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Vassilios hatte den Tisch in der Laube mit griechischen Delikatessen gedeckt, Oliven, gefüllte Weinblätter, Käse, Gebäck, und eine Flasche Wein geöffnet. Hungrig und beherzt griff Dana zu.

»Sagen Sie, wie kommt es eigentlich, dass der Strafgerichtshof Sie hierhergeschickt hat?«, fragte Vassilios, während er es sich in einem windschiefen Korbsessel gemütlich machte.

»Wollen Sie die kurze oder die lange Version?«, seufzte Dana.

»Die lange. Wir hatten ja noch nicht wirklich Gelegenheit, uns kennenzulernen. Und heute Abend haben wir Zeit.«

»Dann müssen Sie aber auch ein bisschen aus der Schule plaudern«, grinste Dana. »Ich habe ja schon einiges von Ihnen gehört.«

»Abgemacht«, sagte Vassilios und goss beiden Retsina nach. »Bei der Gelegenheit«, sagte er und hob das Glas, »nach allem, was wir gemeinsam schon durchgemacht haben: Vassilios.«

Dana lächelte ihn an, hob ihr Glas.

»Dana.«

Sie trank, dachte kurz nach. »Wo fange ich am besten an?« Dana runzelte die Stirn und blickte auf das Meer, das in der Ferne zwischen ein paar Baumstämmen hindurchschimmerte. Die Dämmerung hatte es in ein tiefes Rotgold getaucht.

Vassilios fragte sanft: »Du bist ursprünglich aus Bosnien, so viel weiß ich.«

Dana schluckte.

»Ja, dort bin ich geboren. Sarajevo.«

Sie schwieg wieder. Vassilios lehnte sich vor, ohne etwas zu sagen.

Dana holte tief Luft und sprach weiter, etwas zu schnell: »Während der Belagerung der Stadt war ich ein kleines Kind, noch nicht einmal in der Schule. Meine Familie konnte nach Deutschland flüchten, wo ich wirklich Glück hatte. Eine Lehrerin nahm sich meiner an, ermutigte mich, in der Schule mitzumachen. Einmal ist sie sogar zu meinen Eltern nach Hause gekommen, um ihnen zu sagen, was für eine gute Schülerin ich bin und dass sie mir so viel wie möglich helfen sollten. Das war nicht einfach für meine Eltern, der Krieg hat viele Wunden hinterlassen. Aber irgendwie schafften wir es, und ich kam aufs Gymnasium. Dort war ich dann sogar Klassensprecherin, weil ich immer den Mund aufhatte, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. Und da war die Geschichte mit der Freundin, die abgeschoben wurde. Dann studierte ich eben Jura. Trocken, das meiste, muss ich zugeben. Eines Tages sah ich die Ankündigung zu einem Seminar über die Tätigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Da war es um mich geschehen. Ich bettelte den Professor an, mir ein Praktikum dort zu verschaffen. Schließlich gelang es, da das Tribunal immer Leute brauchen konnte, die Bosnisch sprachen. Na ja, und vor vier Jahren, nach dem Abschluss meiner Ausbildung und einiger Berufserfahrung, die ich noch sammeln wollte, habe ich mich dann in Den Haag beworben. Als ich die Zusage bekam, Vassilios … so gefeiert hatte ich lange nicht mehr!«

Vassilios hatte aufmerksam zugehört.

»Soll ich dir mal sagen, was ich ehrlich denke?«, fragte er und nahm einen großen Schluck Retsina.

»Bitte.«

»Ich weiß nicht, was der Strafgerichtshof sich bei der Anklage gedacht hat.«

Dana ließ fast ihr Glas fallen.

»Das sagst gerade du?«, stieß sie überrascht hervor.

»Versteh mich nicht falsch«, beeilte er sich zu sagen und machte eine beschwichtigende Geste, »Turner verdient es bestimmt, im Gefängnis zu sitzen, für die Vorwürfe des Strafgerichtshofs und überhaupt sein Kommando einer US -Armee, die immer mehr aus dem Ruder geraten ist. Aber der ganze Wirbel, die unglaublichen Ressourcen, die draufgehen, diese eine Anklage durchzubringen …«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Drehte das Glas zwischen den Fingern.

»Es gibt so viele Verbrechen, derer sich der Strafgerichtshof annehmen könnte, bei denen seit Jahren nichts vorangeht. Dieser Fall ist doch nur dazu da, ein Exempel zu statuieren …«

»Aber dazu wurde der Strafgerichtshof ja ins Leben gerufen«, warf Dana ein. Nun beugte sie sich vor, ihr Gesicht leicht erhitzt. »Um Exempel zu statuieren, meine ich. Nie war es die Idee, dass der Strafgerichtshof alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Kriegsverbrecher verfolgen könnte. Nur die schwersten dieser Verbrechen und die, die die größte Verantwortung tragen, und vor allem dort, wo sich kein anderes Gericht findet.« Sie bemerkte, wie sie in Fahrt geriet, und trank einen Schluck Wein, um sich zu bremsen, bevor sie ruhiger weitersprach. »Nie im Leben hätte sich Turner vor einem US -amerikanischen Gericht verantworten müssen. Und dass ihn ein anderes innerstaatliches Gericht anklagt, ist vollkommen unmöglich, das traut sich kein Land. Außerdem ist immer noch höchst umstritten, ob ehemalige Regierungschefs vor einem nationalen Gericht für internationale Verbrechen angeklagt werden dürfen. Da ist der ICC eben die große Ausnahme.«

»Wie du sagst«, hob Vassilios an, »nur die schwersten Verbrechen. So schlimm es ist, was Turner getan hat, ich denke, da gibt es viel Schlimmeres, was sich an diversen Kriegsschauplätzen abspielt.«

Dana stand auf und ging zum Geländer der Laube. Sie schaute zum Meer, dann drehte sie sich um und lehnte sich rücklings an das Geländer.

»Weißt du, was mich so zum Tribunal für das ehemalige Jugoslawien gezogen hat?«, fragte sie ihn. Blickte versonnen auf den Tisch mit den Köstlichkeiten. »Die Vorstellung, jemand könnte den Opfern zuhören. Jemand könnte mir zuhören, der Stimme eines kleinen Kindergartenkindes, das fürchterliche Dinge mit ansehen musste. Ein Kind, das zwei Jahre lang das Haus nicht verlassen durfte, weil es draußen zu gefährlich war. Die Vorstellung, jemand würde diese Stimme hören, wirklich hören. Jemand würde das Leid verstehen und erkennen, dass das nicht einfach ›der Krieg‹ war, weil ›im Krieg‹ schlimme Dinge passieren. Nein, dass all diese Toten, diese Angst und dieser Schrecken absichtlich von jemandem verursacht wurden, von einem Menschen, und dass dieser Mensch von der internationalen Gemeinschaft dafür verurteilt würde und ins Gefängnis müsste, wie jeder andere Mörder auch.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihr während ihrer Rede ins Gesicht gefallen war, so sehr bewegte sie die Diskussion. »Aber das ist nicht das Wichtigste«, fuhr sie fort. »Das Wichtigste ist, dass der Stimme ein Raum gegeben wird, vor einem international anerkannten, unabhängigen Gericht. Dem Strafgerichtshof kann man keine Siegerjustiz vorwerfen, er steht für etwas anderes.«

»Gerechtigkeit«, murmelte Vassilios und blickte an Dana vorbei aufs Wasser.

»Gerechtigkeit«, wiederholte Dana. »Du hast nie eine Verhandlung vor dem Strafgerichtshof gesehen?«

»Nein.«

»Wenn die Zeuginnen und Zeugen aussagen, ist die Stimmung im Raum unbeschreiblich. Es ist so bedrückend und gleichzeitig so befreiend. Wenn ich an Turner denke, denke ich gleichzeitig an die Abertausend Opfer, die sein ›Krieg gegen den Terror‹ verursacht hat. Keine Frage, die Drahtzieher terroristischer Anschläge gehören vor Gericht. Aber ihre Familien? Ihre Kinder? Ihre Nachbarn, ihre Cousins? Leute, die nur einen ähnlichen Namen tragen und vom Geheimdienst verwechselt werden? Womit haben sie es verdient, Nacht für Nacht vor den anrauschenden Hubschraubern zu zittern, vor dem Poltern an der Tür, oder tagelang das Brummen der Drohnen über ihren Köpfen zu hören?« Sie blickte kurz hoch in die Laube. »Oder noch schlimmer, dem blauen Himmel nicht mehr zu trauen, weil die Drohnen von diesem besser sehen als durch Wolken. Bis eine zuschlägt. Ich denke an die Kinder, die so aufwachsen. Und niemand verteidigt sie, nicht wirklich, weil gegen sie eine Macht steht, die die ganze Welt beherrscht. Die sich wirklich um die Menschenrechte verdient gemacht hat, aber in diesem verdammten Krieg gegen den Terror glaubt, sie kann alle Regeln neu schreiben.«

Vassilios stand ebenfalls auf und stellte sich neben Dana. Beide schwiegen. Die Sonne war nun verschwunden.

»Du bist überzeugt, dass ihr ausreichend Beweise für eine Verurteilung von Turner habt? Außer den Night Raids müsst ihr ja noch etwas haben.«

»Ja«, sagte Dana. »Maria schickt Stouvratos die Unterlagen.«

»Es würde mir helfen zu wissen, was es ist. Auch für die Vorbereitung der Verhandlung. Die Verteidigung wird sicher mit schweren Geschützen auffahren.«

Dana zog ihr Telefon hervor. »Vielleicht sind sie schon da.«

Sie überflog ihre neuen Nachrichten und Mails. Tatsächlich war jene von Maria vor ein paar Minuten eingetroffen.

»Hier«, sagte sie und zeigte sie Vassilios. »Die Staatsanwaltschaft hat die Unterlagen. Ich kenne das Teil zwar auswendig, aber sicherheitshalber hat sie mir noch einmal Kopien geschickt.«

Sie öffnete den Anhang und reichte Vassilios das Gerät. Er zog die Lesebrille aus der Brusttasche seines Hemdes, setzte sie auf und begann zu lesen.

Konzentriert scrollte er nach und nach über den Bildschirm, begleitet von gelegentlichen Schlucken Wein.

Nachdem er fertig war, seufzte er und sagte: »Dann bereiten wir uns wohl besser auf morgen vor. Du weißt, was die Verteidigung sagen wird, wenn wir die Anklagepunkte durchgehen?«

»Ja, ich weiß. Eine der großen Schwächen des Rom-Statuts, leider. Aber ich habe mit Maria gesprochen, und wir wissen, wie wir das Argument der Verteidigung aushebeln können.«

»Da bin ich gespannt.«

Vassilios’ besorgter Blick war der Begeisterung gewichen.

Er verschwand im Haus und kehrte gleich darauf mit einem Block und einem Stift zurück. Sie setzten sich wieder an den Tisch, ausgerüstet mit Schreibblock und Wein.

»Folgenden Präzedenzfall des Strafgerichtshofs wird Maria zur Grundlage der Anklage machen …«, sagte Dana und machte mit ihrer präzisen Handschrift Notizen.