An diesem Morgen fuhr ein Polizeiwagen Dana zum Gericht. Zum ersten Mal wartete Vassilios nicht bei der Sicherheitskontrolle. Zum ersten Mal musste sie allein zum Verhandlungssaal gehen.
Sie war auf halbem Weg zum Gerichtssaal, als ein mittelgroßer Endfünfziger mit kurz gestutztem grauem Bart und Haar auf sie zukam. Sie erkannte ihn sofort. Von den Bildern, die Alex ihr heute Morgen geschickt hatte. Konstanidis Konstanidis, der Vorsitzende des Berufungsgerichts. Hatte in Harvard studiert, erinnerte sich Dana. Er blieb vor ihr stehen.
»Guten Morgen«, sagte er »Ich bin froh, Sie gesund hier zu sehen«, fuhr er in tadellosem Englisch mit amerikanischem Akzent fort. Unter dem Talar zeichnete sich ein Bäuchlein ab. Dana fand, dass er auffallend große Hände und dicke Finger hatte. »Es tut mir sehr leid, was heute Nacht geschehen ist. Ich hoffe, Vassilios geht es gut.«
»Er liegt im Krankenhaus«, sagte Dana.
»Ich hoffe, sie finden die Kerle.«
Dana nickte.
»Könnte ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?«, fragte er.
Dana wusste sofort: Der Richter wollte nicht über Formalitäten plaudern.
»Als Vertreterin des ICC «, fügte der Richter mit einem offenen Lächeln hinzu.
Dana sah sich um. Außer ihnen war noch niemand zu sehen.
»Wir sind ungestört«, sagte sie.
»Vielleicht gehen wir trotzdem an einen weniger exponierten Ort«, erwiderte er.
Dana blieb misstrauisch. Regulär war das nicht. Nach seinem gestrigen Besuch beim Justizminister war diesem Richter alles zuzutrauen. Aber regulär war an diesem Verfahren ohnehin nichts mehr. Besser vorgewarnt, als im Gerichtssaal dumm dazustehen, dachte sie und folgte ihm durch den Flur am Eingang des Gerichtssaals vorbei in ein Besprechungszimmer, das dahinterliegen musste.
»Geht es um die Zuschaltung von Maria Cruz?«, fragte Dana.
»Es tut mir leid«, erwiderte er. »Es sieht nicht so aus, als bekämen wir das hin. Aus rechtlichen, technischen und Sicherheitsgründen. Uns fehlt schlicht das Equipment, um eine sichere Übertragung zu gewährleisten. Und der ICC will bestimmt nicht, dass die Übertragung gehackt werden könnte.«
Warum war Dana nicht überrascht? Es war alles nur mehr lächerlich!
Der Richter bot ihr einen Stuhl an.
»Nach gegenwärtigem Stand der Dinge«, sagte er, sobald sie saßen, »werde ich Douglas Turner freilassen.«
Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Dana blieb gelassen. Sie hatte mit so etwas gerechnet.
»Sie haben unseren Berufungsantrag noch nicht gesehen. Wir werden neue Beweise vorlegen.«
»Natürlich. Trotzdem. Sie haben keine Chance, Turner nach Den Haag zu bekommen«, fuhr er enttäuscht über Danas Ruhe fort, »das muss Ihnen doch selbst klar sein. Sie und der Gerichtshof haben Ihr Zeichen gesetzt. Ihren Punkt gemacht. Aber jetzt ist es genug. Der ICC hatte seine Chance, Beweise vorzulegen. Und sie vergeigt. Wir können diesem Theater nicht länger zusehen. Die Amerikaner drohen mit der Vernichtung unserer Wirtschaft. Und Ihre aktuelle Heimat ist als Nächstes dran. Wir stehen knapp vor einem Krieg mit der Türkei, die in der Sache plötzlich von den USA ermutigt, wenn nicht gar unterstützt wird. Sie haben doch auch eine Verantwortung! Deswegen werde ich es heute beenden. Ich gebe Ihnen die Chance, dabei das Gesicht des ICC zu wahren. Indem nicht das Gericht gegen die Haft entscheidet. Sondern weil der ICC den Haftbefehl von sich aus zurücknimmt. Kurz: Lassen Sie die Anklage fallen. Das ist für alle die beste Lösung.«
Sein Blick fixierte Dana. Suchte in ihren Augen nach Zeichen von Angst, Verunsicherung, Einschüchterung, Zorn. Irgendeinem Gefühl der Schwäche, bei dem er einhaken konnte.
Dana verweigerte ihm den Gefallen. Stattdessen deutete sie ein Lächeln an.
»Der ICC wahrt sein Gesicht«, setzte der Richter hinzu, nun sichtlich um Beherrschung bemüht, »weil er selbstständig eine Entscheidung trifft. Die Amerikaner bekommen ihr Gesicht zurück, weil ihr Ex-Präsident von der Anklage befreit ist. Und die griechische Gerichtsbarkeit wahrt ihr Gesicht, weil sie Recht und Gesetz Genüge getan hat.«
Danas Lächeln wurde breiter.
»Das erzählen Sie mir so einfach nach dem, was heute Nacht vorgefallen ist?«, fragte Dana. »Man versucht, Recht und Gerechtigkeit mit Gewalt mundtot zu machen, und Sie unterstützen das?«
»Nichts liegt mir ferner«, erwiderte er, »und das wissen Sie. Sie wissen aber auch, dass Sie in dieser Geschichte nicht gewinnen können. Sie sind schon viel weiter gekommen, als irgendwer geglaubt hätte. Douglas Turner, eine ehemaliger US -Präsident, saß im Gefängnis. Betrachten Sie das als Ihren Sieg.«
»Es geht nicht darum«, sagte Dana, »ob ich etwas gewinne. Oder verliere. Es geht darum, dass Tausende unschuldiger Menschen ermordet wurden. Und in Zukunft werden mehr und mehr Opfer dazukommen, wenn so weitergemacht wird wie bisher. Es geht darum, dass jemand die Verantwortung dafür trägt. Und dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Und ein klares Signal für alle gesetzt wird, die glauben, sie könnten es den USA nachmachen, weil die internationale Gemeinschaft untätig zusieht. Sie«, fügte sie hinzu, »sind sogar in der vergleichsweise komfortablen Situation, darüber gar nicht entscheiden zu müssen. Sie müssen nur bestätigen, dass die vier Bedingungen für Turners Verhaftung eingehalten wurden. Lassen Sie uns diesen einen Beweis vorlegen. Die Entscheidung über seine Verantwortung, seine Schuld oder Unschuld fällt das Gericht in Den Haag. Im Vergleich sind Sie fein raus.«
»Wie gesagt, das sehe ich nicht.«
Dana musterte ihn. Sie hatte noch mehr Argumente. Alex hatte sie ihr heute Morgen geliefert. Sollte sie so weit gehen? Durfte sie? Wie oft hatten sie in Den Haag diskutiert, dass dieser ganze Prozess nur zu einem geringen Teil auf der juristischen Ebene entschieden wurde. Wie viel wichtiger die Rolle der Politik dabei war. Wie entscheidend auch jene der Kommunikation. Als Juristin hatte sie sich trotzdem immer in den Bereich von Recht und Gesetz zurückgezogen. Politik hatte sie bis jetzt Maria erledigen lassen. Oder, in den vergangenen Tagen, Vassilios. Kommunikation hatte sie den Presseabteilungen überlassen. In den letzten Stunden hatten ihr Alex’ Freunde hilfreich zur Seite gestanden. Sie hatte sich nicht kümmern müssen. War nicht das Risiko eingegangen, sich die Finger schmutzig zu machen.
Bis jetzt hatte sie sich seinen Vortrag im Stuhl zurückgelehnt angehört, die Hände locker auf den Lehnen. Nun richtete sie sich auf. Spürte, wie sich ihr Rücken unwillkürlich straffte. Wie eine nie gekannte Wut, aber auch Selbstsicherheit sie erfüllten.
»Zugegeben«, sagte sie, »ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken«, und zog ihr Telefon hervor. »Sie stehen unter enormem Druck.« Sie öffnete die Fotos, die zeigten, wie der Richter vor seiner Wohnung in das Taxi stieg. Wie er in dem Taxi durch Athen fuhr. Bis dieses in die Auffahrt der Villa des Justizministers verschwand.
»Ebenso wie Ihr Justizminister«, sagte sie und zeigte ihm die Bilder. »Nicht wahr?«
Der Richter betrachtete die Bilder wortlos. Nur sein Mundwinkel zuckte kurz.
»Das sind Standaufnahmen eines Videos, das bereits online zu finden ist«, erklärte sie. »Bald werden es mehr Menschen sehen. Sehr viele Menschen. Und sich fragen, was der Justizminister und der Vorsitzende eines unabhängigen Gerichts im Fall des Douglas Turner am Vorabend der entscheidenden Verhandlung so Wichtiges zu besprechen hatten.«
Nun war sie es, die auf eine Reaktion wartete.
»Von wem sind diese Bilder?«, fragte er.
»Da fragen Sie die Falsche. Die wichtigere Frage ist ohnehin: Wie werden Sie handeln angesichts dieser Bilder? Das sähe nicht gut aus, wenn Ihr Gericht einen Antrag auf Vorlage von Beweisen zurückweisen würde, nur um eine politisch motivierte Entscheidung treffen zu können, nicht wahr? Sie sprachen gerade davon, das Gesicht der griechischen Justiz wahren zu wollen. Und der Justizminister will das sicher auch. Dieses Gesicht werden wohl Sie sein. Es liegt an Ihnen.«
Als Dana den Gerichtssaal betrat, standen die Amerikaner bereits an ihren Plätzen. Kaum hatten sie Dana gesehen, eilten sie auf sie zu. Derek Endvor erreichte sie als Erster.
»Guten Tag!«, sagte er. »Ich freue mich aufrichtig, Sie hier zu sehen!« In Danas Ohren klang er sogar ehrlich. »Ich möchte Ihnen in unser aller Namen unsere Abscheu über die ungeheuerlichen Ereignisse der vergangenen Nacht ausdrücken. Diese Tat wird von uns zutiefst verurteilt. Wir werden die griechischen Behörden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, dieses Verbrechen aufzuklären.«
»Danke«, sagte Dana kühl. »Fangen wir mit der Aufklärung von Verbrechen doch gleich bei Douglas Turner an.« Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und begab sich an ihren Platz. Stouvratos und seine Mitarbeiterin saßen bereits an ihrem Tisch. Der Staatsanwalt erkundigte sich nach Vassilios. Dana berichtete ihm, was sie wusste.
»Die Dokumente des Strafgerichtshofs haben Sie bekommen, habe ich gesehen«, sagte sie.
»Ja«, meinte Stouvratos.
»Haben Sie die Unterlagen ausgedruckt, die ich Ihnen heute Morgen geschickt habe?«, fragte sie ihn dann.
Er reichte ihr einen Stapel Papier. Dana blätterte ihn kurz durch.
»Danke.«
Das Berufungsgericht setzte sich aus drei Männern zusammen. Konstanidis führte den Vorsitz. Die beiden anderen waren jünger. Einer Mitte vierzig, ein drahtiger mittelgroßer Läufertyp. Bartlos, der Kopf geschoren. Der andere trug einen beeindruckenden Schnurrbart und kecke Löckchen. Der Bauch unter seinem Talar war deutlich größer als bei seinem Vorsitzenden. Ihre Namen standen in den Unterlagen, die sie gestern noch bekommen hatte.
Nachdem Konstanidis sie begrüßt hatte, setzten sich alle außer Ephramidis.
»Der Herr Anwalt hat es wohl eilig«, stellte Konstanidis auch fest. »Dann, bitte.«
»Wir weisen neuerlich daraufhin«, erklärte Ephramidis, »dass der Haftbefehl des ICC gegen unseren Mandanten missbräuchlich ist. Neue Beweise dafür finden sich seit gestern auch in allen Medien. Diese Beweise machen jede weitere Erörterung der Vorwürfe des Strafgerichtshofs überflüssig. Wir wissen nun, dass der Haftbefehl konstruiert wurde, um meinen Mandanten zu demütigen und zu verleumden.«
Er trat vor den Richtertisch und legte eine schmale Akte hin. »Diese Berichte zeigen, dass bei mehreren Mitgliedern des Strafgerichtshofs persönliche Gründe eine wesentliche Rolle für die Anklage spielen. Das beginnt bei der lokalen Repräsentierenden, Dana Marin, die dort drüben sitzt!« Er zeigte mit dem Finger auf sie! Waren sie hier im Fernsehen? »Schon als Jugendliche demonstrierte sie mit Kommunisten gegen das ›ausbeuterische US -Empire‹« – die letzten Worte spöttisch betont. »Und kaum in Athen, trifft sie in Anarchistenvierteln linksradikale Publizisten!«
Hatten sie sich also inzwischen über Tania, Manolis, Stavros & Co. schlaugemacht.
Die Richter betrachteten die Papiere. Betrachteten Dana.
Sie konnte sich denken, was sie darauf sahen. Jene Bilder und Artikel, die sie online seit Tagen in ungünstigen Perspektiven zeigten und beschrieben. Sie ahnte auch, was da noch kommen würde.
»Noch gravierender sind die Umstände betreffs Anatole Mgeba«, sagte Ephramidis. Er hielt ein großes Bild des Richters hoch. Wozu? Hier saßen keine Geschworenen, keine Medien, kein Publikum, vor denen man eine Show abziehen musste. Den Richtern hatte er das Foto sicher in die Unterlagen gepackt. »Er ist Richter jener Pre-Trial Chamber in Den Haag, die dafür verantwortlich war, Ermittlungen und den Haftbefehl gegen meinen Mandanten zu genehmigen. Das macht ihn zu einer der entscheidenden Figuren in dieser lächerlichen Scharade! Mgebas Familie und er persönlich machen Douglas Turner für schweren wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe ihrer zutiefst korrupten Familie verantwortlich.«
Bei den Richtern hoben sich ein paar Augenbrauen. Ephramidis ließ ihnen Zeit, die Unterlagen zu studieren.
»Schließlich«, fuhr er fort, »haben wir noch Maria Cruz, die Chefanklägerin des Gerichts selbst. Auch bei ihr liegen massive selbstsüchtige Gründe vor, Douglas Turner zu verfolgen, wie Sie sehen können.«
Wieder ein großes Bild.
Dana bemerkte, wie die Richter die Stirnen runzelten. Wo hatten die in den vergangenen Tagen gelebt? Diese Berichte waren seit mindestens vierundzwanzig Stunden draußen. Wenigstens ebenso lang fluteten sie sämtliche Medien. Überrascht von diesen Fabrikaten konnten die drei da vorn doch nicht mehr sein.
»Angesichts dieser überwältigenden Indizien für den Missbrauch des Verfahrens aus persönlichen Beweggründen fordere ich die sofortige Freilassung meines Mandanten«, donnerte Ephramidis. »Ich hätte gute Lust, diese Personen selbst sofort verhaften zu lassen, aber das liegt nicht in meiner Zuständigkeit oder Kraft. Doch ich bin sicher, dass die verantwortlichen Stellen die notwendigen Verfahren einleiten werden! Sie haben Recht und Gesetz auf internationaler Ebene schwersten Schaden zugefügt!«
Die Richter legten die Papiere zurück. Konstanidis wandte sich an Dana.
»Hat die Vertretung des Gerichtshofs dazu etwas zu sagen?«, fragte er.
Derek gefiel das gelassene, fast selbstgefällige Lächeln in Danas Gesicht nicht. Während Ephramidis’ Tirade mit den ständig schwerer werdenden Vorwürfen hatte es sich eher verbreitert, als dass es verschwunden wäre.
Der Aufforderung des Vorsitzenden folgend, erhob sie sich.
»Das können wir allerdings rasch beenden«, sagte sie. Sie griff zu den Ausdrucken, die Stouvratos ihr gegeben hatte, und trat an den Richtertisch. »Der Herr Verteidiger ist augenscheinlich nicht über die jüngsten Entwicklungen und Informationen in der Sache informiert. Sämtliche von ihm vorgetragenen Vorwürfe sind entweder völlig sinnentstellend verzerrt oder überhaupt komplett erfunden.« Sie überreichte die Unterlagen. »Dies wurde in den vergangenen Stunden bereits mehrfach kommuniziert. Hier finden Sie Ausdrucke von Artikeln, die in diesen Momenten online gehen. Sie belegen ausführlich, wie diese Manipulationen angefertigt wurden. Und wer dafür verantwortlich ist. Kurzversion: Im Wesentlichen wurden die angeblichen Informationen von Webseiten, Blogs und Social- Media-Seiten in die Welt gesetzt und massenhaft verbreitet, bei denen teils schon in der Vergangenheit eine Nähe zu den US -Geheimdiensten nachgewiesen werden konnte. Sie können die Unterlagen in Ruhe studieren und sich selbst ein Bild machen. Das wird wenigstens eine Stunde in Anspruch nehmen. Wenn Sie die Quellen persönlich prüfen wollen, noch deutlich länger. Aber Sie können sich auch darauf verlassen, dass sie stimmen. Dann können wir hier weitermachen. Das ist sicher auch im Interesse der Verteidigung und des Gerichts.«
Sie wandte sich um, einen zweiten Stapel in der Hand, sah Derek an. Er verzog keine Miene. »Hier sind Kopien für die Verteidigung und die US -Kollegen. Aber Sie wissen ohnehin genau, was darin steht.«
Derek konnte es sich denken. Sie hatten diese Person unterschätzt. Auch er. Die Blicke der Richter wanderten von den Unterlagen zu Dana und weiter zu Derek, Ephramidis und Turner.