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Vassilios sah blass aus. Aus seiner Nase wuchsen zwei Plastikschläuche. Seine Augen funkelten.

»Dieser Bastard!«, krächzte er und meinte den Vorsitzenden des Berufungsgerichts, Konstantinos Konstanidis. »War immer schon ein Wiesel! So ist er auch ganz nach oben gekommen.«

Er musste unterbrechen, um Luft zu holen. Hustete.

»Hat sich also herausgewunden«, fuhr er mit seiner heiseren Tirade fort. »Nach den Fotos von ihm beim Justizminister gestern Abend konnte er Turner natürlich nicht völlig umstandslos entlassen. Also stellte er unerfüllbare Bedingungen.«

Musste wieder husten. Wackelte mit seinem Zeigefinger Richtung seines metallenen Krankenhausnachttischchens.

»Mein Telefon«, keuchte er.

Dana reichte ihm das Gerät. Das Display war zersprungen. Er drückte den Daumen auf den einzigen Knopf, um es zu entsichern. Ließ die Hand wieder auf das Bett fallen. Er wirkte sehr schwach.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dana besorgt.

»Such einen Kontakt«, forderte er schwer atmend anstelle einer Antwort. »Jochen Finkaus.«

Dana tat wie ihr geheißen. Da war er.

»Ruf ihn an. Von einem sicheren Telefon. Oder einem öffentlichen, an dem dich niemand sieht. Sag ihm, was Sache ist. Ein alter Freund, der mir noch einen Gefallen schuldet. Dem die Geschichte außerdem Spaß macht, wie ich ihn einschätze. Wenn dir jemand den Zeugen bringen kann, dann er.«

Hustenanfall.

Als er sich endlich davon erholt hatte, scheuchte er sie mit geschlossenen Augen und einer Handbewegung davon.

»Nun mach schon, dass du wegkommst!«, ächzte er. »Du hast keine Zeit zu verlieren!«

Dana sprang auf. Zögerte kurz. Beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Danke!«, flüsterte sie. »Für alles! Gute Besserung!«

Schon auf dem Weg aus dem Zimmer hatte sie ihr eigenes Telefon wieder in der Hand. Kurz schwebte ihr Finger über dem Screen. Dann tippte sie den Chat an.

Entdeckte, dass Alex ihr vor einer halben Stunde eine Nachricht geschickt hatte. Wohl kurz nachdem die Nachricht von Turners Haftverlängerung öffentlich geworden war.

Glückwunsch!

Rasch tippte sie im Gehen.

Sorry für mein Verhalten gestern! Aber du musst verstehen. Danke für die Infos heute Morgen! Waren sehr hilfreich! Würdest du mir noch einmal helfen?

Noch atemlos vom Treppensteigen, stand Catherine vor der Tür im Dachgeschoss, als Delli öffnete. Sie war eine kleine hübsche Brünette mir großen braunen Augen, die immer erstaunt dreinblickten.

»Guten Abend«, keuchte Catherine wegen der Treppen. »Ich bin allein, Steve verspätet sich. Kommt aber sicher gleich.«

Hinter Delli tauchte Emil auf. Ein langer Lulatsch mit blonden Locken bis zu den Schultern und viel zu viel Bart.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte er.

Verwundert wandte sich Delli zu ihm um.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Sorry«, sagte Emil zu Catherine, »komm erst einmal rein.«

Verwirrt folgte Catherine der Aufforderung.

Umarmung, Küsschen. Catherine überreichte Delli den Wein und Emil die Schokolade. Sie war unsicher, was Emil ihr sagen wollte.

»Was meinst du?«, fragte sie ihn.

Sie gingen in die Wohnküche. Auf dem groben Esstisch stand sein iPad.

»Das explodiert gerade auf allen Kanälen«, sagte er.

Auf dem Bildschirm war ein großes Porträt von Steve zu sehen. Ein paar Jahre jünger, aber eindeutig Steve.

»Was soll das?«, fragte Catherine und spürte die Hitze in ihren Kopf steigen.

Emil schob das Bild nach oben, eine Schlagzeile erschien.

10 Millionen Dollar für diesen Mann!

»Wie es scheint«, meinte Emil, während Catherine den Text überflog, »haben die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf Steve ausgesetzt.«

Catherine wurde schwindelig.

»Was soll das …«, flüsterte sie fassungslos. »Steve? Warum?«

»Er soll Staatsgeheimnisse verraten haben. Seit heute Nachmittag sei er untergetaucht und auf der Flucht. Für Hinweise, die zu seiner Verhaftung führen, werden zehn Millionen Dollar geboten.«

»Das kann doch nicht sein. Steve? Was für Geheimnisse? Woher soll er die haben? Die Agentur hat doch nichts mit staatlichen Projekten zu tun. Schon gar nicht amerikanischen …«

»Die Spekulationen blühen«, sagte Emil und wischte über den Schirm, rief andere Berichte auf. Auch sie mit Bildern von Steve.

Whistleblower?, fragte eine Schlagzeile.

Lieferte er die Smoking Gun für Douglas Turners Verhaftung?,

eine andere.

Catherine musste sich setzen. Mit beiden Händen hielt sie sich am Tisch fest. Erfasste nur einzelne Stichworte der Artikel.

Mutmaßungen. Verdacht. Zusammenhang mit Turners Verhaftung nicht erwiesen. Auch nicht dementiert. Zeitliche Nähe auffällig.

»Geht’s?«, fragte Emil.

»Doofe Frage«, zischte Delli. »Nichts geht, siehst du doch.«

»Verschwunden?!«, rief Walter. »Wie kann sie verschwinden?«

Derek stand neben dem CIA -Stationsleiter im Lagezentrum. Das Telefon war auf laut gestellt, sodass alle mithören konnten.

Auf einem der Monitore poppten hintereinander mehrere Bilder auf. Eine der schmalen Straßen in der Athener Innenstadt.

Auf dem ersten Bild war Dana Marin von hinten zu sehen. Inzwischen hätte Derek Endvor sie wohl von allen Seiten und selbst im Dunkeln erkannt. Eine Hand am Ohr. Telefonierte. Auf dem nächsten Bild verschwand sie in einem Hauseingang. Die nächsten drei Bilder zeigten verschachtelte Innenhöfe mit verschiedenen Ausgängen.

»Hier«, erklärte die Stimme des Beschatters aus dem Telefon. »Wenn man sich hier auskennt, findet man einen Weg durch das Labyrinth. So schnell konnten wir gar nicht drin sein.«

»Verdammt!«, rief Walter. »Findet Sie!«

Er beendete die Verbindung.

»Die glauben doch nicht ernsthaft, Steve Donner bis morgen hierherzuschaffen?«, sagte Trevor.

»Die haben Turner ins Gefängnis gebracht«, sagte Derek. »Und bis jetzt drinnen halten können.«

Er hatte diese Frau unterschätzt. So etwas von. Seine Wut mischte sich mit Respekt.

»Weiß der Teufel, was die noch in petto haben.«

Am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main verließ Steve den Zug. So lautete Dana Marins Anweisung. Er hielt Ausschau nach dem Mann, den sie ihm beschrieben hatte. Er sollte am Treppenabgang auf Steve warten. Mittelgroß, sehnig, braun gebrannt. Grüne Jacke. Jochen.

Steve entdeckte jemanden, auf den die Beschreibung passte.

»VidSelf?«, sprach er Steve an.

»Jochen?«

Der Mann reichte ihm eine Schirmkappe und eine Sonnenbrille.

»Ihr Gesicht ist überall«, sagte er in akzentfreiem Englisch.

Steve setzte beides auf.

»Gehen wir.«

Jochen fuhr einen Lamborghini Countach.

»Sehr unauffällig«, bemerkte Steve.

»Damit rechnen Ihre Verfolger nicht«, erwiderte Jochen. »Wer erwartet einen Flüchtigen in einem Lambo? Obwohl, bei der Prominenz, die Sie inzwischen haben …«

»Sie meinen die zehn Millionen.«

»Brauche ich nicht.«

»Sehe ich«, sagte Steve, während er sich im Wagen umblickte.

»Ihretwegen schicken die Amis inzwischen auch Kriegsschiffe zu den türkischen, griechischen und französischen, die sich im östlichen Mittelmeer belauern. Kindsköpfe, allesamt.«

»Nicht meinetwegen.«

»Aber irgendeine entscheidende Rolle spielen Sie in der ganzen Sache.« Er winkte ab, bevor Steve etwas sagen konnte. »Will es gar nicht so genau wissen. Warum müssen sich erwachsene Männer immer noch benehmen wie im Kindergarten? Bloß mit Flugzeugträgern und Bombern statt mit hohlen Plastikhämmern.«

Jochen steuerte den Wagen aus der Stadt.

»Wir fliegen bis Sarajevo«, erklärte er. »Dort machen wir einen Zwischenstopp. Klo und Tanken. In zwölf bis vierzehn Stunden sollten wir in Athen sein.«

»Warum tun Sie das?«, fragte Steve.

»Dasselbe könnte ich Sie fragen.«

»Fair enough. Aber Sie steckten bis jetzt nicht mit drin.«

»Wir stecken da alle mit drin. Außerdem fliege ich gern.«

»Sie gehen ein ziemliches Risiko ein.«

»Nein, ich bin ein erfahrener Pilot.«

»Ich meine …«

»War ’n Scherz. Ich finde das ziemlich cool, was da gerade abgeht. Muss man unterstützen. Und ich kann es mir leisten.«

Schwungvoll parkte er den Wagen vor einem kleinen Flughafen für Hobbypiloten. An der Start- und Landebahn stand eine Art größerer Kiosk. Daneben parkte ein Dutzend kleiner Propellermaschinen. Mit so einer sollten sie halb Europa überqueren?

»Da sind wir«, sagte Jochen.

Aus dem kleinen Kofferraum im Heck des Wagens nahm er eine Reisetasche. Mit langen Schritten liefen sie zu einer der Maschinen.

»Cessna 635«, sagte er. »Vier Plätze, etwa zweihundertachtzig Stundenkilometer, Reichweite gut tausendfünfhundert Kilometer – mein Modell hier.«

Türen auf, Tasche hinein.

»Sind Sie schon einmal mit so einer geflogen?«, fragte Jochen.

»Nein«, gestand Steve, während er auf den Sozius kletterte.

»Es ist großartig«, sagte Jochen, »Sie werden sehen.«

»Dann los«, sagte Manolis und klopfte auf das Dach der Klapperkiste. Alex saß am Steuer, Dana auf dem Beifahrersitz. Tania hatte etwa dieselbe Konfektionsgröße wie Dana und ihr Jeans und T-Shirt geliehen. Von der Armatur schälte sich in zahlreichen kleinen Fetzen eine dunkelgraue Schicht wie nach einem bösen Sonnenbrand und gab darunter eine Schicht in einem helleren Grau frei. Das Lenkrad war so abgegriffen wie der Schaltknüppel und die Handbremse. Die Sitzüberzüge waren überzogen von Flecken aller Art und Zigarettenbrandlöchern. Außen sah die Karre nicht besser aus. Einstmals rot, ähnelte die Farbe an den meisten Stellen nunmehr einem blassen Orangerosa. Bis auf den linken vorderen Kotflügel. Der war dunkelgrün. Und die Hecktür. Dunkelblau. Oder etwas Ähnliches. Auch egal. Im Dunkeln sah man das alles ohnehin nicht so genau. Damit sollten sie dreihundert Kilometer schaffen? Und zurück?

»Schau nicht so«, lachte Alex. »Ist ein zuverlässiges Baby.«

Er warf den Motor an, schob krachend den ersten Gang rein, schaltete die Scheinwerfer ein. Im Lichtstrahl leuchteten Stavros, Dimitrios und Tania noch einmal auf. Lachend sprangen sie zur Seite. So lustig fand Dana das alles nicht. Aber die Leichtigkeit und Unbedarftheit der Truppe steckte sie doch ein wenig an. Alex fuhr los.

»Ach«, sagte er und fingerte sein Telefon aus der Hosentasche. »Der Wagen hat zwar keine Elektronik, die man orten könnte. Aber eine gute Musikanlage. Hier, such eine anständige Playlist. Wir haben eine lange Fahrt vor uns.«