»Wozu sitzen wir hier eigentlich noch herum?«, fragte Bull.
Auf dem Riesenfernseher in der Lounge lief CNN . Die Journalistin stand vor dem Gerichtsgebäude in Athen.
Der Rest der Truppe hatte sich in die Sofas gefläzt. Die meisten beugten sich über ihr Telefon, sahen nur mit einem Auge zu. Bloß Dino saß mit einem halb zerlegten SCAR da, das er gerade klappernd wieder zusammenbaute.
»Von den US -Vertretern gibt es noch keine Reaktion«, erklärte die Reporterin. »Auch der International Criminal Court hat sich noch nicht geäußert. Alles, was wir haben, ist die dünne Presseerklärung des Gerichts. Es wird seine endgültige Entscheidung morgen um diese Zeit treffen.«
Ein Schwenk über die Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude.
»Das bedeutet eine weitere Nacht in der Zelle für Douglas Turner.«
»Also heute Nacht«, sagte Hernan. »Noch länger können die doch nicht warten.«
»Wir warten«, sagte Sean. »Bis wir das Go bekommen.«
»Und weitere vierundzwanzig Stunden für Arthur Jones«, rief die Journalistin in ihr Mikro, »in denen er dem amerikanischen Volk erklären muss, warum sein Ex-Präsident im Gefängnis sitzt.«
»Diese Mistkerle!«, rief Arthur Jones von dem Bildschirm auf Dereks Laptop. Ihr Fahrer hielt sich hinter dem Bus, der Turner zurück in die Haftanstalt fuhr. Derek konnte nicht fassen, dass sie diesen Weg noch einmal fahren mussten!
»Das Video des Richters von gestern Abend, wie er zum Justizminister fuhr, zwang ihn, dem ICC eine wenigstens formelle Chance zu lassen.«
»Nichts zwang ihn dazu! Er hätte Douglas einfach entlassen können! So geht der Zirkus wieder in die Verlängerung. Und die Vereinigten Staaten werden erneut zum Gespött der ganzen Welt!«
»Geben Sie den Einsatz für unser Team frei«, sagte General Booth. »Dann ist Turner in vier Stunden draußen. Und wir beweisen, dass man uns bei allem guten Willen nicht endlos auf der Nase herumtanzen kann!«
»Ich verstehe die Ungeduld«, sagte Derek. »Aber auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an. In vierundzwanzig Stunden ist Turner frei«, versuchte Derek, ihn zu beschwichtigen. »Auf legale und international akzeptierte Weise.«
»Wen kümmert das denn?!«, brach es aus Trevor heraus. »Wir werden doch nicht respektiert dafür, dass wir uns an die Regeln halten! Sondern dafür, dass wir sie machen!«
»Ich habe gute Lust dazu«, sagte der Präsident. »Trevor hat hier einen Punkt.«
»Dann hätten wir das gleich tun müssen«, sagte Derek. »Wozu der Aufwand, uns zu schicken? Wozu tagelang in Gerichtssälen argumentieren, wenn wir am Ende doch mit der Kavallerie ins Haus fallen? Wollen wir wirklich als jene dastehen, die zu dumm sind, ihren Mann auf anständige Weise zu befreien? Und wenn dabei etwas schiefgeht?«
»Was soll schiefgehen?«, ereiferte sich Nestor Booth. »Unsere Jungs sind die Besten!«
»Denken Sie nur an den Geiselbefreiungsversuch in Teheran 1978.«
»Himmel, das ist bald ein halbes Jahrhundert her!«
»Der Einsatz gegen Osama bin Laden lief auch nicht glatt. Wir verloren einen Hubschrauber. Das hätte leicht viel böser enden können«, erinnerte Derek. »Und es gibt noch andere Beispiele, das wissen Sie sehr gut. Tun Sie nicht so, als ob derartige Aktionen ein Sonntagsspaziergang wären! Die Griechen müssen doch jeden Tag noch mehr mit so etwas rechnen! Entsprechend sehen inzwischen die Sicherheitsvorkehrungen aus!«
»Darüber lachen unsere Männer doch bloß!«
»Außerdem sehe ich die vier Stunden nicht, innerhalb derer Sie die Sache erledigt haben wollen. Wann wollen Sie denn zuschlagen?! Zur besten TV -Sendezeit? Sicher nicht! Ich tippe ja wohl eher auf mitten in der Nacht. Zwei, drei Uhr nach Mitternacht? Bis die Welt davon erfährt, ist es selbst hier in Europa Morgen.«
»Immer noch früher als die andere Variante«, entgegnete Nestor Booth.
»General«, fragte Arthur, »der Einsatz würde in der Nacht stattfinden?«
»Üblicherweise, Sir.«
»Das Gericht gab dem ICC vierundzwanzig Stunden, um den Zeugen beizuschaffen«, erinnerte Derek. »Zuletzt wurde er bei München gesehen. Das schaffen die nur, wenn er fliegt. Auto und Zug sind zu langsam beziehungsweise zu riskant, dass es zu Verspätungen kommt. Zumal die einzige Strecke, auf der er theoretisch schnell genug wäre, über Serbien führt. Das bedeutet ein Verlassen der Europäischen Union und damit Grenzkontrollen, bei denen man ihn erwischen könnte. Die Behörden der entsprechenden Länder werden wir natürlich trotzdem umgehend informieren. Einen Linienflug können Sie wegen des internationalen Haftbefehls vergessen. Die Deutschen müssten ihn schon beim Einchecken verhaften.«
»Und wenn sie es nicht tun?«
»Wüssten wir dank der Fluggastdaten trotzdem, dass er in dem Flieger wäre. Dann müssten ihn die Griechen bei der Einreise nur noch einsammeln.«
»Das Gericht hat Anonymität und Sicherheit zugesagt«, wandte Trevor ein.
»Die griechische Regierung will die Sache doch auch beendet sehen«, sagte Derek. »Dem Innenminister ist egal, was das Gericht sagt. Er schickt seine Leute zur Einreise und fertig. Missverständnis zwischen zwei Ressorts … irgendeine Erklärung findet sich schon.«
»Selbst wenn die Griechen diesen Typen abfangen«, sagte der General, »kann er immer noch vor Gericht erscheinen.«
»Als Verhafteter?«, erwiderte Derek. »Theoretisch ja. Faktisch? Müsste man Ephramidis fragen, ob beziehungsweise wie man das verhindern kann. Wir behalten den Flugverkehr zwischen Deutschland und Griechenland im Auge. Wir stellen mehrere Teams bereit, die binnen kurzer Zeit überall im Land sein können, nicht wahr, Trevor?«
»Können wir«, sagte der Geheimdienstmann zähneknirschend.
»Sir«, ereiferte sich der General, »gestern hieß es, wenn Turner heute nicht freigelassen wird, gibt es nur mehr No oder Go! Er ist nicht frei. Das heißt, wir haben ein Go.«
»Ich darf den Präsidenten korrekt zitieren«, fuhr Derek dazwischen. »In unserer Diskussion gestern entschied er, dass der Einsatz stattfindet, falls das griechische Gericht Douglas Turners Haft heute für rechtmäßig befindet und der Auslieferung nach Den Haag zustimmt. Das hat es nicht getan.«
»Eine weitere Verzögerung war doch nicht vorgesehen!«, rief der General.
»Ich denke, der Präsident war da gestern eindeutig«, sagte Derek. »Wie sähe das aus, wenn er seine Entscheidung plötzlich revidieren würde?«
»Wenn sich die Fakten ändern, ändert man seine Meinung«, erwiderte Trevor. »Und wie machst das du?«
»Seit wann zitierst du John Maynard Keynes?«, fragte Derek. »Keine eigenen Ideen? Die Fakten haben sich nicht geändert. Das griechische Gericht hat Turner nicht für Den Haag freigegeben. Morgen will es ihn freilassen. Nutzen wir diese Chance, ihn international zu rehabilitieren.«
»Das werden wir nicht tun«, sagte Maria auf dem Monitor. »Die Typen sind doch völlig durchgeknallt.«
Und das über Juristenkollegen. Oder gerade darum.
»Dann ist Turner morgen draußen.«
Maria blickte finster.
»Wo ist er überhaupt?«, fragte Dana. »Bekämen wir ihn rechtzeitig nach Athen?«
»Vergiss es. Ich lasse das nicht zu. Seine Sicherheit ist dort nicht gewährleistet. Auch wenn sie Anonymität und Schutz versprechen. Wahrscheinlich ist das sogar der Sinn der Aktion. Der Richter steckt mit den Amis unter einer Decke. Oder wurde vom Justizminister unter Druck gesetzt.«
»Das war es dann also?«, seufzte Dana.
»Es war ein Versuch«, sagte Maria, »bei dem wir von vornherein wussten, dass er wenig Chancen auf Verwirklichung hatte.«
»Aber der Funke einer Chance war da. Und ist es immer noch.«
»Für mich sieht es nicht so aus. Immerhin haben wir ein Zeichen gesetzt. Schade, dass ein Unterstützungsstaat des ICC nicht wagt, dasselbe zu tun. Und dabei von sämtlichen anderen Unterstützungsstaaten im Stich gelassen wird.«
»Ist nicht das erste Mal.«
»Der Zeuge hat demnach alles umsonst auf sich genommen?«, fragte Dana. »Die Drohungen seiner eigenen Landsleute, das Zurücklassen seines alten Lebens, die beständige Unsicherheit, ob er enttarnt wird, die dauernde Sorge?«
»Über die Konsequenzen wurde er oft genug aufgeklärt«, erwiderte Maria. »Auch zurückziehen hätte er sich lange genug können. Es war seine Entscheidung, uns das Video zu überlassen.«
Dana überlegte. »Sollte es dann jetzt nicht auch seine Entscheidung sein, ob alles umsonst war oder nicht?«
Steve hatte eine halbe Stunde gewartet, ob seine Verfolger noch einmal auftauchten.
Zumindest an dem Haus waren sie nicht mehr vorbeigekommen.
Vorsichtig öffnete er das schwere Tor einen Spaltbreit und warf einen Blick hinaus. Er entdeckte niemand Auffälligen.
Er nahm sein Rad, schob es hinaus. Rasch, aber nicht hektisch. Blicke links und rechts, ununterbrochen. Noch immer niemand.
Stieg auf.
Schulterblicke. Niemand schien ihm zu folgen.
Ziellos fuhr er durch die Straßen.
Das war es also.
Sein altes Leben war vorbei.
Zum zweiten Mal.
Dieses Mal endgültig.
Catherine.
Er konnte ihr nicht einmal Bescheid sagen.
Der Gedanke, sie so völlig abschiedslos und ohne Erklärungen zurückzulassen, drehte ihm den Magen um.
Er hielt zwischen zwei geparkten Autos im Schatten eines Baumes. Lehnte das Rad an den Baum. Holte sein verbliebenes Telefon aus der Bauchtasche. Wählte die eingespeicherte Nummer.
Freizeichen.
Freizeichen.
Freizeichen.
»Hier Ted. Was gibt’s?«
»Offenbar existiert der internationale Haftbefehl!«, rief er zornig. Kurz schilderte er, was geschehen war. »Ich kann nicht mehr zurück«, sagte er. »Weder in die Agentur noch nach Hause. Ich brauche Schutz. Und einen Ort, wo ich hinkann. Sonst muss ich ganz untertauchen.«
Auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte. Früher hatte er sich manchmal darüber Gedanken gemacht. Nun schon länger nicht mehr. In einer komplett vernetzten, überwachten und getrackten Welt verschwand man nicht ohne Weiteres von der Bildfläche.
Er hatte das Gefühl, diesem Ted drohen zu müssen. Zu lange hatte er ihn beschwichtigt und Steves Sorgen als übertrieben abgetan.
»Verstehe«, sagte Ted. »Normalerweise würden wir die deutschen Behörden um Schutz bitten«, sagte er. »Aber das geht nicht, wie es scheint. Ich überlege …«
»Überlegen Sie schnell. Sonst bin ich weg. Auch für Sie.«