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Der Weckton des Handys war eine sanfte Melodie. Und doch wie eine Sirene. Dana fühlte sich wie ein gefällter Baum. Ihr ganzer Körper schmerzte. Einfach liegen bleiben dürfen … Wo war sie überhaupt?

Die sichere Wohnung.

Immerhin hatte sie keine Vergangenheitsträume in dieser Nacht gehabt. Zumindest konnte sie sich an keinen erinnern. Die Gegenwart war aufwühlend genug.

Mühselig schleppte sie sich ins Bad.

Sie sah nur eine Möglichkeit, Leben in sich zurückzupumpen.

Tief Luft holen und die Dusche auf eiskalt.

Ein paar Minuten später stand sie mit nassem, gekämmtem Haar in der Küche und hatte das Telefon am Ohr.

Nach dem dritten Freizeichen meldete sich eine Frauenstimme auf Griechisch. Dana versuchte es auf Englisch. Die Frau holte eine Kollegin. Dana fragte noch einmal.

»Herr Zanakis hatte eine ruhige Nacht«, erklärte diese Dana. »Er schläft noch.«

Dana dankte ihr erleichtert.

Nächste Station: im Bademantel an die Tür. Als sie öffnete, schreckten die Polizisten von ihren Stühlen aus dem Schlaf.

»Guten Morgen!«

Derjenige, den sie am Vorabend um Kleidung gebeten hatte, sprang auf und richtete sein Jackett. Erst jetzt sah Dana die fahrbare Kleiderstange neben ihm.

»Hier«, sagte er verschlafen, aber freundlicher als in der Nacht und schob sie zu ihr. »Ich hoffe, das passt.«

Dana bedankte sich mit einem Lächeln und zog sich in das Apartment zurück.

Drei Blusen. Drei Kostüme. Grau. Blau. Beige. Dana entschied sich für das beigefarbene. Bluse und Rock passten.

In der Küchenecke fand sie Brot, Butter, Marmelade, Müsli, Käse und Schinken, eine Gurke, ein paar Tomaten, Trauben, zwei Birnen, Milch, Joghurt, Tee, eine Kaffeemaschine für Pads.

Als Erstes einen Kaffee.

Während die Maschine ratterte, meldete das Telefon mit leisen Bing-Tönen neue Nachrichten.

Mehrere verpasste Anrufe von Henk mitten in der Nacht. Hatte sie im Wirbel der Ereignisse natürlich nicht mitbekommen.

Textnachrichten.

Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung? Melde dich bitte!

Mehrere von der Sorte. Immerhin, er zeigte sich besorgt. Die letzte lautete:

Was muss noch passieren, damit ihr aufhört? Die wollten euch umbringen! Gestern ist es ihnen nicht gelungen. Morgen womöglich schon. Lasst die Anklage fallen! Komm heim!

Dana war nicht einmal mehr enttäuscht. Wenn, dann von sich selbst und ihrer Geduld in dieser Beziehung. Sie wechselte zu den Nachrichten.

Der Anschlag beherrschte die Schlagzeilen. Nichts über Vassilios’ Zustand. Dafür fand sie mehrere Interviews mit Schutzsuchenden in Lagern auf den griechischen Inseln, die seit dem Vorabend auch bei großen Medien liefen. Drei Männer verschiedenen Alters, eine junge Frau mit einem schmutzigen Kind auf dem Arm, eine ältere Frau mit zerfurchtem Gesicht. Sie standen in den armseligen Kulissen von Flüchtlingslagern und schimpften über die Verhaftung Turners. Die Amerikaner hätten ihnen immer geholfen. In Afghanistan, im Irak. Gäbe es mehr wie ihn, hätten sie nicht von daheim und vor islamistischen Extremisten fliehen müssen. Natürlich. Wer diese Videos wohl initiiert hatte. Die Absicht war so durchschaubar wie schäbig. Und trotzdem würde es bei dem einen oder der anderen verfangen.

Wütend wechselte Dana zurück zu den persönlichen Nachrichten.

Alex hatte zwei neue geschickt.

Das solltest du sehen: über den Vorsitzenden des Berufungsgerichts heute.

Zur Info: Artikel von Freunden zur Kampagne gegen euch.

Dana öffnete die erste Nachricht. Sie bestand im Wesentlichen aus einer Fotoserie und einem Video. Aufgenommen im abendlichen Dämmerlicht aus einiger Entfernung. Manchmal tauchten unscharfe Silhouetten von Blättern, Gegenständen oder Personen am Bildrand oder im Vordergrund auf. Darauf zu sehen war ein älterer Mann, der in ein Taxi stieg. Das Auto, wie es durch die Stadt fuhr. Und schließlich hinter einem schmiedeeisernen Tor in einem parkartigen Gelände verschwand.

Konstanidis Konstanidis, Vorsitzender des Berufungsgerichts, fuhr gestern Abend in die Villa des Justizministers. Dort blieb er etwa zwei Stunden, bevor er wieder nach Hause fuhr. Freunde von Stavros, Manolis und den anderen hatten ein Auge darauf. Dreimal darf man raten, worum es dabei ging. Die Story geht zum Prozessbeginn heute Vormittag online und an die Medien. Dachte, das könnte interessant für dich sein.

Auf jeden Fall gut zu wissen. Dana öffnete die zweite Nachricht. Darin wieder ein ellenlanger Roman. Dana bereitete sich noch einen Kaffee zu. Kippte etwas Müsli in den Joghurt und löffelte es abwesend in sich hinein, während sie den Text überflog.

Ausführlich erklärten die Verfasser, wie die mediale Kampagne gegen den ICC seit Turners Verhaftung geführt wurde. Besonderes Augenmerk legten sie dabei auf die Miss- und Desinformationen. Von dem Bild aus Danas Studententagen auf der Klimademo über jene mit Alex und den anderen in Exarchia bis hin zur Verleumdung von Anatole Mgeba und Maria Cruz. Für alle brachten sie Aufklärungen und Berichtigungen. Dazu erklärten sie in aller Breite, unterstützt von zahlreichen Screenshots und Links, wie diese Informationen über soziale Medien gepusht wurden. In akribisch recherchierten Beispielen belegten sie, dass die angeblichen Informationen ihren Ausgang bei einigen wenigen Social-Media-Konten hatten, die schon in zahlreichen früheren Beispielen für Schmutzkübelkampagnen und vorwiegend rechtskonservative bis -radikale Propaganda verantwortlich waren. Von dort fluteten sie dank klassischer und sich ständig erneuernder Medienkrieg-Werkzeuge wie etwa AI -gesteuerten Bot-Armeen das Internet und die Hirne der User. In einigen dieser früheren Fälle hatten schon damals andere investigative Journalisten und Aktivisten nachgewiesen, dass sie im Wesentlichen von einem ehemaligen CIA -Mitarbeiter betrieben wurden, der einige Jahre lang auch im Team eines republikanischen Abgeordneten beschäftigt gewesen war.

Der Text war so lang, dass Dana ihn schließlich nur noch abschnittsweise überflog. Er belegte, was allen klar war, die die Situation beobachteten: dass die Amerikaner eine massive Verleumdungskampagne gegen den ICC und dessen Mitarbeiter fuhren. Was zu erwarten gewesen war. Nun konnte sich jeder ein Bild machen, wie das vonstattenging. Mehr auch nicht. Viele würden den Text nicht lesen. Dafür war er zu faktenreich und zu ausführlich. Ändern würde er nichts. Interessant fand sie ihn dennoch. Zeigte er der Gegenseite doch, dass man ihre Instrumente immerhin kannte.

Zugleich ertappte sie sich dabei, dass die Strategie, mittels Miss- und Desinformation vor allem Verwirrung und Unsicherheit zu stiften, auch ihr Vertrauen in Information erschütterte. Sie fühlte sich unsicher und gestärkt zugleich. Von anonymen, nicht greifbaren Feinden mit einem gigantischen Tsunami von Dreck und Müll und Gemeinheiten und Drohungen zugeschüttet zu werden hatte sie zutiefst hilflos gemacht. Gleichzeitig jedoch halfen ihr die Erklärungen dabei zu verstehen, was geschah. Wer dahintersteckte. Wodurch der Feind doch ein Gesicht bekam. Und Verteidigungsmaßnahmen ein Ziel.

Mehrmals fragte sie sich während der Lektüre, ob Alex all das nur inszenierte, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen.

»Die Geschichte geht gleich online«, schrieb er abschließend.

Immerhin, dachte Dana. Wie schon mit dem Artikel zur angeblichen Fälschung des Bildes von Alex und Derek Endvor vergangene Nacht stellten sie sich auch mit diesem der öffentlichen Kritik und Debatte. Oder trugen nur bei zur weiteren Verwirrung. Oder größerem Misstrauen.

Wem konnte sie noch vertrauen?

Sie zögerte kurz, dann suchte sie die Kontaktdaten von Staatsanwalt Stouvratos auf ihrem Telefon. Fand sie. Begann eine Nachricht zu tippen.