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Ta-ta-ta-ta-ta-ta!

Das Spielzeuggewehr ist zu groß für Milan. Sein Großvater hat es ihm aus Holz zusammengebastelt und dann grau angemalt. Jetzt rennt Milan auf seinen kurzen Beinchen damit vor dem Wohnblock herum und richtet es auf Vesna, Dana und die anderen Kinder.

»Ta-ta-ta-ta-ta-ta!«

Milan ist sechs. Vesna auch. Dana ist fünf.

Sie spielen. Vor dem Wohnblock. In den Wohnungen ist es genauso kalt wie draußen. Und langweilig. Also spielen sie draußen auf den Betonplatten zwischen den Wohnblocks. Zwischen den Ritzen der Platten vertrocknen Grashalme. Da sind auch noch Slavica, Anela, Vlado, Dejan und ein Neuer, dessen Namen Dana schon wieder vergessen hat. Wenn er öfter kommt, wird sie ihn sich merken. Vesna ist Danas beste Freundin. Sie wohnt zwei Stockwerke unter Dana im selben Block. Die Häuser sind so grau wie der Beton, auf dem sie spielen. In manchen sind Löcher. Von Kugeln, hat ihr Vater gesagt.

Vlado und Dejan haben nicht einmal selbst gebastelte Spielzeuggewehre. Sie strecken ihre Zeigefinger aus und den Daumen hoch und zielen damit auf Milan.

»Tack-tack!«

»Tack-tack-tack!«

Die Kinder spielen Krieg. So wie die Erwachsenen. Danas Papa muss arbeiten. Sagt er. Wenn Dana fragt, was er arbeitet, sagt er es nicht. Danas Mutter hat keine Arbeit mehr. Sie hat es Dana erklärt. Seit Sarajevo eingeschlossen ist und belagert wird, kann sie nicht mehr arbeiten gehen. Was heißt belagert?, hat Dana gefragt. Das verstehst du noch nicht, hat ihr Vater gesagt. Sie kennt ja nichts anderes, hat ihre Mutter dann noch gesagt. Dana hat nicht genau verstanden, was sie damit meinte. Aus der Ferne hört Dana ein dumpfes Wummern. Das sind Kanonen, hat ihr Vater erklärt. Ihr sollt nicht draußen spielen, hat ihre Mutter gesagt. Aber immer drinnen ist es langweilig. Also gehen sie manchmal hinaus. Und ihre Eltern sagen nichts. Manchmal ruft eine Mutter aus dem Fenster. Dann gehorcht das Kind und geht hinein. Oder nicht. Milan hat schon so viel gespielt, dass sein Gesicht ganz rot ist. Und schmutzig. Dana hat keine Lust mehr auf das Spiel. Sie mag es nicht. Immer nur machen sie »Ta-ta«, die Jungs.

»Gehen wir hinauf?«, sagt Dana zu Vesna.

Aber Vesna ist nicht mehr da.

Alle sind sie auf einmal weg. In diesem furchtbar lauten Schwarz verschwunden. Durch das Dana fliegt. Bis sie hart auf den Betonplatten landet. Sie hört nichts. Dann hört sie einen lauten Ton. Wie von einer Flöte, die jemand direkt in ihre Ohren gesteckt hat. Sie sieht nur Grau. Das sich langsam auflöst in Wolken und Schwaden. Dana sieht die anderen nicht. Da liegen nur dunkle Klumpen über die Betonplatten verteilt. Einer davon bewegt sich. Jetzt erkennt sie Vlado. Obwohl sein Gesicht ganz schwarz ist. Er versucht, den Kopf zu heben. Der fällt wieder auf die harte Platte zurück. Vlado schaut komisch aus. Kleiner als vorhin. Kürzer. Ist das, weil er liegt? Jetzt bewegt er sich nicht mehr. Einen Meter neben Vlado liegt noch jemand. Dana erkennt das Gesicht nicht gleich, zu viele Haare hängen darüber. Überhaupt sieht dieser Kopf seltsam aus. Aber die Kleidung. Es ist Vesnas blauer Pullover mit dem gelben Streifen über der Brust. Irgendwie scheint da nur der ausgestopfte Pullover von Vesna zu liegen, mit dem Kopf obendran. Unten mit Teilen von Vesnas rotem Rock. Wo hat sie ihre Beine versteckt? Wo ist ihr Arm? Hat sie den hinter dem Rücken? In dem schwarzen Gesicht öffnen sich weiß zwei Augen. Schauen Dana an. Immer noch das fiese Flöten in Danas Ohr. Vesnas Augen blinzeln. Dana rappelt sich hoch. So recht will ihr Körper nicht gehorchen. Ihr rechter Arm knickt weg, als wäre er nicht da, wie Vesnas. Ihr Bauch schmerzt, ihre Brust tut weh. Arme und Beine auch. Sie stechen und pochen an mehreren Stellen. Es gelingt Dana, mit dem anderen Arm und mithilfe der Beine zu Vesna zu robben. Ein paar Meter hinter Vesna und Vlado ist eine Grube in den Betonplatten. Die war vorher noch nicht da. Jetzt sieht Dana aus den Augenwinkeln Menschen durch die Staubwolken laufen. Erwachsene. Dana sieht aufgerissene Münder und Augen. Hört nur das Singen in ihren Ohren. Die Erwachsenen beugen sich zu den Bündeln, die überall verstreut liegen. Betasten sie. Rufen ihnen etwas zu. Rufen anderen Erwachsenen etwas zu. Vor Dana versucht Vesna, sich zu bewegen. Ihr Oberkörper ruckt, zuckt. Vesna schaut Dana an. Dann kippt sie auf den Bauch. Auf dem Rücken ist Vesnas Pullover ganz schwarz und kaputt. Das ist nicht der Pullover. Dana sieht weiße Steifen zwischen dem Schwarz. So hat der Pullover nicht ausgesehen. Anstelle Vesnas linkem Arm ist nur ein Loch im Pullover. Vesna schaut sie aus ihren weißen Augen in dem schwarzen Gesicht an. Dann werden die Augen komisch grau. Starren Dana immer noch an. Dana sieht ihren eigenen Bauch. Ihre Füße. Überall ist die Jacke zerrissen. Und die Hose. Alles ist voll Blut. Mama wird schimpfen! Woher kommt all das Blut? Ein Schatten beugt sich über Dana. Ein riesiger Mund mit vielen Zähnen. Darüber Nasenlöcher und weit aufgerissene Augen. In einem Gesicht, so weiß wie Kalk. Dana erkennt ihre Mutter fast nicht. Sie hört auch nicht ihr Schreien. Nur den Flötenton in ihren Ohren. Dana versucht, die verschmutzte Kleidung mit ihren Händen abzudecken. So viel Blut. So viel Schmutz. Es ist ihr peinlich. Mamas Finger tasten über Danas Körper. Schieben die Arme zur Seite. Es beginnt wehzutun. Mamas riesige Augen in dem blutleeren Gesicht. Ihre Mutter hat Angst. Eine solche Angst hat Dana noch nie in ihren Augen gesehen. Ganz leise hört sie durch den Ton in ihren Ohren ihren Namen. Dana! Dana! Hörst du mich! Dana hört sie. Sagen kann sie nichts. Mama schiebt ihre Arme unter Danas Rücken und ihre Beine. Dann schwebt Dana, und es wird finster.

Als Dana wieder die Augen öffnet, bohrt sich Feuer durch ihren Arm. Dana hört den Schrei eines wilden Tieres. Wieder beugt sich Mamas weißes Gesicht über Dana. Hinter ihr sieht Dana eine weiße Zimmerdecke. Der Schmerz in Danas Arm wird noch schlimmer. Wieder dieser Schrei. Dana spürt ihn in ihrer eigenen Kehle.

»Es tut mir leid«, hört Dana die Stimme eines Mannes, den sie nicht sieht. »Wir haben keine Narkosemittel. Gleich ist es vorbei.«

Mama streichelt Danas Wange. Mamas Wangen glänzen ganz nass. Schneidet der Mann Danas Arm ab? So fühlt es sich an. Sie brüllt wieder.

»Geschafft«, sagt die Stimme. »Die anderen Stücke sind nicht so groß und tief. Es wird weniger wehtun.«

Tat es nicht.

Ein paar Wochen später spürte Dana nichts mehr von den Verletzungen. Eine Krankenschwester hatte ihr sogar die Schrapnellstücke gezeigt, die der Arzt aus Dana herausgezogen hatte. Die Wunden verheilten fast ohne Narben. Äußerliche Narben.

»Wie geht es Vesna?«, hatte Dana ihre Mutter gefragt.

Später erfuhr Dana, dass Vesna zwischen der Einschlagstelle der 82-Millimeter-Mörsergranate und Dana gestanden hatte. Vesnas Körper war Danas lebensrettender Schutzschild gewesen.

Die Reste von Vesnas kleinem Körper waren auf einem Fußballplatz begraben worden. Wie die Leichen Hunderter anderer. Die Friedhöfe der Stadt waren längst übervoll. Vesnas Eltern hatten ein einfaches Holzkreuz daraufgestellt. Dana durfte es nicht sehen. Erst mehr als zwei Jahrzehnte später, bei ihrem ersten Besuch seit der Flucht.

»Vesna ist jetzt im Himmel.«

Und in Danas Herzen. Bis heute. Mit dem Schmerz von damals.