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Der Ablauf der Pause war bei fast allen derselbe. Toilette. Telefon. Nachrichten checken. Dana stand schon wieder im Gerichtssaal an ihrem Platz. Vassilios blätterte neben ihr in den Unterlagen. Von den Amerikanern waren die meisten auch wieder zurück. Standen über ihre Telefone gebeugt.

Ihre nächtliche »Party im Anarchistenviertel« wurde online immer noch gepusht. Aber auch die Neuigkeiten über Derek Endvor und seine Leute in Athen. Wer immer dafür verantwortlich war – ständig tauchten neue Geschichten über die Mitglieder seines Teams auf. Dazu Storys, die sie und die Amerikaner gegenüberstellten. Verfluchter Suchtfaktor dieser Pseudonachrichtenmedien! Dana wollte Twitter gerade wegtippen, als ihr eine Meldung mit Bild auffiel. Es musste abends oder nachts geschossen worden sein. Auf dem Foto waren zwei Personen, die sie in der Kombination noch nicht gesehen hatte. Nicht ganz scharf, aber deutlich genug. Sie unterhielten sich auf einem Bürgersteig, zwischen Autos und Häuserfassaden.

Der eine war Derek Endvor.

Der andere war Alex.

Danas Knie fühlten sich an wie schmelzende Butter.

Was haben Dana Marins neuer griechischer Freund und der Leiter des US -Krisenteams miteinander zu besprechen?, fragte der Text.

Ja, was?!

Bereits hundertfach geteilt.

Sie sank auf ihren Stuhl. Spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Blickte verstohlen zu Derek Endvor hinüber.

Die Nachricht, zu der der Link im Tweet führte, fand sich wieder auf einem obskuren Nachrichtenblog.

Athen, gestern Nacht: Wenige Stunden nach den Ausschreitungen in Exarchia trifft Derek Endvor Dana Marins geheimnisvollen Begleiter aus der Anarchistenszene. Was haben die beiden miteinander zu besprechen? Das Foto wurde uns freundlicherweise von einem Passanten zur Verfügung gestellt, der die Szene zufällig beobachtete. »Ich habe erst heute Morgen begriffen, wen ich da fotografiert habe«, erklärte uns die fotografierende Person, die anonym bleiben möchte.

Zufällig! Daran glaubte Dana keinen Augenblick! Hatte Vassilios also recht gehabt … Dana wurde übel vor Zorn und Scham. So naiv war sie auf Alex und seinen miesen Trick hereingefallen!

Wütend kopierte sie den Link. Öffnete eine Nachricht an Alex. Lud den Link hinein.

Ja: Was hattet ihr zu besprechen? Spar dir eine Antwort!

Die Richter betraten den Raum. Alle setzten sich.

»Ehrwürdiges Gericht«, erhob Ioannis Ephramidis seine Stimme. »Es steht außer Zweifel, dass es zu solchen tragischen Ereignissen kam. Diese sogenannten Night Raids werden jedoch von afghanischen Einheiten durchgeführt. Falls US -Kräfte anwesend sind, dann höchstens zu Trainingszwecken. Es besteht zu keiner Zeit eine Befehlsverantwortung von Douglas Turner.«

Das wird das Gericht wohl nicht schlucken, hoffte Dana.

»Wie der Staatsanwalt bereits ausgeführt hat, handelt es sich bei dem Konflikt in Afghanistan um einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt. In einem solchen ist vom Kriegsrecht ebenfalls der Schutz der Zivilbevölkerung vorgesehen, auch wenn es viel weniger niedergeschriebene Regeln gibt als in Kriegen zwischen Staaten. Der gemeinsame Artikel drei der Genfer Konventionen von 1949 formuliert grundlegende Rechte für Personen, die nicht oder nicht mehr an Kampfhandlungen teilnehmen – etwa Zivilpersonen oder Gefangene und solche, die sich ergeben haben, Kranke und Verwundete. Er verbietet die Anwendung von Gewalt gegen sie – speziell Mord, grausame Behandlung und Folter, Verschwindenlassen sowie die Verletzung ihrer Menschenwürde. Falls Zivilpersonen direkt an Feindseligkeiten teilnehmen, verlieren sie allerdings den Schutz vor direkten Angriffen, zumindest für diese Zeit.«

Während er sprach, lauschte Turner regungslos der Übersetzerin. Nur mit einem Ohr war Dana bei der Sache. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem Bild von Derek Endvor und Alex zurück. Sie konnte nicht anders, als auf ihrem Telefon nachzusehen. Natürlich hatte Alex auf ihre erbosten Worte geantwortet. Sie zögerte, seine Nachricht zu öffnen.

»Damit es zu keinen Missverständnissen kommt«, unterbrach der Staatsanwalt Ephramidis’ Ausführungen, »weil es in diesen Unterlagen auch diverse solche Fälle gibt: Ärzte, die Verwundeten helfen, egal auf welcher Seite, sind natürlich Zivilisten. Trotzdem kommt es immer wieder zu Angriffen auf sie mit dem Argument, sie hätten durch die Behandlung Gegner unterstützt.«

»So etwas würden die USA , ihre Streitkräfte und deren Oberbefehlshaber niemals zulassen«, wandte Ephramidis ein.

Turner schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil«, fuhr Ephramidis fort. »Die USA bilden ihre Truppen intensiv im Kriegsrecht aus. Ein juristischer Berater wird bei allen Einsätzen konsultiert. Und es ist ihnen wichtig, dass das auch ihre Bündnispartner verstehen. Aus diesem Grund trainieren US -Streitkräfte afghanische Einheiten nicht nur in der besten Kampftaktik, sondern auch in der Einhaltung des Kriegsrechts – gegen einen tückischen Gegner wohlgemerkt. Aber das heißt nicht, dass sie ihnen Befehle geben können. Sie können lediglich die afghanischen Kommandanten dazu auffordern, eventuelle Verstöße zu ahnden.«

Ephramidis nahm einen Schluck Wasser. Turner hatte während seiner Rede mehrmals genickt.

»Und vergessen Sie nicht: Die US -amerikanischen und afghanischen Soldaten kämpfen gegen Terroristen, die sich unter die Zivilbevölkerung mischen mit dem Ziel, den Gegner davon abzuhalten, ihn anzugreifen. Den Konfliktparteien ist verboten, Zivilisten als Schutzschild zu verwenden. Eine Praxis übrigens, die gerade von den Taliban, ISIS und anderen in Afghanistan, Pakistan, dem Jemen, dem Sudan und an weiteren Orten laufend angewendet wird! Außerdem tragen diese Terroristen keine Uniformen, damit man sie nicht von der Zivilbevölkerung unterscheiden kann. Hier können wir nicht von vorsätzlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung sprechen! Der Punkt ist«, fuhr Ephramidis fort, »gibt es einen handfesten Anhaltspunkt, dass Douglas Turner für die vorgetragenen Taten verantwortlich gemacht werden kann? Wir haben vage Zeugenaussagen und von komplizierten, kaum nachvollziehbaren angeblichen Befehlsketten gehört – aber keinen Beweis. Und angesichts der Schwere der Vorwürfe sollte es einen solchen doch geben, denke ich. Deshalb ist mein Mandant sofort freizulassen.«

Die Richter hatten ihm zugehört. Nun flüsterten sie kurz miteinander. Die beiden Männer nickten.

Zustimmend?, fragte sich Dana bange, als der Vorsitzende verkündete:

»Wir machen eine kurze Pause.«

Sean hatte den Jaguar in der heruntergekommenen Garage geparkt, zu der Mahir sie bestellt hatte. Dino hatte den zweiten Wagen daneben abgestellt. Es roch nach Staub, Motoröl und alten Reifen. Hernan, Sal, Hopper und Biff hatten sie zuvor aussteigen lassen. Sie deckten die Außenseiten. Man wusste nie. Vorsicht war die Mutter der Waffenkiste. Die da vor ihnen stand. Und noch drei weitere Kisten. Daneben Mahir. Heute in blassblauem Anzug. Riesenkragen, wie in den Siebzigerjahren. Was sollte das?

Seine Lieferanten waren nirgendwo zu sehen. So hatte Sean es verlangt. Je weniger Zeugen, desto besser.

»Wie gefallen euch die Hubschrauber?«, fragte Mahir.

»Passen«, sagte Sean. »Außer der Sache mit dem Polizeidesign.«

»Habe ich dir gleich gesagt. Aber das bekommt ihr auch so hin.«

»Gibt es neue Intel? Oder Einsatzzeitpläne?«

»Bis jetzt nicht.«

Sean nickte nachdenklich.

»Der zweite Teil deiner Bestellung«, sagte Mahir mit seinem schleimigen Lächeln. Er beugte die Knie. Öffnete die erste Kiste langsam.

Fünf SCAR -H, CQC . Mit der Special Forces Combat Assault Rifle hatten sie alle ihre Erfahrung. Das Sturmgewehr der US -Army und ihrer Spezialeinsatzkräfte. Mahir reichte Sean eine der Waffen mit dem Bogenmagazin. Sean hatte die leichtere, kürzere Variante bestellt. Sofort lag sie vertraut in seiner Hand. Er prüfte sie kurz. Mahir gab eine zweite an Dino.

Während sie die Gewehre aus der ersten Kiste checkten, öffnete Mahir die zweite. Die anderen fünf Gewehre. Auf den Böden der zwei Kisten fanden sie je fünf Beretta M9. Inspizierten sie ebenfalls kurz. Ritsch. Klack. Magazine rein. Raus.

In der dritten und vierten Kiste stapelte sich die Munition.

Dino besah sich ein paar willkürlich ausgesuchte Magazine. Nickte Sean zu.

Gemeinsam hievten sie die Kisten in die Kofferräume der Jags. Je eine mit Gewehren und eine mit Munition. Das Gewicht drückte die Karosserien merklich näher an die Hinterräder.

Sean und Dino stiegen in die Wagen.

Sean lehnte sich aus dem offenen Fenster. Fragte den Libanesen: »Wie lange wollen die noch warten?«