»Das ist lächerlich«, sagte Maria auf dem Monitor. »Er will Turner draußen haben. Und er wird ihn entlassen – egal, was wir liefern.«
Wieder hatte sich Dana in den ihr zugewiesenen Besprechungsraum zurückgezogen. Maria auf dem Laptopmonitor wirkte müde.
»Wir sind nicht so weit gekommen – und gegangen –, um jetzt aufzugeben«, sagte Dana. »So etwas war zu erwarten. Hast du selbst immer gesagt.«
»Weiß ich doch! Ist trotzdem etwas anderes, wenn es dann geschieht!« Maria legte die Hände vor sich auf den Tisch. »Entschuldige bitte. Aber manchmal fragt man sich, wozu es Gesetze und Gerichte gibt, wenn sich die einen nicht an die anderen halten.«
Das aus dem Mund einer Juristin.
»Klar will das Gericht Turner draußen haben. Wohl auf Anweisung von oben. Dreimal dürfen wir raten, weshalb der Richter gestern Abend den Justizminister besuchte.« Sie seufzte. »Wer weiß, wie hoch oben. Brüssel wünscht sich das wohl auch. Ohne es zu sagen.«
»Kannst du drauf wetten.«
»Unserer Ansicht nach ist das Beweisstück eindeutig. Aber unsere Ansicht interessiert hier niemanden. Ich frage mich, ob man das Gericht nicht herausfordern sollte. Sie können den Beweis nicht ignorieren. Höchstens desavouieren. Das versuchen sie jetzt.«
»Und werden es weiterhin.«
»Wenn sie das Original sehen, wird es sehr schwer.«
Wieder Marias Kopfschütteln.
»Wir sehen doch jetzt, wie es läuft.«
»Deshalb«, sagte Dana.
Das Harvey’s war eine der Studententränken in Berkeley. Der Abend war kühl, trotzdem waren alle Tische im Freien besetzt. Dazwischen standen plaudernde Gruppen. Auch drinnen war alles voll. Steve fand Frank draußen mit einer Flasche Bier im Gespräch mit einem Typen, den er nicht kannte. Steve winkte dahin und dorthin. Viele kannten ihn von seinem Job in der Mensa. Oder aus Lokalen wie dem Harvey’s.
»Ich hol mir auch ein Bier«, sagte er zu Frank und dem anderen. Als er ein paar Minuten später mit einer Flasche zurückkam, wartete Frank allein.
Flaschen-Kling.
»Wie geht’s in der Kanzlei?«, fragte Steve.
»Bestens«, erwiderte Frank. Er sah nicht so aus, wie man sich einen Anwalt vorstellte. Eher einen Surfer. So groß wie Steve, dieselbe schlaksig-athletische Figur, die blonden Haare noch länger als Steves dunkle Locken.
»Ihr hattet prominenten Besuch vor ein paar Tagen«, sagte Frank.
»Und interessanten«, sagte Steve. »Auch deshalb wollte ich dich treffen.«
»Um über Turner abzulästern?«
»Sag du’s mir«, erwiderte Steve. »Ich brauche deinen fachlichen Rat. Aber streng vertraulich.«
»Geheimnisse, wow!«, lachte Frank. »Worum geht’s denn?«
»Vertraulich?«
»Ernsthaft jetzt? Anwalt-Klienten-Gespräch?«
»Womöglich.«
»Jetzt machst du mich neugierig. Klar: streng vertraulich.«
Das Stimmengewirr rund um sie war so laut, dass Steve getrost reden konnte. In kurzen Worten erzählte er Frank von dem Vorfall in der Küche. Und von dem Video.
Zwischen Franks Augenbrauen furchten sich zunehmend zwei Falten.
»Das hat er gesagt?«, fragte er.
»Sinngemäß«, sagte Steve. Er zog die zusammengefalteten Zettel aus der Tasche. »Denn genauen Wortlaut habe ich hier aufgeschrieben.«
Frank entfaltete die Papiere. Handschriftlich hatte Steve den Text des Videos transkribiert.
»Ich wollte das nicht am Computer machen«, erklärte er. »Und ich wollte das Telefon nicht zu unserem Treffen mitnehmen.«
»Das war eine gute Idee«, murmelte Frank, während er bereits las. Konzentriert arbeitete er sich durch die vier eng beschriebenen Blätter.
»Das hier«, sagte er schließlich und zeigte auf eine Passage auf der dritten Seite.
»Ja«, sagte Steve. »Das darf er doch nicht, oder?«
Frank gab ihm die Unterlagen zurück. Steve steckte sie ein.
»Das ist eindeutig«, erklärte Frank. Stieß Luft durch gespitzte Lippen aus. »Eigentlich eine Bombe. Was willst du damit tun?«
»Das frage ich dich.«
»Ich schätze, dir ist klar, was du hier hast. In einem funktionierenden Rechtsstaat und einer intakten Demokratie könntest du den Präsidenten damit stürzen und eigentlich ins Gefängnis bringen. Es gibt nur ein Problem.«
»Und zwar?«
»Die USA sind weder das eine noch das andere, was diese Dinge angeht. Denk an George W. Bush, Dick Cheney, Donald Rumsfeld und andere. Bush gab offen zu, von Folterungen infolge der Ereignisse von 9/11 gewusst zu haben. Konsequenzen? Keine. Gegen ein paar CIA -Leute wurde ermittelt. Aber schon nicht mehr gegen die richtig hohen Tiere. Unter anderem wegen so absurder Argumente, dass sie ja nur Erlasse des Präsidenten befolgt hätten.«
»Das hier ist mehr als Wissen.«
Frank zuckte mit den Schultern.
»Ja. Du hast da eine Granate in der Hand. Die Frage ist bloß, wen sie in die Luft sprengen wird. Den mächtigsten Mann der Welt oder dich?«
»Muss ja keiner erfahren, dass sie von mir ist.«
Frank lächelte ihn schief an.
»Dein Ernst?«
»Ich war nicht der einzige Mitarbeiter in dem Raum. Das Video könnte also von verschiedenen Quellen stammen. Ich gebe nicht das Original oder das Telefon her, mit dem man mich gleich über Meta- oder Bewegungsdaten identifizieren kann. Ich gebe es über Vertrauenspersonen weiter, die meine Anonymität wahren.«
Da war wieder die Furche zwischen Franks Augenbrauen.
»Ich?«
»Dachte ich.«
»Alter …«
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. Blickte über die Köpfe des restlichen Publikums vor dem Harvey’s in die Baumkronen, bevor er Steve antwortete.
»Warum stellst du es nicht einfach online?«, fragte er dann. »Bei einer der Enthüllungsplattformen? Oder lädst es in einen der Whistleblowerkanäle bei einem der zuverlässigeren Medien?«
»Drei Gründe. Erstens: Chelsea Manning und andere. Ist immer schwierig mit der Anonymität. Zweitens: Wahrscheinlich würde ich mich strafbar machen wegen Verrats von Staatsgeheimnissen oder so.«
»Vermutlich«, murmelte Frank. »Öffentliches Interesse könnte natürlich überwiegen …«
»Drittens, und für mich am wichtigsten: Das Internet ist doch längst eine Infomüllhalde. In dem Augenblick, in dem so ein Video da draußen erscheint, reiht es sich ein in all die anderen echten, falschen, verfälschten und aus dem Zusammenhang gerissenen Abermilliarden Videos, die da draußen herumschwirren. Millionen Menschen werden es diskutieren, loben, verteufeln, verleumden, interpretieren, zerreden, was der Flut an Pseudo- und Desinformationsscheiße da draußen noch einmal eine Welle hinzufügt. Das Video würde ertrinken in diesem Tsunami aus Irrelevanz und Unsicherheit, den es selbst mit auslöst.«
Sollte Frank mal kurz darüber nachdenken. Steve leerte seine Flasche.
»Nein«, fuhr er fort. »Besser ist, es schauen sich jene in Ruhe an, die es etwas angeht. Eine Staatsanwaltschaft. Oder wer immer dafür zuständig ist.«
»Und du willst anonym bleiben.«
»So weit es geht.«
»Im Ernstfall womöglich nicht«, sagte Frank.
»Ernstfall heißt? Prozess?«
»Ja. Vielleicht schon früher. Bei der Prüfung der Echtheit des Beweises. Oder Medien, die nachbohren.«
»Dann bekommt die Sache aber immerhin schon die nötige Öffentlichkeit.«
»Ja.«
»Die einen Mindestschutz gibt.«
»Und garantiert, dass du von der Gegenseite zumindest medial und beruflich vernichtet wirst.«
»Na ja, beruflich gibt es da noch nicht so viel zu vernichten …«
»Bis dahin vielleicht schon. Bis die Staatsanwaltschaft so weit ist, kann das Jahre dauern.«
»Aber dann kann man es wenigstens nicht mehr unterdrücken.«
»Das nicht, nein.«
»Doch es muss nicht so weit kommen?«
»Muss nicht. Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen.«
Steve dachte nach.
»Würdest du das Projekt übernehmen?«
Jetzt dachte Frank nach. Wieder der Blick in die Bäume.
»Puh!« Er nickte. »Aber ich kann das nicht allein.«
Die Richter hatten einen großen Bildschirm auf einem rollbaren Gestell in den Gerichtssaal bringen lassen. Er stand im Mittelgang zwischen den leeren ersten Stuhlreihen.
Ephramidis, die Amerikaner, der Staatsanwalt und Dana standen vor dem Richtertisch. Fast wie für ein Familienfoto, dachte Dana. Bloß dass niemand lächelte. Aber wer tat das schon bei einem Familienfoto? Aller Augen waren auf den Monitor gerichtet.
»Bitte«, sagte der Vorsitzende.
Der Gerichtsdiener drückte die Fernbedienung.
Das linke Drittel des Bildes war dunkel. Unscharfe Kante. Da stand etwas vor der Linse. Auf der rechten Seite ein schmalerer Streifen. Dazwischen bewegte Schatten. Schultern. Arme. Hemdkragen. Krawatten. Gesichter. Turner. Der Stabschef. Verschwanden wieder. Stimmengewirr.
»… die gezielte Tötung von Ahmar al-Bashar, die Sie vor ein paar Monaten unterzeichnet haben, Mister President. Die Drohne ist vor Ort und schussbereit.«
»Wo liegt das Problem?«
Turner. Die Stimme gut erkennbar.
»Es sind Zivilisten anwesend. Mitglieder seiner Familie.«
»Schon wieder dieser Ahmar al-Bashar? Den unsere Leute verantwortlich machen für wenigstens zweihundert tote US -Soldaten? Und Tausende irakischer und afghanischer Polizisten, Militärs und Zivilisten? Den Sie schon fünf Mal nicht erwischt haben? Oder bei dem Sie den Einsatz abgebrochen haben? Weil er immer zwischen Zivilisten rumhockt? Kill him! «
»Die Regeln sind klar: Unnötige zivile Opfer sind zu vermeiden. Bei dem Angriff würden mehr als dreißig Zivilpersonen sterben.«
»Verdammt noch mal! Menschliche Schutzschilde sind auch verboten! Trotzdem verwendet sie der Hundesohn. Wieder und immer wieder! Außerdem: Wer ist da schon? Klein Ahmar, der später Groß Ahmar wird. Und wieder Tausende ermorden lässt. Wie oft habe ich es schon gesagt: Wir gewinnen den Krieg gegen den Terror nicht mit politischer Korrektheit! Gegen Gesetzlose gewinnt man nicht mit Gesetzen! Wir müssen verhindern, dass aus Klein Ahmar Groß Ahmar wird!«
Und das tut man, indem man Klein Ahmars Familie kurzerhand ermordet?, fragte sich Dana zum hundertsten Mal. So züchtete man nur neue Terroristen.
»Zur Hölle damit! Ich habe es mehr als einmal erklärt, auch öffentlich: Bei Bedarf müssen wir nicht nur die Terroristen töten. Sondern den Boden zerstören, in dem dieses Unkraut gedeiht. Wir müssen ihre Unterstützer töten. Wir müssen ihre Helfer töten. Wir müssen ihre Familien töten. Wir können keine Rücksicht auf sie nehmen. Und ich will das nicht jedes Mal aufs Neue diskutieren müssen!«
»Zivile Opfer bringen den Krieg gegen den Terror in Misskredit.«
»Bei wem? Irgendwelchen Gutmenschen, die in einer Irrealität leben! Ich sehe die Zahlen: Die Mehrheit der US -Bürger hat keine Probleme mit gezielten Tötungen. Im Gegenteil. Auch wenn es zivile Opfer gibt.«
»Ist das ein Befehl, Sir? Beziehungsweise eine Freigabe?«
»Ich denke, es ist ein Fakt. Wir müssen damit leben. Ich kann damit leben. Also leben Sie damit.«
»Officer, Sie haben den Präsidenten gehört.«
Unverständliches elektronisches Gebrabbel. Wohl aus einem Telefon oder Laptop.
»Er soll feuern?«
»Wenn er den Hundesohn damit erledigt«, sagte Turner, »ja!«
»Officer, haben Sie verstanden?«
Gebrabbel.
Der Bildschirm wurde dunkel. Video Ende.
»Zehn Sekunden später tötete das Geschoss aus der Drohne sechsunddreißig Menschen«, erklärte Dana. »Fünfunddreißig davon unschuldige Zivilisten. Ermordet auf Anweisung dieses Mannes dort.«
Alle Blicke wandten sich Turner zu.
Der saß stumm auf seinem Stuhl, die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn ein wenig rechthaberisch vorgereckt, wie Mussolini es einst liebte.
Mehr kam nicht. Wahrscheinlich hatte man ihn gebrieft, sich unter keinen Umständen noch einmal zu rechtfertigen.
Die Blicke der Richter glitten über die Papiere. Hoben sich auf den Bildschirm. Zu Turner. Zurück zu den Gesichtern.
Da bewegte sich etwas, bemerkte Dana. Das ließ sie nicht kalt.
Lass es wirken.
»Euer Ehren«, sagte Ephramidis, »hier wird doch kein Befehl zur Tötung von Zivilpersonen gegeben. Der Präsident sagt es ganz deutlich: ›Wenn er den Hundesohn damit erledigt.‹ Das zeigt doch, dass al-Bashar das Ziel war!«
»Ich darf noch einmal?«, sagte Dana ruhig. Sie hatte den Einwand vorausgesehen und spulte die Aufzeichnung an die entsprechende Stelle. Zielsicher, beinahe auf die Sekunde. Hunderte Male hatte sie diese Bilder gesehen. Jedes Wort konnte sie wiederholen. Jede Sekunde nennen, an der es in dem Video fiel. Play.
»Ich habe es mehr als einmal erklärt«, erklang Douglas Turners Stimme, »auch öffentlich: Bei Bedarf müssen wir nicht nur die Terroristen töten. Sondern den Boden zerstören, in dem dieses Unkraut gedeiht. Wir müssen ihre Unterstützer töten. Wir müssen ihre Helfer töten. Wir müssen ihre Familien töten.«
Sie stoppte das Band. Ließ die Worte in den Köpfen der Zuhörer nachklingen. Turner hatte nicht einmal hingesehen. Dann sagte sie, ganz ruhig: »Er gibt hier nicht mehr den Befehl, einen feindlichen Kämpfer zu töten. Er sagt, dass seine Familie getötet werden muss. Unschuldige Zivilisten. Darunter Kinder. Damit diese keine Terroristen werden können.« Sie sah die Richter an. »Das sind keine Kollateralschäden mehr. Er greift Zivilpersonen an. Bewusst. Direkt.«
Die Richter fixierten sie mit flatterndem Blick. Sie hatte sie verunsichert.
»Zivilpersonen«, wiederholte sie. »Der Angriff richtet sich auch gegen ein militärisches Ziel, ja. Aber er sagt klar und deutlich« – sie spielte die Stelle noch einmal ab: »Wir müssen ihre Familien töten«, wiederholte Turners Stimme ihre Forderung, bevor Dana den Film stoppte und selbst fortfuhr: »›Wir müssen ihre Familien töten‹«, hämmerte sie Turners Aussage in das Bewusstsein der Richter. »Und – im Gegensatz zu zivilen Kollateralopfern eines Angriffs auf gegnerische Kämpfer – für direkte Angriffe auf Zivilisten ist der International Criminal Court sehr wohl zuständig. Ein feiner juristischer Unterschied, mag man meinen. Aber der alles entscheidende.«
Mit einem Mal stürmte Ephramidis von seinem Platz an den Richtertisch. Er knallte ein Blatt auf den Tisch, quer über eines der Gesichter. Eine Liste, erkannte Dana. Und noch eine daneben. Klatsch! Noch eine. Weiter.
»Sie wollen Opfer?!«, brüllte er. »Hier haben Sie Opfer! Hunderte! Tausende! So viele, dass ich Ihnen keine rührseligen Porträts von jedem Einzelnen präsentieren kann! Das sind Ahmar al-Bashars Opfer über die Jahre. Zumindest jene, die man mit höchster Wahrscheinlichkeit ihm zuordnen kann. Verdammt noch mal!«
Hinter ihm nickte Turner zustimmend.
Spielte er die Wut so gut? Oder war er tatsächlich dermaßen erzürnt? Danas Blick flog über die Blätter. Wenn diese Liste echt war – und warum sollte sie es nicht sein, alles andere wäre zu riskant –, hatte das Verteidigungsteam seine Hausaufgaben gemacht. Aber was hatte sie erwartet?
»Gegen Gesetzlose gewinnt man nicht mit Gesetzen«, wiederholte Dana Turners Zitat. Bleib sachlich. Sie wandte sich an die Richter: »Können Sie das als Männer des Gesetzes anhören? Können Sie das akzeptieren? Auch nur in geringster Weise? Macht uns nicht ebendas zu einer zivilisierten Gesellschaft, dass wir auch gegen Gesetzlose mit Gesetzen vorgehen? Dass wir allen Menschen die gleichen Rechte zugestehen?«
Der Kiefer des Vorsitzenden mahlte.
Turner hatte in dem Video eine Steilvorlage geliefert.
»›Bei Bedarf müssen wir nicht nur die Terroristen töten‹«, zitierte Dana weiter, »›sondern den Boden zerstören, in dem dieses Unkraut gedeiht. Wir müssen ihre Unterstützer töten. Wir müssen ihre Helfer töten. Wir müssen ihre Familien töten.‹«
Sie fixierte den Vorsitzenden. »Das ist eindeutig eine Anweisung zu Kriegsverbrechen. Die in die Zuständigkeit des ICC fallen.«
Sie wandte sich an Ephramidis, Derek Endvor und die zwei anderen Amerikaner.
»Douglas Turners Großvater zog gegen die Nationalsozialisten in den Krieg, um ebensolche Verbrechen zu verhindern. Einer seiner Vorgänger und besonders dessen Ehefrau, Eleonore Roosevelt, waren maßgeblich an der Etablierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt. Was würden sie wohl dazu sagen?«
Derek hörte nur mehr mit einem Ohr zu. Auf seinem Telefon hatte soeben eine Nachricht Walter Vatanens aufgeleuchtet.
Dringend! Potenzieller Whistleblower Steve Donner in München geflüchtet. Hat unsere Leute abgehängt. Ist wohl Bestätigung, dass er unser Mann ist.
Derek überlegte fieberhaft. Gab Ephramidis, der gerade zu einer Antwort ansetzte, ein Zeichen. Waagerechte Hand auf die Fingerspitzen der senkrechten anderen Hand gelegt. Time- out.
»Einen Moment, Euer Ehren«, bat der Anwalt.
Währenddessen tippte Derek bereits eine Antwort.
Ihr wisst, was zu tun ist.
Dann beugte er sich zu Ephramidis.
Dana beobachtete, wie Derek Endvor dem griechischen Anwalt etwas zuflüsterte. Unmittelbar davor hatte er auf seinem Telefon herumgefummelt.
Derek Endvor setzte sich wieder.
Ephramidis wandte sich an das Gericht.
»Was die Roosevelts dazu sagen würden, fragte die Vertreterin des ICC soeben«, hob er an. »Ich versuche, eine Antwort darauf zu geben.« Er machte eine Pause, bevor er fortfuhr: »Deep Fake, würden sie sagen. Hätte es das damals schon gegeben.«
Wie bitte?!
»Eine Fälschung«, erklärte der Verteidiger noch einmal.
Dana war für einen Moment sprachlos. Sie hatte zwei Gutachten vorgelegt!
»Euer Ehren! Sie haben zwei Gutachten von anerkannten Experten vorliegen! Die Aufnahmen sind authentisch.«
Der Richter überflog die Papiere.
»Stimmanalysen«, erklärte Dana, »mittels modernster Methoden, inklusive künstlicher Intelligenz.«
»Mittels derer man auch Deep Fakes herstellt«, unterbrach Ephramidis sie. »Darf ich kurz etwas zeigen, Euer Ehren?«
»Wenn es sein muss.«
Wieder kam der Verteidiger mit seinem Computer an den Richtertisch. Dana und der Staatsanwalt traten hinzu.
Ephramidis spielte ein Video ab. Der ehemalige US -Präsident Barack Obama hielt eine Rede. Ephramidis ließ das Video eine Minute lang laufen. Dann stoppte er.
»Sie kennen den Mann«, sagte er zu den Richtern. »Die Rede kennen Sie auch. Allerdings hat Obama sie nie gehalten.«
Er startete ein anderes Video: Malcolm X.
Dieselben Worte. Andere Stimme. Anderer Rhythmus. Alles anders. Außer den Worten.
»So geht das heute. Lernende Programme werden auf Stimmen, Gesichtsausdrücke und anderes trainiert. Und legen jeder beliebigen Person jedes beliebige Wort in den Mund. Jede beliebige Rede. Oder den Kopf eines Promis auf die Körper beliebiger Darsteller in Pornofilmen.«
»Himmel!«, rief Dana. »Das von uns präsentierte Video ist über vier Jahre alt. Damals war das in der Qualität noch nicht möglich!«
»Wer sagt, dass es so alt ist?«
Das durfte nicht wahr sein!
»Die Gutachter! Ausserdem kann man Deep Fakes bei genauer Untersuchung nachweisen!«
Der Richter musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.
Senkte den Blick auf die Papiere vor sich. Die Gutachten.
»Hier steht etwas von Stimmanalyse und -vergleich. Nicht nur mit der Stimme des Angeklagten und der Mitarbeiter, die man auf dem Band angeblich hört.«
Angeblich?!
»Sondern auch mit jener Person, die das Video aufnahm.«
»Dieses Video hat niemand bewusst aufgenommen«, widersprach Dana. Ihre Stimme zitterte vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Es entstand zufällig. Die Person, der das Telefon gehört, filmte den Besuch des Präsidenten in einer Universitätscafeteria. Sie verlor es in der Hektik, als der Präsident für die dringende Entscheidung einen Extraraum benötigte. Dort filmte das Gerät einfach weiter. Erst später, als die Person ihr Telefon wiederfand, entdeckte sie das Video.«
»Die Originalaufnahme ist also länger als der Ausschnitt, den Sie uns gezeigt haben?«
Dana zögerte.
»Was für eine Rolle spielt das? Die Aussagen des Angeklagten sind klar und deutlich zu verstehen.«
»Die Stimme des Telefonbesitzers«, sagte der Vorsitzende. »Oder der Besitzerin. Wenn sie auf dem Video zu hören ist und ich sie mit dem Original vergleichen könnte – das könnte das Gericht überzeugen.«
»Dem Original?«
»Dem Besitzer des Telefons. Jener Person, die es dem ICC wohl überhaupt erst gegeben hat.«
Meinte der das ernst?
»Euer Ehren … Sie haben die Gutachten … das ist …«
Dana verstummte. Maria hatte recht gehabt. Hatte sie damit gerechnet? Warum sonst hatte sie das Video freigegeben? Aber weiter würde Dana nicht gehen. Konnte sie nicht.
»Die Person ist selbst beim Strafgerichtshof nur ganz wenigen Leuten bekannt«, erklärte sie. »Aus Sicherheitsgründen.«
»Nun«, sagte der Richter, »dann sollen diese Leute dafür sorgen, dass ›die Person‹ vor diesem Gericht zu einem Stimmvergleich erscheint.«
»Euer Ehren«, sagte Dana und hoffte, nicht zu flehentlich zu klingen, »Ihnen liegen zwei – zwei! – Gutachten vor. Die Person ist aus guten Gründen anonym.«
»Das kann sie hier auch bleiben«, erklärte der Richter.
»Das glauben Euer Ehren nicht ernsthaft«, sagte sie. »Die Vereinigten Staaten haben einen internationalen Haftbefehl ausstellen lassen. Wenn Sie die Person hierherzwingen, können Sie sie gleich an die USA ausliefern.«
»Dafür ist dieses Gericht nicht zuständig.«
»Es ist auch nicht für die Beweisprüfung zuständig«, sagte Dana eisig. »Trotzdem besteht es darauf.«
Der Vorsitzende klatschte mit der Handfläche auf den Tisch. Wie ihr Vater, wenn er eine Diskussion aus seiner Sicht für beendet hielt.
»Binnen vierundzwanzig Stunden bekommt man eine Person« – er betonte das Wort fast spöttisch – »von überall auf diesem Planeten nach Athen. Das Gericht tritt Morgen um diese Zeit wieder zusammen. Sie haben vierundzwanzig Stunden.«
Er erhob sich.
Dana stand versteinert da.
Mit Gerichtsbarkeit hatte das nichts mehr zu tun. Vor einer weiteren – europäischen – Instanz würde dieses Vorgehen nicht bestehen. Aber bis dahin würden Monate, wenn nicht Jahre vergehen. Und Turner wäre in vierundzwanzig Stunden frei.
»Euer Ehren, das ist reine Willkür!«, rief Dana.
Der Vorsitzende kehrte ihr den Rücken zu. Die beiden anderen Richter wandten sich gleichfalls um und verließen mit ihrem Chef den Raum.
Hinter ihr packte Ephramidis zufrieden seine Aktentasche ein. Flüsterte mit Derek Endvor und den anderen.
Vierundzwanzig Stunden.