53

»Euer Ehren«, erklärte Ephramidis, »dürfen wir zum Abschluss etwas zeigen? Ein Video?«

»Was ist darauf zu sehen?«, fragte der Vorsitzende.

»Das werden Sie gleich sehen, wenn Sie gestatten. Es zeigt, was ›Zivilbevölkerung‹ im Kampf gegen den Terror bedeutet.«

»Stehlen Sie uns nicht unsere Zeit«, forderte der Mann.

»Dauert nur ein paar Minuten. Darf ich vortreten?«

Er stand auf, nahm seinen Laptop.

Ephramidis stellte den Laptop schräg, sodass alle sehen konnten. Der jüngere Richter stand auf, um einen besseren Blick zu bekommen.

Ephramidis startete ein Video.

Eine staubige Straße in der Mittagssonne. Am Rand ein paar einfache sandfarbene Häuser. Afghanistan vielleicht. Oder der Irak.

In der Mitte stand ein Junge. Vielleicht zehn Jahre alt. An der Kleidung erkannte Dana, dass es wohl der Irak sein musste. Die schwarzen Locken klebten auf seiner verschwitzten Stirn. Die großen Augen starrten schwarz in die Kamera. Die Haut darunter glänzte. Nicht vom Schweiß.

Das waren Tränen. Über die ganze untere Gesichtshälfte verteilt.

Seine Lippen zitterten.

Dana presste ihre zusammen, um zu unterdrücken, dass ihr dasselbe geschah.

Der ganze kleine Körper zitterte.

Dana legte eine Hand unauffällig gegen den Richtertisch, um ihre eigenen Bewegungen zu kontrollieren.

Nicht wegen der tränenverschmierten Wangen. Oder wegen der zitternden Lippen. Oder der schweißverklebten Stirn.

Wegen der Sprengstoffweste, die das Kind gut sichtbar um seinen kleinen Oberkörper gewickelt hatte.

Bitte nicht, was Dana erwartete.

»Dieses Video machte ein US -Team im Irak. Es ist nicht öffentlich zu sehen.«

Jetzt hörte Dana ein Schluchzen. Nach Luft schnappen.

Das Kind.

Dann brüllten unsichtbare Männer in der Nähe der Kamera. Amerikaner.

»Stehen bleiben!«

»Keinen Schritt weiter!«

»Beweg dich nicht!«

»Stopp!«

Der Junge hob die Ärmchen. Konnte sie vor Zittern kaum halten. Machte einen Schritt auf die Kamera zu.

»Bleib stehen!«

»Verdammt, er bleibt nicht stehen!«

»Nicht schießen«, brüllte eine der Stimmen. »Nicht schießen. Nur auf meinen Befehl.«

Noch ein Schritt.

»Verdammt. Wir müssen den aufhalten.«

»Bleib stehen, Junge! Wir können dir helfen!«

Jemand von ihnen brüllte etwas in einer fremden Sprache. Wahrscheinlich eine Übersetzung des eben Gesagten.

»Wir haben Spezialisten! Die können dir das abnehmen!«

Dana hatte solche Videos gesehen. Der Junge konnte gar nichts tun. Irgendwo in einem der Häuser entlang der Straße, vielleicht sogar erst in den umliegenden Hügeln, versteckten sich die eigentlichen Angreifer. Mit einer Fernsteuerung für den Sprengstoff am Körper des Kindes.

Der Kleine machte noch einen Schritt.

Zitterte nun fast wie bei einem epileptischen Anfall.

»Kein Märtyrer«, sagte Ephramidis leise. »Das sieht man. Dieser Junge ist da nicht freiwillig. Wahrscheinlich haben die Terroristen seine Familie als Geiseln. Und ihn vor die Wahl gestellt. Entweder er geht. Oder sie töten seine gesamte Familie.« Er atmete schwer. »Vielleicht haben sie sogar schon ein oder zwei Familienmitglieder erschossen, um ihrer Drohung Nachdruck zu verleihen.«

Dana wurde schlecht.

Wie immer, wenn sie solche Aufnahmen sah.

Daran gewöhnst du dich nie.

»Stehen blieben!«

»Stopp!«

»Wir können dir helfen!«

Noch ein Schritt. Und noch einer. Der Junge stolperte mehr, als dass er lief. War das ein Brüllen? Oder Weinen? Oder beides?

Stimmen schrien durcheinander. Dann fielen Schüsse.

Das Bild verwackelte. Gleichzeitig ertönte ein gewaltiger Knall. Dann nur mehr Staub.

Dann Stille.

Mehr Gebrüll. Alle in Ordnung? Verletzt? Erwischt? Nein. Gut. Du auch. Ja. Noch alles dran.

Währenddessen lichtete sich der Staub langsam.

Da stand kein Junge mehr.

Das Gebrüll wurde leiser. Nur mehr vereinzelte Stimmen.

Wo der Junge gestanden hatte, gelaufen, gestolpert war, war nur ein kleiner Krater in der staubigen Straße zu sehen.

»Fuck!«, flüsterte eine der unsichtbaren Stimmen. Eine raue Männerstimme. Kratzig.

Dann hörte man eine andere ähnliche Stimme. Räusperte sich. Konnte ein Schluchzen kaum unterdrücken.

»Diese verdammten Schweine.«

Dana versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. Blinzelte mehrmals, um die Tränen in den Augen zu behalten. Blickte verstohlen zu den anderen. Die Lippen der zwei Richter schmale Striche. Die Richterin bleich.

Ephramidis klappte den Laptop zu.

Schwieg.

Niemand anders sagte etwas.

Schweigend ging Ephramidis an seinen Platz und setzte sich.

Wartete.

Dana kehrte an ihren Platz zurück. Neben ihr Vassilios.

Der Staatsanwalt ließ sich schwer atmend auf seinem Stuhl nieder.

Der jüngere Richter tat, als müsste er sich an der Wange kratzen. Dicht bei den Augen.

Jetzt besser schweigen, sagte sich Dana. Erstens bekommst du ohnehin kein Wort heraus. Außerdem gibt es dazu nichts zu sagen.

Dana hasste Ephramidis dafür. Und konnte es ihm gleichzeitig nicht verübeln.

Das waren die Opfer.

Auf beiden Seiten.

Erst das Rascheln der Roben hinter dem Richtertisch brach die lähmende Stille. Der Vorsitzende Michelakis räusperte sich.

Sagte nichts.

Räusperte sich noch einmal.

Ja. War nicht so leicht, jetzt etwas über die Lippen zu bringen.

Er wartete offenbar, dass Ephramidis sich erklärte. Immerhin hatte er die Sache angefangen.

Der Anwalt verstand das Zeichen.

Bevor Ephramidis zu sprechen begann, erhob sich Turner. Überrascht hielt der Anwalt inne. Derek wollte auch aufspringen. Neben ihm Alana und William. Das Reden sollte Turner den anderen überlassen.

»Euer Ehren«, sagte Turner.

»Mister President«, flüsterte William. »Ich denke, Sie sollten …«

Mit einem Blick brachte Turner ihn zum Schweigen.

»Mister Turner?«, forderte der Vorsitzende ihn zum Fortfahren auf.

»Sie haben dieses Video eben gesehen«, sagte Turner. »Das sind die Leute, gegen die die US -Armee und ihre Verbündeten kämpfen. Im Rahmen der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppen ISAF waren in Afghanistan übrigens auch schon griechische Soldaten stationiert.« Dass er dieses Detail wusste! »Und das war nur ein Beispiel von unendlich vielen während der vergangenen Jahrzehnte«, erklärte Turner ruhig mit seiner in Jahrzehnten des politischen Lebens geschulten Stimme. »Anschläge, oft mit Dutzenden oder Hunderten Toten, von denen wir alle paar Tage in den Nachrichten hören. Häufig unschuldige Zivilisten. Zudem verstecken sich die Terroristen unter Zivilisten. Bewusst. Nutzen Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Obwohl das, wie schon ausgeführt, laut allen internationalen Abkommen verboten ist. Und das wissen die Terroristen auch. Aus diesem illegalen Zustand heraus greifen sie an. Wie, haben wir gerade gesehen. In zahlreichen Staaten und Konflikten der Welt!« Nun erhob er die Stimme, holte Schwung. »Der Herr Staatsanwalt hat Geschichten und Bilder von Opfern?! An denen ich Schuld tragen soll?! Hunderte? Der ICC hat Protokolle und Interviews und Bilder von Opfern?! Deren Tod ich zu verantworten haben soll?! Vielleicht Tausende?!« Mit einer ausholenden Geste kündigte er mehr an. »Was glauben Sie, wie viele Bilder wir haben? Und Protokolle, Aussagen, Zeugen, Videos! Von Opfern jener, die sich an keine Regeln halten! In Kriegen, ach was Kriegen, Abschlachtungen, die seit Jahrzehnten Leben kosten! Die zu brutalster Unterdrückung, Ausbeutung, Verzweiflung, Tod führen!« Er senkte die Stimme, fuhr ganz leise fort. »Millionen sind es, Euer Ehren. Millionen und Abermillionen. Wir könnten Ihnen Bilder zeigen. Ganze Hallen voll von Bildern. Von den Opfern der Vigilanten, Warlords, Terroristen und anderen Barbaren, die wir zu stoppen versuchen. Wollen Sie Bilder sehen? Von Hunderten entführter Schulmädchen in Afrika? Wollen Sie Bilder sehen von Abertausenden Menschen, die von Autobomben und Selbstmordattentätern zerfetzt wurden? In Afghanistan, im Irak, in Somalia, Mali, in einem Dutzend anderer Staaten? Wollen Sie Bilder sehen von Steinigungen unschuldiger Frauen und Männer? Vom Abhacken von Händen, Füßen, Gliedmaßen, Enthauptungen, Kreuzigungen, Verbrennungen? Von Grausamkeiten, die Sie sich gar nicht ausmalen können?« Demonstrativ ratlos schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, dass diese Verbrecher gestoppt werden müssen. Das habe ich getan, als ich Präsident war. Mit gutem Grund und gutem Gewissen. Ich habe versucht, sie zu bekämpfen. Damit diese Gemetzel ein Ende haben. Damit die Menschen, Frauen, Kinder, in Freiheit und Frieden leben können.« Stolz straffte er sich noch ein wenig mehr. »Dafür wollen Sie mich einsperren?«