92

»Was für ein Kübel!«, schimpfte Turner. Mit beiden Händen klammerte er sich an Handgriffen und Kopfstütze fest.

Sean Delmario holte das Letzte aus dem Kübel raus.

Im Athener Verkehr war die Rostlaube auch nicht schlechter als ein Range Rover, fand Derek. Klein, wendig. Sean wusste ihn zu fahren.

Ohne Rücksicht.

Walter war am Telefon, er schickte ihnen zwei Teams entgegen.

»Wie lange noch?«, fragte er Sean. Der überholte rechts. Zog nach links. Hinter ihnen schnaufte Turner.

»Zehn Minuten?«, schätzte der Ex-Soldat.

Sie rasten durch schmale Gassen, wohl um dem dichten Verkehr zu entkommen. Durfte bloß kein Müllwagen vor ihnen auftauchen. Derek kam die Gegend bekannt vor. Hier irgendwo lag die Botschaft.

»Sie glauben wirklich, dass die Russen dahinterstecken?«, fragte Sean.

»Wir wissen es nicht«, sagte Derek. »Bloß dass wir es nicht waren.«

»Und dieses Video mit Ihnen drauf?«

»Habe ich nie aufgenommen. Ganz sicher nicht. Ein Deep Fake, vermute ich.«

»Der Kreml lacht sich gerade ins Fäustchen«, meinte Sean.

»Mehr als das, wenn sie es waren. Dann wälzen sie sich vor Lachen auf dem Boden.«

»Mahir, die Ratte«, fluchte Sean. Trat das Gaspedal durch, um über eine dunkelgelbe Ampel zu rasen.

»Ich habe von Ihrer Geschichte beim Militär gehört«, sagte Derek. »Warum haben Sie den Auftrag überhaupt angenommen? Bei der Anklage gegen Turner?«

»Ein Mann muss sein Geld verdienen.«

»Das haben Sie schon einmal aufgegeben, weil Sie den Job nicht machen wollten.«

»Nicht auf diese Weise machen wollte.«

Derek sah, wie Sean Turner im Rückspiegel fixierte.

»Außerdem gehe ich davon aus, dass die Anklage nicht stimmt«, sagte er.

Der sollte lieber auf die Straße schauen.

»Oder?«, fragte Sean Turner.

»Ich habe ein reines Gewissen«, antwortete der Ex-Präsident von hinten.

Sean schwieg einen Atemzug lang, bevor er sagte: »Das ist keine Antwort.«

»Da vorn um die Ecke ist die Botschaft!«, rief Derek.

Kaum waren sie abgebogen, standen sie im Stau. Hunderte Demonstranten drängten sich auf der vierspurigen Straße und dem Grünstreifen in der Mitte und blockierten jegliche Durchfahrt. Dereks Puls schoss in die Höhe. Da fuhren sie auf ein Pulverfass zu!

»Da kommen sie nicht durch«, sagte Stavros zu Steve. »Danas Worte haben gewirkt.«

Ihre Drohnen sendeten wieder live.

Damit alle Welt sehen konnte, was geschah.

Wo der Wagen mit Douglas Turner unterwegs war.

Vor allem die Demonstranten vor der US -Botschaft. Vor dem Gericht. Wo auch immer in der Stadt. Um zur US -Botschaft zu eilen und alle Zufahrten zu blockieren.

»Clever von ihr«, sagte Tania. »Sie richtete ihren Appell, dass Turner die Botschaft nicht erreichen dürfe, zwar an die Verantwortlichen in Politik und bei der Polizei. Wusste aber sehr gut, dass die Nachricht auch andere sehen würden.«

Danas Stream sendete noch immer. In einem Fenster auf dem Computer konnten Steve und die anderen verfolgen, wie die Polizei auf dem Flughafen die Personen kontrollierte. Die Situation dort schien sich zunehmend zu entspannen. Nur die drei Söldner standen noch mit ihren Händen hinter dem Kopf verschränkt da.

Im größeren Fenster auf dem Monitor sah Steve aus der Vogelperspektive die Menschenströme rund um die US -Botschaft. Immer mehr Leute mussten die Übertragung seiner Mitpassagiere sehen. Jetzt lösten sich Demonstranten aus der Masse und liefen durch den Stau auf den Wagen mit dem Ex-Präsidenten zu! Auf Stavros’ Bildschirm konnte er beobachten, wie aus dem kleinen Auto, in dem Steve die vergangenen Stunden verbracht hatte, drei Punkte sprangen. Gleichzeitig schossen zwischen den Staureihen dahinter mehrere Motorräder auf den Wagen zu.

Polizei.

Zwischen dem Botschaftsblock und den Demonstranten wälzte sich ein schwarzer Block auf die Demonstranten zu.

Noch mehr Polizei.

Wollten die Turner freie Durchfahrt verschaffen? Oder einfach die Demonstranten von der Botschaft fernhalten? Oder gar Turner festsetzen?

»Kommen Sie!«, rief Sean Turner zu. Zerrte ihn am Arm zwischen den Autos hindurch. Von der einen Seite strömten die Demonstranten auf sie zu. Aus dem einen oder anderen Wagen im Stau stiegen erste Fahrer aus und blickten sich neugierig um. Von hinten hörten sie Polizeisirenen. Sean entdeckte die Motorräder. In den vergangenen Tagen waren sie ihm öfter aufgefallen. Auf den Maschinen saßen immer zwei Polizisten in ihren schwarzen Uniformen. Was auf den ersten Blick wie eine ärmliche Sparmaßnahme aussah, wirkte im nächsten Moment umso bedrohlicher. Der Mann auf dem Sozius konnte bei Bedarf sofort von der Maschine springen. Jemanden verfolgen. Festnehmen. Ohne Rücksicht auf das Fahrzeug.

Sean hielt sich dicht an Turners anderer Seite. Erkannten die Menschen sie? Turner und Sean trugen immerhin Sonnenbrillen und Schirmkappen. Noch dreißig Meter. Hinter den Köpfen und Transparenten erkannte Derek bereits das Gebäude der Botschaft. In der Menge und unter den ausgestiegenen Lenkern entdeckte er erste Telefone, in die Höhe gereckt, um zu filmen.

In ihre Richtung.

Verdammt!

Die Menschen strömten auf sie zu. Auf Turner. Sean. Und Derek.

»Dorthin!«, schrie Sean. Versuchte, Turner in Richtung des Bürgersteigs zu ziehen.

Keine Chance. Schon umringten sie schreiende Menschen mit Telefonen, drängte ihre Dreiergruppe immer weiter auseinander. Da half auch Seans Kraft nichts. Fremde Hände zogen an ihm und Turner. Körper schoben sich zwischen ihn und die beiden anderen. Sean wehrte sich gegen die Angriffe. Versuchte, die Hände abzuschütteln, schlug mit der flachen Hand heftig in ein Gesicht, mit der Faust in einen Magen, gegen Nieren. Versuchte noch einmal, Turner zu schützen, doch der war bereits außerhalb seiner Reichweite. Immer enger drängte sich die Masse um ihn. Sean atmete schwer, Schweiß rann in seine Augen. In dem dichten Getümmel konnte er kaum noch Schwung für seine Hiebe nehmen. Zunehmend fühlte er sich wie in einem reißenden Strom, dessen Gewalt ihn wegtrug, sosehr er auch strampelte. Gegen eine solche Masse war selbst ein ausgebildeter Nahkämpfer letztlich machtlos. Von einer Seite hörte er Rufe. Sah die Helme von Polizisten. Noch schlugen sie nicht zu.

Er reckte den Kopf. Wo steckte Derek Endvor? Und Turner? Sean ruderte in die Richtung, wo er sie zuletzt gesehen hatte. So konnte das doch nicht zu Ende gehen! Seine Schläge brachten ihn kaum weiter. Die Geprügelten konnten nicht einmal ausweichen, so dicht war das Geschiebe. So würden sie unmöglich zur Botschaft durchdringen.

Konstantinos Konstanidis konnte nur noch zwei der drei Männer aus dem Auto sehen. Der dritte war in den Menschenmassen verloren gegangen.

Zu dritt standen die Richter über den Tabletcomputer ihres jüngsten Kollegen gebeugt und verfolgten die Liveübertragung. Laut den aufgeregten Stimmen der Reporter aus dem Computer stammten die Aufnahmen von Hobbydrohnen, deren Besitzer sie ins Internet spielten. TV -Sender und andere Nachrichtenoutlets übernahmen sie unmittelbar und kommentierten.

»Das ist wie die Verfolgungsjagd auf O. J. Simpson«, sinnierte er. »Habe ich als Postdoc-Student in den USA 1994 live miterlebt. Damals hockte das halbe Land vor den Fernsehern.«

In gewisser Weise hatte Konstanidis sich erleichtert gefühlt, als er von der Befreiung erfahren hatte. Die Sache wäre von seinem Tisch gewesen.

»Oder wie die Jagd auf die Boston-Marathon-Bomber 2013«, warf sein jüngerer Kollege ein. »Die wurde schon in den sozialen Medien übertragen. So wie das hier.«

Hätten diese Dana Marin und ihr Begleiter doch nicht alles verdorben! Und diese Typen, die Turner rausgeholt hatten – auf den letzten Metern so versagt! Statt Dana Marin und den anderen auszuschalten und in den Flieger zu steigen. Nicht zuletzt Turner mit seinem peinlichen Auftritt. Ein paar Schüsse in die Luft hätten wahrscheinlich genügt, um die Marin und ihren Handlanger zu verscheuchen.

»In der Zwischenzeit hält sich ja jeder Mensch mit einem Telefon für einen Reporter«, meinte der dritte Richter. »Oder zumindest für einen Influencer.«

»Wahrscheinlich starrt gerade die halbe Welt auf ihre Telefone und Computer und sieht diese Bilder«, meinte Konstanidis. »So wie wir.«

Er schaute auf die Uhr.

»Die Zeit ist auf jeden Fall um«, sagte er. »Der Zeuge, den die Staatsanwaltschaft und diese Marin uns versprochen haben, ist nicht da.«

Er bemerkte die verdutzten Blicke seiner Kollegen.

»Was ist?«, fragte er ungeduldig. »Und im Übrigen«, fügte er mit einer Geste in Richtung des Tablets hinzu, »der Häftling auch nicht.«

Durch das Getümmel drängten sich kleinere und größere schwarze Cluster. Polizei. Wer immer die Drohne lenkte, senkte das Fluggerät tiefer auf die Menge hinab oder zoomte heran. Inzwischen konzentrierte sich die Übertragung auf die zwei Männer.

»Das sind Douglas Turner und Derek Endvor«, stellte der jüngste Richter fest. Vergeblich versuchten die zwei, sich durch die Demonstranten Richtung Botschaft durchzuschlagen. Wie es schien, hatten die sich jedoch an den Armen ineinandergehängt und bildeten einen Blockadering aus mehreren Reihen rund um die zwei und versuchten auch, sie voneinander zu trennen.

»Diese Schwachköpfe«, sagte Konstanidis.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete.

Wer rief denn ausgerechnet jetzt an?!

Er hob ab.

Lautstark meldete sich in seinem Ohr der Justizminister.

»Was geschieht jetzt?«, fragte er.

Das hing davon ab.

Ob Turner es in die Botschaft schaffte.

»Wenn Turner bis in die Botschaft kommt, können wir nicht mehr viel tun«, sagte Konstanidis. »Außer die Amerikaner liefern ihn aus. Was sie nicht tun werden. Vielleicht könnte ja jemand der Polizei Anweisungen geben …«

»Einen flüchtigen Häftling laufen zu lassen?!«, erregte sich der Justizminister. »Oder ihm gar bei der Flucht zu helfen?!«

»Die Demonstrationen unter Kontrolle zu bringen«, erwiderte Konstanidis. »Da ist sie doch sonst auch nicht zimperlich. Wenn ihn die Polizei festnimmt, steht er bald wieder vor meinem Gericht. Obwohl ich ihn dann mangels Beweisen immer noch gehen lassen kann …«

Den Satz »Das wollen Sie doch auch nicht« wagte er, neben seinen Kollegen nicht laut auszusprechen. Sie hatten schon seine letzte Bemerkung mit denselben Blicken wie vorher quittiert.

»Wo ist er überhaupt?«, murmelte Konstanidis und beugte sich näher über den Monitor, auf dem sich Polizistentrupps zu dem Blockadering durchkämpften.

Zuerst wollten die Demonstrierenden zwischen und rund um Derek und Turner die Polizisten nicht durchlassen. Derek sah Sean nirgendwo mehr, ihn hatten die Menschen noch weiter abgedrängt.

Etwa zwei Dutzend Beamte mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken arbeiteten sich durch die Menge vor. Derek versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen. Doch statt die Schlagstöcke gegen den Mob einzusetzen, blieben sie jetzt stehen! Der Anführer hatte den Helm abgenommen und diskutierte mit einigen der Demonstrierenden. Derek verstand kein Wort. Was sollte das? In den USA löste man Demonstrationen anders auf. Auch hier in Athen hatte er schon weniger friedvolle Zusammenstöße gesehen. Schließlich öffneten die Demonstrierenden ihren Ring, in dem sie Derek und Turner festgesetzt hatten, und die Polizisten kamen auf sie zu.

Der Anführer wandte sich an den Ex-Präsidenten: »Douglas Turner, wir haben den Auftrag, Sie vorerst in die Haftanstalt zurückzubringen.«

Turner blickte Derek entsetzt an.

»Sind die verrückt?«, rief er. »Die sollen uns zur Botschaft bringen! Die haben sie ja wohl nicht alle!«

Hoffentlich verstanden diese Polizisten kein Englisch.

Im Bruchteil einer Sekunde scannte Derek die Umgebung. Wo steckte Sean? Wie zur Hölle sollten sie allein hier rauskommen?

Der Ring der Demonstrierenden hatte sich erneut geschlossen. Die würden ihn niemals zur Botschaft durchlassen. Und die Polizisten? Auf wessen Seite die standen, hatte er gerade erfahren.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ich denke, wir haben keine andere Wahl«, flüsterte er Turner zu.

Für einen Moment hatte Turners Gesicht etwas Lauerndes. Hoffte er auf eine Intervention der Russen-Söldner? Zu spät. Die Masse der Menschen drängte sie unerbittlich von der Botschaft fort in Richtung Gefangenentransporter.