »Ich möchte das Schließfach bitte kündigen.«
Danas Fahrer näherte sich dem Gericht von hinten. Sie sah Rauchwolken hinter dem Gebäude aufsteigen.
Die Seitenstraße mit dem Nebeneingang hatte die Polizei abgesperrt. Dana kramte aus ihren Bargeldresten die erforderliche Summe und reichte sie dem Fahrer.
Draußen war es noch schwüler. Bis zu ihnen klangen die Sprechchöre der Demonstranten und die Sirenen. Als der Fahrer ihr Gepäck aus dem Kofferraum hievte, sagte er: »Lassen Präsidenten frei.«
Wie bitte? War das eine Voraussage? Oder eine Forderung?
»Wer lässt den Präsidenten frei?«
»Sie. Sie müssen freilassen.«
Hatte er sie also erkannt.
»Sie wissen, wer ich bin?«
»Natürlich. Ihr Bild überall«, sagte er.
»Sie finden es falsch, was ich tue?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Falsch. Richtig. Wer weiß schon. Schwierigkeiten. Große. Womöglich sogar Krieg mit der Türkei. Helfen niemandem.«
Er zog den Griff aus ihrem kleinen Rollkoffer und schob ihn ihr vor die Füße.
»Wegen diesem Mann sind unschuldige Menschen gestorben. Frauen, Kinder, Greise. Haben Sie eine Frau, Kinder?«
»Ja.«
»Frauen und Kinder wie Ihre. Eltern wie Ihre Eltern.«
»Kämpft gegen Terroristen. Haben viel mehr unschuldige Menschen getötet. Viele, viele mehr.«
»Und deshalb darf er das auch?«
Der Fahrer zuckte wieder mit den Schultern und blickte zur Seite.
»Große immer lässt laufen. Nur Kleine hängt man.«
»Diesmal nicht. Auch wenn niemand gehängt wird.«
»Natürlich nicht. Freigelassen wird. Muss.«
»Trotzdem haben Sie mich gefahren?«
»Sie Fahrgast. Zahlen. Ich brauche Geld.« Jetzt sah er sie an. Spöttisch und traurig zugleich. »Für meine Frau und Kinder. Wichtiger als meine Meinung.«
»Danke«, sagte sie.
Er stieg ein. Dana sah ihm nach, bis der Wagen um die nächste Ecke verschwunden war.
Je näher Dana dem Seiteneingang kam, desto lauter vernahm sie die Demonstranten. Nur vereinzelte hellgraue Rauchschwaden zogen aus ihrer Richtung an dem Gebäude vorbei über die Straße. Die Einmündung der Seitenstraße schützte im Gegensatz zu gestern kein Polizeikordon, sondern panzergroße, bullige olivgrüne Fahrzeuge mit Wasserwerfern obendrauf.
Vassilios erwartete sie wie üblich an der Sicherheitskontrolle. Beim Anblick von Danas Rollkoffer und ihrem restlichen Gepäck verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen.
»Sie reisen ab?«
»Sehr witzig«, sagte sie, während die Uniformierten sie kontrollierten und ihr Gepäck in die Durchleuchtung schoben.
»Man hat Sie hinausgeworfen«, stellte er fest.
»Hunderte Demonstranten vor dem Hotel«, sagte sie. »Bestellt, wenn Sie mich fragen. Wenigstens die Gegner.«
Vassilios nickte nur und nahm das Gepäck.
»Danke.«
»Wahrscheinlich werden Ihnen die meisten Hotels schnell Schwierigkeiten machen«, sagte er, »sobald man Ihnen die Demonstranten hinterherschickt.«
»Sie halten das auch für inszeniert?«
»Natürlich«, sagte er. »Am einfachsten wäre es wahrscheinlich, wenn Sie bei mir blieben. Wie gesagt, ich habe sogar zwei Gästezimmer.«
»Das ist sehr nett, danke«, sagte Dana. Vermutlich hatte er recht. »Ich denke darüber nach.«
Aus dem Inneren des Gerichtsgebäudes konnte Dana nun die Straße davor sehen. Auf den zwei näher liegenden Fahrstreifen drängten sich noch mehr Sendewagen und Medienvertreter als tags zuvor. Dahinter die Demonstranten. Von der Nebenstraße aus hatte sie nicht gesehen, wie viele es waren. Tausende.
Nicht alle waren friedlich. Polizei und Militär hatten einen etwa vierzig Meter breiten Leerstreifen zwischen den streitenden Parteien gesichert. Über die Köpfe der schwer geschützten und bewaffneten Polizisten und Soldaten flogen Flaschen, Steine, Latten in beide Richtungen. Immer wieder landeten Trümmer auch mitten in dem Trupp von vielleicht fünfzig Uniformierten. Auf beiden Seiten stiegen da und dort kleine Rauchsäulen auf.
»Das werden sie bald räumen«, sagte Vassilios. »Müssen.«
Er rollte Danas Koffer neben sich her.
»Und, unterhaltsamen Abend gehabt, gestern?«, fragte er, schon wieder grinsend. Was war an dieser ganzen Situation so lustig?
»Sie haben die Bilder gesehen«, stellte sie fest.
»Geht mich aber nichts an«, sagte er.
Genau.
»Solange der Typ tatsächlich eine ganz normale Bekanntschaft ist«, fügte er dann aber doch noch hinzu.
»Was meinen Sie?«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
Dana erzählte die Geschichte.
»Der Handtaschendieb entkam?«, fragte Vassilios.
»Ja.«
Vassilios nickte.
Dana dämmerte es. Sie spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken und auf dem Kopf aufstellten und anfühlten wie Stacheln.
»Sie meinen, jemand könnte den Diebstahlsversuch inszeniert haben, um Alex in meiner Nähe zu positionieren?«
Die Agentur lief bereits auf Hochbetrieb. Steve hatte sie kaum betreten, als die erste Stimme nach ihm rief.
»Moment noch«, sagte er.
Zuerst checkte er sein Kontakttelefon.
Sie haben eine neue Nachricht.
Wahrscheinlich wieder: Bleib ruhig und unauffällig!
Die wollen Sie verrückt machen.
Das gelang ihnen jedenfalls.
Wir verstehen Ihre Bedenken. Das muss sich gerade sehr unangenehm anfühlen. Aber noch einmal: Wenn die wirklich etwas wüssten, wären sie längst aktiv geworden. Die wollen Sie zu einem Fehler provozieren. Zu auffälligem Verhalten. Das ist ein Psychokrieg. Den die anderen gewinnen, wenn Sie jetzt nicht ganz normal weiterleben. Da werden noch mehr Dinge kommen, bereiten Sie sich darauf vor. Wir tun es auch. Und sind jederzeit für Sie da!
Wie erwartet. Verärgert tippte Steve eine Antwort.
Und was tue ich, wenn es ernster wird? Wenn mich jemand bedroht oder ich verhaftet werde? Kann ich um Asyl nachsuchen? Bringt mich der ICC in ein Zeugenschutzprogramm?
Um Steve herum strömten die anderen in die Agentur, während er auf eine Antwort wartete. Sind jederzeit für Sie da! Wo war sie dann, die Antwort?! Das Schlimmste war die Unsicherheit. War er es, der mit internationalem Haftbefehl festgenommen werden sollte? Wenn ja, was blühte ihm? Er spürte, wie kalt seine Hände und Füße wurden, obwohl es noch sommerlich warm war.