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Das Taxi kämpfte sich durch Athens Innenstadtverkehr. Die herabgelassenen Fenster waren die einzige Klimaanlage.

»Kaputt«, hatte der Fahrer auf Danas Frage nach einer Lüftung mit einem Schulterzucken geantwortet. Kühlung gab es nur während der Fahrt. Gerade standen sie wieder einmal in einer der Gassen im Stau. Dana hing am Telefon. Wartete darauf, dass Ted abhob.

Endlich.

»Dana«, begrüßte er sie. »Was für ein Zufall! Wie geht es dir? Ist ja unfassbar, was da letzte Nacht passiert ist! Was macht der alte Grieche?«

»Ich bin gerade unterwegs zu ihm ins Krankenhaus«, sagte sie. »Hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Ich brauche dringend einen Kontakt zu VidSelf. Dem Zeugen, der uns das Video mit Du-weißt-schon-wem übergeben hat.«

Turners Namen wollte sie in dem Taxi nicht nennen. Sie drehte sich um, ob sie einen Wagen wiedererkannte. Es war anzunehmen, dass US -Teams laufend an ihr dran waren. Im Taxi konnte sie die schwer abhängen.

»Nach dem du dich vorgestern erkundigt hast«, sagte Ted. »Weshalb? Du weißt, dass ich dir den nicht einfach so geben kann.«

»Du musst!«

Sie erklärte ihm, was das Gericht verlangte.

»Ich habe von Maria noch nichts gehört«, sagte Ted. »Darum müsste doch sie sich kümmern.«

»Müsste sie. Hat sie halt noch nicht. Gibst du mir den Kontakt jetzt bitte? Jede Minute zählt!«

Das Taxi war inzwischen weitergefahren. Dana war nicht besonders gut in so etwas. Sie musste davon ausgehen, dass sie beobachtet wurde. Wie sollte sie VidSelf unter diesen Umständen halbwegs sicher anrufen?

»Du kannst den nicht einfach von deinem Handy anrufen oder antexten. Zu riskant, dass du abgehört wirst. Außerdem gibt es ein ganz anderes Problem.«

»Problem?«, fragte Dana alarmiert. »Was für ein Problem?«

»VidSelf wurde in den vergangenen Tagen von irgendjemandem beobachtet und erhielt eindeutige Drohanrufe. Offenbar haben ihn die Amerikaner identifiziert. Oder sie haben ihn zumindest unter Verdacht und haben versucht, ihn unter Druck zu setzen, damit er einen Fehler macht. Heute wollten ihn dann angeblich Polizisten verhaften.«

Danas Magen fraß sich selbst.

»Wo ist er?!«

»Das weiß ich nicht. Er ist untergetaucht. Wir haben vor Kurzem telefoniert. Er will Schutz. So spontan konnte ich ihm nichts anbieten, vor allem auch wegen des internationalen Haftbefehls. Da geht es tatsächlich um ihn, aber das habe ich ihm noch gar nicht gesagt. Im schlimmsten Fall will er ganz verschwinden und den Kontakt abbrechen.«

»Umso dringender muss ich ihn erreichen!«

»Er will untertauchen und Schutz. Du willst ihn in Athen vor einem Gericht. Du erkennst schon, dass das ziemlich entgegengesetzte Ideen sind?«

»Ted, wir haben nicht Jahre an diesem Projekt gearbeitet, um jetzt aufzugeben. VidSelf hat all das nicht auf sich genommen, damit Du-weißt-schon-wer jetzt freikommt. Ich muss ihn unbedingt sprechen!«

»Vielleicht hat er seine Meinung geändert. Wäre nicht verwunderlich, nach dem, was dir vergangene Nacht geschehen ist.«

»Trotzdem mache ich weiter. Er muss wenigstens wissen, was vor sich geht. Und welche Rolle er darin spielt!«

»Ich kann versuchen, ihm das mitzuteilen.«

»Wenn es gar nicht anders geht. Aber ich würde es gern selbst tun. Ich bin hier vor Ort. Ich habe alles miterlebt. Wenn er Fragen hat, kann ich sie gleich beantworten. Du müsstest wieder bei mir rückfragen. Das kostet alles zu viel Zeit. Schon dieses Gespräch. Bitte, Ted!«

»Himmel, Dana, wir haben Regeln! Ich rede mit Maria.«

»Das dauert zu lange, Ted! Zur Not frag lieber VidSelf, ob er mit mir reden würde! Bevor er uns komplett verschwindet! Zeit, Ted! Wir haben keine Zeit mehr!«

Für den Lidstrich beugte sich Catherine näher an den Spiegel. Steve war immer noch nicht da. Linkes Lid. Rechtes Lid. Ein letzter Blick. Passte.

Wo war der Kerl?

Im Vorzimmer schlüpfte sie in ihre Jacke und warf die Handtasche um. Genervt wählte sie Steves Nummer auf dem Telefon. Niemand hob ab. Dann die Mailbox. Catherine rief in der Agentur an.

»Ist Steve noch da?«, fragte sie, als sich jemand meldete. Der Empfang war um diese Zeit nicht mehr besetzt.

»Ich sehe kurz nach«, sagte die Frauenstimme.

Kurzes Klappern.

»Nein. Aber auf seinem Platz liegen ein Telefon und eine Messengerbag.«

»Blaugrün?«

»Ja.«

»Das ist seine. Ist er vielleicht auf der Toilette?«

»Augenblick.«

Wieder Stille. In den vergangenen Tagen war er nicht gut drauf gewesen. Die Diskussionen wegen Kindern. Er mochte sie nicht. Cath gab das schon länger zu denken. Was sagte das über ihre Beziehung aus?

»Ich habe geklopft und gerufen«, erklärte die Stimme in ihrem Telefon. »Da ist niemand.«

»Aber wenn seine Tasche und das Telefon doch noch da sind?«

»Ich weiß auch nicht.«

»Richten Sie ihm bitte aus, dass Catherine angerufen hat, falls Sie ihn sehen. Er weiß dann schon Bescheid.«

»In Ordnung.«

Noch einmal wählte Cath seine Nummer. Wartete auf die Mailbox.

»Falls du dein Telefon in der Agentur vergessen hast und bereits auf dem Weg nach Hause oder zu Delli und Emil bist, hat sich die Nachricht erübrigt. Falls nicht und du vergessen oder einen besonders guten Grund hast, warum du weder da bist noch dich meldest, hier die Erinnerung. Wir sind jetzt gleich bei den beiden eingeladen. Ich mache mich schon mal auf den Weg. Ich treffe dich dann dort.«

Sie beendete die Verbindung. Der Abend begann ja gut.

Dana nahm den Hörer in die Hand. Ein ungewohntes Gefühl. Wann hatte sie zuletzt über ein öffentliches Münztelefon gesprochen? Vier Plexiglasbubbles nebeneinander in der Eingangshalle des Krankenhauses. Dass so etwas überhaupt noch existierte. Mit Münzeinwurf! Sie könnte auch mit Karte zahlen. Konnte sie nicht. Ihre waren schließlich gesperrt. Noch einmal sah sie sich um. Niemand schien ihr in das Gebäude gefolgt zu sein. Keine unauffällig herumlungernden Personen. Menschen liefen an ihr vorbei. Besuchten Patienten. Holten sie ab. Vereinzelte Patienten in Nachthemden vertraten sich die Beine. Medizinisches Personal in weißen Kitteln eilte umher. Falls sie Verfolger hatte, mussten die annehmen, dass sie Vassilios besuchte. Und sie warteten draußen?

Sie warf die Münzen ein und wählte die Nummer.

Steve starrte aus dem Zugfenster, ohne die Landschaft draußen wahrzunehmen. Seine Gedanken waren überall und nirgends. Bei Cath. Seinen Eltern. Dem verhängnisvollen Nachmittag in Berkeley. Den geheimen Besprechungen danach.

Da saß er nun wieder, wie vor drei Jahren im Flugzeug von Los Angeles nach Frankfurt, und starrte aus einem Fenster, vor dem eine Landschaft vorbeifloh. So wie er.

Der Himmel war damals wie immer blau gewesen, seine Zukunft nebelig. Zuerst wollte er nach Berlin. Dann würde er sehen. Vielleicht Amsterdam. Oder Barcelona. Antwerpen. Irgendwohin, wo etwas passierte, Neues entstand. Leben, Aufbruch. Insgeheim hatte er auf eine längere Reise gehofft. Wanderjahre. Die irgendwann jedoch enden würden mit einer Rückkehr. Bis er sich bei Catherine angekommen gefühlt hatte. Nicht mehr an eine Weiterreise gedacht hatte. Irgendwann sogar den permanenten Schulterblick vergessen hatte. Nie war in der Öffentlichkeit über Ermittlungen gegen Turner berichtet worden. Steve hatte geglaubt, dass es vorbei sei. Dass er ein fast normales Leben würde führen können.

Er schreckte zusammen, als der Burner zu summen begann. Die Nummer kannte er nicht. Plusnulldreinull. Welche Landesvorwahl war das? Einen Moment zögerte er. Ted hatte ihm versichert, dass nur die Zeugenschutzabteilung des ICC die Nummer kannte!

Er nahm das Gespräch an.

»Dana Marin!«, sagte eine aufgeregte Frauenstimme. »Gott sei Dank melden Sie sich!«

Steves Magen war ein Säurebad. Was war geschehen? Wer war Dana Marin? Eine dunkle Erinnerung. Dann die Klarheit: die Frau, die Turner in Athen verhaftet hatte!

»Sie haben mich vor einigen Jahren beim Stimmvergleich Ihres Videos für die Gutachten des ICC kennengelernt«, sagte sie. »Ich war die Frau, die mit Ted Valenski dabei war. Ich kenne Sie nur als VidSelf.« Ihre Stimme klang irgendwie leise. Als müsste sie beim Sprechen vorsichtig sein.

»Warum soll ich Ihnen das glauben?«, fragte Steve alarmiert. »Von wem haben Sie diese Nummer?«

»Von Ted«, sagte die Frau. »Sie waren damals in Begleitung Ihrer Rechtsvertreter Frank Adams und Ann Fillson. Der zweite Gutachter hatte diesen ausgepolsterten Koffer für seine Geräte. Danach übergab Ihnen Ted ein Telefon. Ich weiß nicht, ob es dasselbe ist, auf dem ich Sie jetzt erreiche. Genügt das?«

Steve versuchte, sich zu erinnern. Die Beschreibungen stimmten. Wenn sie nicht Dana Marin war, konnte sie dann von Frank und Ann wissen? Von dem gepolsterten Koffer? Solche verwendeten diese Techniker wohl öfter. Franks und Anns Rolle konnte sie erraten haben? Ted Valenskis Namen ebenso wie den von Dana Marin selbst …

»Frank Adams schüttete seinen halb vollen Kaffeebecher aus«, fügte sie schnell hinzu, als wäre ihr das gerade erst eingefallen. »Fast wäre der Kaffee über das Aufnahmegerät gelaufen.«

Steve lief es kalt über den Rücken. Gleichzeitig machte sein Herz einen kleinen Sprung. Auch er hatte dieses Detail fast vergessen. Das konnte nur jemand wissen, der dabei gewesen war!

»Dana Marin«, sagte er. »Die Dana Marin, die bei Douglas Turners Verhaftung in Athen dabei war? Auf die gestern ein Anschlag verübt wurde?«

»Ja. Wo sind Sie?«, fragte Dana.

Steve spürte Misstrauen in sich aufsteigen.

Schließlich: »Weshalb wollen Sie das wissen?«

»Es ist … Wir haben ein Problem.«

»Ich weiß«, erwiderte Steve kühl. »Ich bin untergetaucht und auf der Flucht. Wenn ich erwischt werde, wandere ich lebenslang in den Knast. Bestenfalls. Sie wurden vergangene Nacht fast in die Luft gejagt. Wir haben uns mit jemandem weit über unserer Kragenweite angelegt.«

Dana schwieg für einen Moment.

»Der griechische Richter, der über Douglas Turners Auslieferung nach Den Haag entscheidet, legt es darauf an, ihn freizulassen. Wir mussten ihm bereits das Video zeigen. Und wir haben ihm die Gutachten über dessen Echtheit vorgelegt. Beides genügt ihm nicht.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Er möchte Sie persönlich sprechen. Möchte Sie sehen und Ihre Stimme hören. Erst dann glaubt er, dass das Video echt ist.«

Steve blickte aus dem Fenster. Draußen zog Deutschland vorbei.

»Ich bin auf dem Weg nach Den Haag.«

»Wo? Wie reisen Sie?«

»Deutschland.« Genauer wollte er nicht werden. »Im Zug. Die einzige Möglichkeit, anonym zu reisen. In der Hoffnung, dort Schutz zu bekommen. Und jetzt soll ich nach Athen kommen?«

»Innerhalb der nächsten zweiundzwanzig Stunden. Wo sind Sie jetzt?«

Schweigen auf Steves Seite. Bis er fragte: »Ist das ein Scherz? Dazu müsste ich fliegen. Wahrscheinlich werde ich schon beim Check-in verhaftet, spätestens beim Sicherheitscheck. Oder ich muss in den nächsten Zug steigen. Oder hätten Sie jemanden in meiner Nähe mit einem unverdächtigen Auto, der mich mal eben quer über den Balkan fährt? Weil: Mietwagen kommt auch nicht infrage. Da würden sofort zu viele Daten von mir in den Systemen herumschwirren. Name, Kreditkartennummer, Sie wissen schon. Und selbst dann: Ich weiß nicht, ob man es per Auto in der Zeit von hier nach Athen schafft.«

»Daran arbeite ich noch«, antwortete Dana.

Vor dem Fenster verschwamm die Landschaft.

»Sie sagen selbst«, sagte Steve endlich, »dass der Richter Turner freilassen will. Wenn er das will, wird er das auch tun. Ob ich da nun auftauche oder nicht. Er wird einen anderen Vorwand finden. Und ich bin in die Falle gelaufen.«

»Das Gericht garantiert Ihre Sicherheit und Anonymität gegenüber den Amerikanern.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Dann hätte ich Sie nicht kontaktiert.«

»Wie wollen die das tun?«

»Bei Ankunft werden Sie in einen Safe Place gebracht. Eine Wohnung oder ein Haus. Dort bewacht. Zum Gericht gebracht, dort hinter einem Paravent von den Richtern befragt. Danach wieder weggebracht.«

»Und wer sagt, dass nicht irgendein griechischer Verantwortlicher alles an meine lieben Landsleute durchsticht? Und ich doch gefunden werden? Womöglich vor meiner Aussage? Und ich mich plötzlich in einem Flieger in die USA befinde, wo ich direkt in eine Zelle wandere?«

»Wir sind hier in keinem Agentenfilm.«

»Sagt die Frau, die gestern fast verbrannt wurde. Im Prinzip müssten meine lieben Landsleute nur verhindern, dass ich rechtzeitig vor Gericht erscheine.«

»Auch die Griechen haben ein Interesse daran, nicht als völlige Bananenrepublik dazustehen.«

Steve dachte nach.

»Wenn mich meine lieben Landsleute erwischen, kann ich kein Zeuge mehr sein. Nicht einmal ein anonymer. Dann bin ich nur mehr ein Häftling. Oder tot.«

»Wenn Sie nicht kommen, verlässt Douglas Turner in zweiundzwanzig Stunden das Gefängnis als freier Mann«, sagte Dana. »Dann war alles umsonst. Alles, was Sie auf sich genommen haben. Und es wird nicht vorbei sein, ob Sie nun kommen oder nicht. Auch wenn Turner entlassen wird, bleiben Sie der Whistleblower. Mit allen Konsequenzen. Nur wenn Sie nach Athen kommen, hat das alles einen Sinn gehabt.«

Guter Punkt. Hatte das alles überhaupt einen Sinn?, fragte sich Steve, während er aus dem Fenster starrte, ohne die Landschaft draußen wahrzunehmen.