Vassilios’ Haus war eine geschmackvolle kleine Architektenvilla aus den Dreißigerjahren. Viele gerade Linien, viel Glas hatten die griechische Inselarchitektur für die damalige Zeit radikal modern interpretiert. Einst war dieses Haus wahrscheinlich ein Skandal gewesen. Wie bei ihrem ersten Besuch fühlte sich Dana sofort wohl darin.
Die Räume waren nicht so groß wie in modernen Villen, sondern klein und gemütlich. Sogar die originalen Einbaumöbel hatte der alte Anwalt restauriert.
»Mit meinen eigenen Händen«, erklärte er stolz. »Mein Hobby. Als Ausgleich für die viele Kopfarbeit.«
Im Wohnzimmer standen ein paar Fotografien. Vassilios mit seiner verstorbenen Frau. Vassilios am Steuer eines Flugzeugs. Vassilios neben einer viersitzigen Propellermaschine.
»Auch ein Hobby«, erklärte er. »Früher. Heute fliege ich nur noch hin und wieder mit.«
Danas Zimmer lag Richtung Nordwesten zu dem kleinen gepflegten Garten hin. Sie verstaute ihr Gepäck im Schrank, hängte ihre Kostüme und Blusen auf. Handtücher und sogar ein Bademantel lagen bereit, als erwartete Vassilios jederzeit Besuch. Ein Ort der Ruhe und des Rückzugs nach den verrückten Ereignissen der zurückliegenden Tage.
Sie zeigte ihrem Gastgeber den Artikel über Mgeba.
»Lesen Sie das. Was halten Sie davon?«
Während er ihn las, zog sie sich zurück.
Nach einer erfrischenden Dusche warf Dana ein leichtes Sommerkleid über und setzte sich mit nassen Haaren auf die kleine Terrasse, auf der sie schon am Vortag Derek Endvor und seine Truppe recherchiert hatten. Auf dem Tisch hatte Vassilios ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Mineralwasser bereitgestellt.
Eine Brise kühlte die brütende Resthitze des Spätnachmittags.
Umgezogen und wohl auch geduscht, gesellte sich Vassilios zu ihr. In einer Hand zwei Gläser, in der anderen eine Flasche Wein.
»Dieser Artikel über Mgeba«, sagte er und setzte sich. »Ich kenne Anatole ein wenig.«
»Ich kenne ihn sogar ganz gut«, sagte Dana.
»Von diesen Geschichten weiß ich nichts.«
»Ich habe auch noch nie davon gehört.«
»Nun, wahrscheinlich würde er sie in unserem Umfeld auch nicht erzählen«, sinnierte Vassilios. »Aber eigentlich kann ich sie nicht recht glauben.«
»Sie meinen, nach mir versuchen sie jetzt auch andere Mitglieder des ICC zu kompromittieren?«
»Kann gut sein. Vielleicht wollen sie damit auch den Vorwurf des missbräuchlichen Verfahrens untermauern. Nach dem Motto: Der Strafgerichtshof hat keine Beweise, sondern einzelne Richter wollen sich an Turner nur rächen. Völlig idiotisch, aber sie wollen dem Gericht einen Vorwand liefern, Turner freizulassen.«
Dana zögerte, dann erzählte sie ihm von dem Bild mit Alex und Derek.
Bevor Vassilios ein »Ich habe Sie gewarnt« oder »Habe ich befürchtet« loswerden konnte, schilderte sie ihm Alex’ Reaktion. Inzwischen hatte er fünf weitere Nachrichten hinterhergeschickt. Bislang hatte Dana widerstanden, sie zu öffnen.
Sie zeigte ihm das Foto.
»Hm«, machte er nur.
Als Nächstes erzählte sie ihm von der morgendlichen Nachricht, in der Alex angab, dass seine Freunde die Onlineverbreitung der Meldung über Derek Endvor und sein Team gepusht hätten.
»Ich verstehe ja«, sagte Vassilios, »dass Sie den schnuckeligen Kerl unschuldig haben möchten, aber …«
»Was soll das schnuckelig?«, erwiderte sie schlecht gelaunt. Wahrscheinlich weil er recht hatte.
»Ich sage ja nur«, entschuldigte sich Vassilios und schenkte Wein in die Gläser. Hastig schob Dana ihre Hand über das Glas.
»Aber das sieht nicht gut aus«, fügte er hinzu.
»Ich weiß«, seufzte sie.
»Trotzdem!«, rief Vassilios. »Wir haben einen Grund zum Feiern: eine weitere Nacht, die Turner in Haft bleiben muss! Jeder Tag ist ein Punkt für uns. Jamas!«
Nun gönnte sich Dana doch einen anständigen Schluck.
Du bist eine Schande!
»Sie schauen aber gar nicht glücklich aus«, stellte Vassilios fest, nachdem sie das Glas abgesetzt hatte.
Dana zögerte. Dann erzählte sie ihm von der Nachricht ihres Vaters.
»Er war noch zwei Jahre länger in der Belagerung von Sarajevo«, sagte Vassilios.
»Ja.«
Dana hatte ihm das nicht erzählt. Vassilios hatte seine Hausaufgaben gemacht. Kenne, mit wem du zusammenarbeitest.
»Sie haben ihm die richtige Antwort gegeben«, sagte Vassilios. »Aber es ist schwierig«, fügte er hinzu. »Wie löst man solche Konflikte? Wie löst man Konflikte generell? Nach welchen Kriterien? Rechtlichen? Politischen? Moralischen? Wo unterscheiden sich diese womöglich? Sie haben als Kind den großen Präzedenzfall der vergangenen Jahrzehnte am eigenen Leib erlebt.«
»Ich weiß«, sagte Dana. »Laut Völkerrecht hätten die NATO -Angriffe eine Resolution des UN -Sicherheitsrats benötigt. Die Russland und China verhinderten.«
»Mit den Angriffen brach die NATO also das Völkerrecht. Und dennoch … Stellen Sie sich vor, die NATO hätte damals nicht eingegriffen. Wer weiß, was aus Ihnen geworden wäre. Ob Sie überhaupt noch leben würden. Rein rechtlich gesehen war der Einsatz unzulässig. Aber politisch? Und moralisch? Immerhin stoppte er das wahnsinnige Völkermorden mit seinen über hunderttausend Opfern und Millionen von Vertriebenen.« Er seufzte. »Aber er verhinderte nicht, dass danach im Gegenzug Serbischstämmige aus bosnischen und kosovarischen Gebieten vertrieben wurden. Er verhinderte nicht, dass diese Gebiete bis heute politisch und ethnisch zerstritten, korrupt und bettelarm sind.«
»Dafür kann man aber nicht die NATO -Einsätze verantwortlich machen«, widersprach Dana. »Sondern die Menschen, die dort danach die Macht übernahmen. Oder denen man sie überließ.«
»Der Einsatz lieferte den USA eine prächtige Ausrede für den Angriff auf den Irak. Russland für seine Annexion der Krim und den Bürgerkrieg in der Ukraine.«
Nachdenklich betrachtete Vassilios sein fast leeres Glas. »Woran sollen wir uns festhalten, wenn alles zerfällt?«
»Vielleicht daran«, sagte Dana nach einer kurzen Pause, »dass manches doch besser wird. Nach den Jugoslawienkriegen definierte die UNO ihre Einsätze neu. Stattete sie besser aus. Die Menschenrechte wurden wichtiger im Völkerrecht. Politiker und Generäle können heute nicht mehr unter dem Mäntelchen der Immunität und staatlichen Souveränität ihre eigenen Bürger abschlachten – theoretisch zumindest.«
Sie wollte Vassilios nachschenken, da läutete ihr Telefon. Maria.
»Hast du schon die Geschichte über Anatole Mgeba gelesen?«, fragte Dana sie.
»Gelesen nicht, aber gehört. Schmutzkübelkampagne. Die Öffentlichkeitsarbeit kümmert sich darum. Wie auch immer: Glückwunsch! Vassilios in der Nähe?«
»Neben mir.«
»Stell kurz auf laut.«
Dana aktivierte die Lautsprecherfunktion und legte das Telefon auf den Tisch.
»Maria!«, rief Vassilios gut gelaunt. »Wo bist du?«
»In Den Haag«, schnaufte die Stimme aus dem Gerät. »Und da bleibe ich wohl noch, so wie es aussieht. Keine Chance auf einen Flieger nach Athen.«
»Dass die großen wie Lufthansa oder KLM sich nicht trauen, verstehe ich noch zum Teil«, sagte Vassilios. »Wenn die Amis deren Start-Lande-Rechte in den USA sperren und andere Staaten unter Druck setzen, können sie einpacken. Aber kleinere oder private …«
»Erst recht«, sagte Maria. »Ein Kleinunternehmen treibst du mit wenigen Maßnahmen ganz leicht in den Ruin.«
»Mein Angebot eines Fluges unter dem Radar steht weiterhin …«
»Nein. Wie gesagt: entweder anständig oder gar nicht.«
»Die Niederlande? Deutschland? Frankreich? Die EU ? Was ist mit dem Blocking Statute?«
»Diskutieren sie nun ernsthaft. Aber du weißt, wie das ist. Sie diskutieren lange genug, bis sich das Problem von allein löst.«
»Außerdem würde es ohnehin wenig helfen. Auto oder Zug?«
»Dauert zu lange. Ihr braucht mich ohnehin nicht, wie es aussieht.«
»Morgen stehen wir vor dem obersten Gericht. Das ist ein anderes Kaliber. Ich wette, da wird hinter den Kulissen längst auf höchster Ebene geschoben und geschachert und gedrückt und gedroht, was das Zeug hält. Nach allem, was heute geschehen ist.«
»Davon kannst du ausgehen. Da können wir ohnehin wenig machen.«
»Wir könnten versuchen, dich morgen zuschalten zu lassen«, schlug Dana vor.
»Habe ich auch schon überlegt«, sagte Maria.
»Ich kümmere mich darum«, sagte Dana mit einem Blick zu Vassilios: Helfen Sie mir dabei? Vassilios nickte.
»Ich muss weitermachen«, sagte Maria. »Wir hören uns.«
Weg war sie.
»Bullys«, schnaubte Vassilios und meinte die Amerikaner und ihre Blockade des ICC .
»Für mich ist es ein Zeichen der Angst«, sagte Dana. »Sie nehmen uns ernst genug, um uns zu drohen.«
Vassilios schüttelte nachdenklich den Kopf und erhob sich.
»Ich mache einmal ein paar Anrufe wegen Marias Zuschaltung«, sagte er. Vassilios verschwand im Haus.
Nach den Aufregungen des Tages genoss Dana die Ruhe der Laube. Sie sollte ein wenig ausspannen. Oder es wenigstens versuchen.
Doch ihre Gedanken kehrten unaufhörlich zu Alex zurück. Verwirrt versuchte sie zu ergründen, weshalb. Ärgerte sie sich, auf ihn hereingefallen zu sein? So arglos gewesen zu sein? Geradezu dumm? Doch wenn sie ehrlich zu sich war, weckte er Gefühle in ihr, die sie lange schon nicht mehr in dieser Form empfunden hatte. Das Bedürfnis, mit jemandem mehr Zeit zu verbringen und ihn näher kennenzulernen. Nicht unbedingt Schmetterlinge. Aber da war etwas.
Einen Augenblick lang zögerte sie. Dann gab sie Alex’ Namen in die Onlinesuchmaschinen ein.
Die Ergebnisse kamen sofort. Die ersten bargen nichts Spannendes. Postings auf sozialen Medien, ein paar Blogartikel. Sie bestätigten, was Alex ihr an den Vortagen über sich erzählt hatte. Ein unternehmungslustiger Mann, der sich aber in den sozialen Medien nicht anders inszenierte, als sie ihn kennengelernt hatte. Dana tippte sich ein paar Ergebnisseiten weiter. Nichts Auffälliges.
Wäre da nicht dieses Foto von heute Morgen.
Um sich abzulenken, wechselte sie in den Twitter-Feed.
Nach Haftbestätigung für Douglas Turner: US-Präsident Jones kündigt weitere Sanktionen an .
Dieses Mal hatte er nicht eigens einen TV -Termin anberaumt. Kurzfristig hatte er im Presseraum des Weißen Hauses ein Statement abgegeben. Flankiert von fünf Regierungsmitgliedern.
»Ab sofort sind US -Unternehmen Geschäfte mit griechischen Unternehmen untersagt«, erklärte US -Präsident Arthur Jones. »Zudem dürfen griechische Staatsbürger vorerst nicht mehr in die USA einreisen.«
»Jetzt brauchen wir das Blockade Statute!«, rief Nikólaos von seinem Bildschirm dazwischen.
Na klar, dachte der Ratsvorsitzende. Diesmal waren neben der Kommissionspräsidentin nur der Deutsche, der Franzose, Nikólaos, der Schwede, Spanien, Dänemark, Polen, Rumänien und Österreich in der Videoschaltung vertreten. Sie hörten weiter Arthur Jones’ Erklärung zu.
»Der US -Kongress hat außerdem einem Eilantrag stattgegeben, die seit zwei Jahren blockierte Lieferung von Militärequipment in Milliardenhöhe an die Türkei freizugeben.«
»Dieser Hurensohn!«, rief Nikólaos.
»Außerdem beunruhigt uns die Situation im östlichen Mittelmeer«, fuhr Jones fort. »Deshalb werden wir den ohnehin nur wenige Hundert Seemeilen entfernten Flugzeugträger Nemesis
und zwei Kreuzer in die Region senden.«
»Na bravo«, stöhnte der Schwede, »dort wird es bald keinen Platz mehr geben für all die Kriegsschiffe.«
»Das macht der doch nicht wegen des Gasstreits«, ereiferte sich der Däne.
»Ach nicht?«, bemerkte der Franzose spöttisch.
»Noch einmal möchte ich US -Bürger davor warnen, in dieser Sache mit dem International Criminal Court zusammenzuarbeiten«, erklärte Arthur Jones in seiner kurzen Ansprache. Steve sah auf seinem Telefon die Aufzeichnung eines US -TV -Senders, der den Link zum Video in den sozialen Medien geteilt hatte. »Wir wissen, dass jemand diesen Fehler begangen hat. Das ist laut US -Gesetzen ein schweres Verbrechen. Sie haben jetzt Ihre letzte Chance, die Sache wiedergutzumachen, Ihre Mitarbeit zu beenden und sich den US -Behörden zu stellen. Noch können wir Ihnen entgegenkommen.«