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Vorsichtig lugte Dana durch den Vorhang aus dem Fenster.

Vor ihrer Tür wachten zwei Beamte. Im Hauseingang standen zwei weitere. Vor dem Haus parkten zwei unmarkierte Polizeiwagen mit je zwei Beamten.

Die Wohnung war ein einfacher Sechzigerjahrebau. Wohnzimmer mit Küchenecke, Schlafzimmer, Bad. Vielleicht vierzig Quadratmeter. Die Einrichtung war schlicht und funktionell. Wirkte fast wie von damals. Kirschholz, schwarze Metallstreben. Es roch süßlich nach Jasmin und Limonen. Ein schwerer Raumduft, der anderes übertönen sollte. Wie viele hatten sich hier schon eine sichere Unterkunft erhofft?

Verloren stand Dana in dem kleinen Wohnzimmer.

Ihr drittes Quartier an diesem Tag.

Erst jetzt begriff sie, dass ihr gesamtes Gepäck in Vassilios’ Haus geblieben war. Sie wusste nicht, ob etwas davon den Brand überlebt hatte. Ihr war nur das Kleid geblieben, das sie kurzerhand angezogen hatte. Es hatte schwarze Brand- und Rußflecken, war an einigen Stellen zerrissen und roch nach Rauch. Was sollte sie morgen für das Gericht anziehen?

Kurz entschlossen ging sie zur Wohnungstür. Öffnete sie. Die Polizisten auf ihren Stühlen wandten sich erschrocken um.

»Do you speak English?«

»Yes«, sagte der eine.

»Ich werde morgen früh Kleidung brauchen«, erklärte sie auf Englisch. »Kann mir jemand etwas besorgen?«

Der Mann sah sie verblüfft an, dann verwandelte sich seine Miene ins Säuerliche. Bin ich dein Dienstmädchen, oder so.

»Ihr Vorgesetzter meinte, ich kann mich mit allem an Sie wenden«, erinnerte ihn Dana. »Ich brauche eine Bluse, ein dunkles Kostüm. In small. Danke. Gute Nacht.«

Sie schloss die Tür.

Sie ließ sich in den Polstersessel fallen, der sich mit seinem Holzgestell in jedem trendigen Lokal gut gemacht hätte. Hier wirkte er nur alt.

Ob sie am Morgen tatsächlich etwas zum Anziehen bekommen würde? Es war ihr egal, merkte sie. Sie war so voller Wut und Entschlossenheit, dass sie in jedem Aufzug hingehen würde.

In einer der Taschen zwischen den Falten des Rocks spürte sie etwas Hartes.

Ihr Telefon.

Wie kam es, dass der moderne Mensch sich überall gleich weniger allein und fremd fühlte, wenn er sein Telefon in der Hand spürte? Das Netz- oder WLAN -Zeichen sah? Eine Verbindung zur Welt? War es das?

War ja klar. Dutzende neue Nachrichten.

Maria hatte versucht, sie anzurufen. Sie hörte die Nachricht auf der Mailbox ab. Sie endete mit »Ruf mich jederzeit an!«.

Dana wählte die Nummer. Maria Cruz hob nach dem zweiten Freizeichen ab.

»Gott sei Dank!«, stieß sie hervor. »Wie geht es dir?!«

»Besser als Vassilios. Er liegt im Krankenhaus.«

»Habe ich gehört. Hast du Polizeischutz?«

»Ja.«

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe nicht erwartet, dass sie so skrupellos sind.«

»Angeblich haben sich griechische Rechtsradikale zu dem Anschlag bekannt«, sagte Dana. »Das erklärte mir zumindest die Polizei.«

»Habe ich auch gehört. Von wem die wohl finanziert werden? Wie auch immer. Glaubst du, dass du morgen trotzdem zum Gericht kannst?«

»Auf jeden Fall. Ich habe mit Vassilios die Strategie durchgesprochen, auf die wir uns geeinigt haben.«

Kurze Stille in Den Haag.

»In Ordnung«, sagte Maria Cruz schließlich. »Ich habe bis jetzt noch keine Informationen darüber, ob ich zugeschaltet werde.«

Dana wusste nicht, ob Vassilios sich darum gekümmert hatte.

»Ich werde gleich noch einmal sehen, was ich tun kann!«

»Vergiss es«, sagte Maria. »Um diese Zeit erreichst du niemanden mehr.«

»Die müssen doch alle noch wach sein nach dem Anschlag!«

»Und wenn. Der Polizeichef und der Justizminister vielleicht. Aber die wirklich Wichtigen, die Techniker, schlafen.«

»Gibt es etwas Neues zu Anatole Mgeba?«, fragte Dana.

»Unsere Pressestelle hat vor zwei Stunden eine Gegendarstellung veröffentlicht. Hast du naturgemäß nicht mitbekommen.«

»Gut.«

»Ich bin jetzt auch dran«, sagte Maria. »Richtig fies. Ich leite einen Pädophilenring. Wie Hillary Clinton.«

»Du liebe Güte! Immer derselbe Scheiß. Fällt denen nichts Neues ein?«

»Pädophilie funktioniert eben immer. Wozu etwas Neues ausdenken? Deshalb klage ich angeblich Turner an, weil mir die US -Behörden auf der Spur sind. Um davon abzulenken. Schwachsinniger geht es kaum. Bis jetzt taucht es aber nur in den üblichen rechten Verschwörungstheoriezirkeln auf.«

»Von dort zieht es dann gern und schnell weitere Kreise.«

»Dagegen kann ich jetzt nichts machen. Dich haben sie ja auch schon ganz schön hergenommen.«

»Das Demofoto war einfach fies. Die Sache hier in Athen war ungeschickt von mir.«

»Allerdings.«

»Sorry.«

Wieder kurze Stille.

»Pass auf dich auf. Viel Glück morgen. Gute Nacht. Oder was davon noch übrig ist.«

Es war kurz vor drei Uhr morgens. Viel von der Nacht blieb ihr nicht mehr. Wenn sie überhaupt schlafen konnte. Noch war sie zu aufgewühlt.

Der Polizeichef hatte ihr seine Nummer gegeben. Sie rief ihn an. Er hob sofort ab. Sie erklärte ihm ihr Anliegen. Dass sie mit dem Justizminister sprechen wolle. Mit dem Gerichtschef. Wer immer zuständig war.

»Ich werde mich darum kümmern«, sagte er. »Aber ich kann nichts versprechen.«

»Deshalb möchte ich persönlich mit dem Verantwortlichen sprechen.«

Der Mann hatte den Zugang zu dem Zuständigen, Dana nicht. Mit einem Mal fühlte sie sich hilflos.

»Gehen Sie schlafen«, sagte er. »Ich sehe zu, was ich tun kann.«

Das hatte sie an diesem Abend in der Sache schon einmal gehört. Derjenige, der es gesagt hatte, lag nun im Krankenhaus. Der Polizeichef beendete das Gespräch. Kurz überlegte Dana, was sie noch versuchen könnte. Da übermannte sie die Erschöpfung.

Sie zog das zerstörte Kleid aus, das T-Shirt und den Slip, die ähnlich ramponiert waren und geräuchert rochen, und stellte sich unter die Dusche. In einen dünnen Bademantel gewickelt, warf sie sich auf das Bett. Schlafen konnte sie jetzt nicht. Sie hatte nicht einmal ein Nachthemd. Oder ein sauberes T-Shirt oder Unterwäsche. Im Wohnzimmer würde ein Fernseher stehen. Da hatte sie jedoch keine Lust drauf. Womöglich nur griechische Sender. War ja kein Hotel. Überhaupt: Wer sah heutzutage noch fern?

Blieb das Telefon.

Sie hatte kein Aufladegerät. Siebenundsechzig Prozent geladen. Fürs Erste würde das genügen. Noch einmal würde sie nicht zu den Polizisten hinausgehen.

Alex hatte sieben weitere Nachrichten geschickt. Und zwölf Mal versucht, sie anzurufen!

Sie haderte mit sich.

Sie wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Dann hörte sie die Nachrichten auf der Mailbox doch ab. Die erste stammte vom vorigen Abend, gegen halb acht. Vor dem Anschlag.

»Alex hier. Bitte ruf mich zurück. Es ist wichtig. Wegen dieses Fotos. Es ist gefälscht. Ehrlich.«

Die zweite hatte er um halb zehn hinterlassen.

»Wieder Alex. Bitte, ruf mich zurück. Dieses verdammte Bild – es ist gefakt. Ich kann es beweisen!«

Die dritte, vierte und fünfte stammten aus den vergangenen eineinhalb Stunden.

»Alex hier. Wie geht es dir? Warst du dort? Bei dem Anschlag? Ist alles in Ordnung? Bitte melde dich? Geht es dir gut?!«

»Alex. Einige Sender behaupten, du warst dort. Sie berichten nichts davon, wie es dir geht. Nur dass es Opfer gibt, die ins Krankenhaus gebracht wurden. Bitte, melde dich, wenn es geht!«

»Ich bete, dass es dir gut geht! Und du nur wegen des Fotos sauer auf mich bist. Bitte lies die Nachrichten, die ich dir geschickt habe!«

Fast warf sie das Telefon weg vor Schreck, als es in ihrer Hand zu vibrieren begann. Wer rief jetzt noch an?, schoss es ihr durch den Kopf. Panik schüttelte sie. War etwas mit Vassilios geschehen?! Dann erkannte sie die Nummer.

»Mama?!«, rief sie fast ins Telefon.

Zuerst hörte sie nur atmen.

»Wie geht es dir?«, fragte die raue Stimme ihres Vaters schließlich. »Bin ich froh, dich zu hören.«

Dana brachte kein Wort hervor. Ihre Augen wurden feucht.

»Papa«, stammelte sie schließlich. »Danke. Ich bin gesund und unverletzt.«

Wieder nur Atmen in ihrem Ohr.

Dann hörte sie ihn durch den Hörer schluchzen.

Mit einem Mal vernahm sie wieder das ferne und nahe Dröhnen der Mörsereinschläge in Sarajevo.

Einen langen Moment schwiegen sie beide.

»Es … es tut mir leid«, sagte er endlich. Sie hörte den Kloß in seinem Hals.

»Mit mir ist alles in Ordn…«, sagte sie, doch er unterbrach sie.

»Es tut mir leid, was ich dir geschrieben habe«, sagte er, die Stimme noch kratziger als zuvor. »Dass … ich …«, er verstummte.

»Ich weiß«, sagte Dana leise.

»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, sagte er.

»Ja.«

»Schlaf jetzt.«

»Du auch.«

Dana wusste nicht, wie lange sie an die Wand gestarrt hatte, bis sie sich endlich die Augen trocken wischte. Sie ging ins Bad und putzte sich die Nase, wusch noch einmal das Gesicht.

Auf dem Bett lag ihr Telefon. Mit einer neuen Nachricht von Alex.

Zögerlich strichen ihre Finger um den Rand des Geräts. Dann tippte sie Alex’ Nachrichten an.

Das ist Fake! Die wollen dich damit fertigmachen! Ich habe den nie getroffen! Das schwöre ich!

In der zweiten bat er nur, dass sie sich melde, und beteuerte erneut, dass das Bild eine Fälschung sei. Eine Nachricht von kurz vor Mitternacht war deutlich länger. Das musste etwa zu jener Zeit gewesen sein, als vor Vassilios’ Haus das Auto explodierte.

Der Text wurde von mehreren Bildern unterbrochen.

Dana überflog ihn.

Alex behauptete darin, den Beweis für die Fälschung des Bildes zu liefern. Stavros und weitere Freunde hätten ihn erarbeitet. Als ersten Hinweis präsentierte er zwei Bilder vom vergangenen Abend in der Bar, auf denen er zu sehen war und die in zahlreichen Onlineberichten zu finden waren, von denen er einige verlinkt hatte. Diese Fotos mussten unmittelbar hintereinander gemacht worden sein.

Als Nächstes hatten seine Freunde aus der Aufnahme mit Derek Endvor den Teil mit Alex herausgelöst, sodass er allein dastand.

Im folgenden Bild hatten sie Alex auch aus den zwei anderen Fotos isoliert. Die drei freigestellten Alex hatten sie nebeneinander angeordnet, den aus dem Bild mit Derek zwischen den anderen.

So gesehen konnte man meinen, es sei eine Fotoreihe. Innerhalb einer oder zwei Sekunden geschossen. Sollte zeigen: Alex’ Bild stammte eigentlich aus dieser Serie und war in eines mit Derek Endvor montiert worden.

Als Nächstes erklärte Alex etwas über Programme, die manipulierte Fotos erkennen konnten. Dazu wieder diverse Links zu professionellen Seiten.

Da hatte sich jemand Mühe gegeben, sie zu überzeugen. Dana hatte nicht mehr die Nerven, die Quellen genauer zu studieren.

Ergebnis der ellenlangen Nachricht: Das Foto war gefälscht. Behaupteten wenigstens Alex und seine Freunde.

Zu guter Letzt hatte er noch Links zu Seiten im Internet hinzugefügt, auf denen sie den angeblichen Beweis veröffentlicht hatten, sodass alle Welt ihn sehen und überprüfen konnte. Open Source, sozusagen. In den Kommentarbereichen hatte sich bereits eine heftige Diskussion entwickelt.

Die meisten Beiträge unterstützten die Erklärungen. Andere waren skeptisch. Oder widersprachen glatt. Wurden von wieder anderen mit einleuchtend klingenden Argumenten widerlegt.

Du willst, dass sie einleuchtend klingen, dachte Dana. Sie schloss die Nachrichten.

Wenigstens war es hier auf der Straße ruhig. Keine Demonstranten. So gut wie kein Verkehr.

Endlich spürte Dana etwas wie Müdigkeit. Es war fast vier Uhr morgens.

Sie stellte den Wecker auf sieben Uhr, legte das Telefon auf das Nachttischchen und schaltete das Licht aus. Zog den Bademantel aus, der ihr für die Nacht zu warm werden würde, und schlüpfte unter das dünne Leintuch, das als Decke diente. Ein paarmal warf sie sich hin und her, bis sie eine angenehme Schlafhaltung gefunden hatte.

Dann drehte sie sich um und griff zum Telefon.

Aktivierte Alex’ Beweisnachricht und tippte eine Antwort.

Bin den Umständen entsprechend okay. Muss morgen früh raus. Gute Nacht.