»Denkst du, die Griechen lassen Turner davonkommen?«, fragte der linke Partner des Moderatorenduos in gewohnt aufgeregt-gutgelauntem Ton amerikanischer Nachrichtensprecher. Als ob sie sich über die letzten Sportergebnisse austauschten.
Hinter ihnen war ein Standbild aus Danas Video zu sehen. Sean Delmario wie ein Märtyrer, die leer gefeuerte Waffe gesenkt, den Blick gen Himmel wie zum Gebet. Hinter ihm Douglas Turner mit entsetztem Blick, die Pistole umklammernd.
»Ehrlich?«, antwortete der zweite Moderator ebenso fröhlich. »Nicht einmal ich würde ihn damit davonkommen lassen! Eine Schande, der Mann, für unser ganzes Land!«
»Nun schiiießen Sie schon, Soldaaat!«, äffte der Linke den Ex-Präsidenten nach. »Ich war Ihr Präsideeent!«
»Dass er uns und die Welt auch noch daran erinnern musste!«
»Das ist doch der wahre Patriot!«, rief die Frau auf dem Bildschirm, die dritte von vier Sprechköpfen in der Talkrunde. Hinter ihnen war ein Standbild der Flughafenszene eingeblendet. Und wieder Sean Delmario, der Betende. »Das ist unamerikanisch! Wie recht er hat!«
»Ich muss widersprechen«, dröhnte der Mann ganz links, ein beleibter Mittfünfziger mit Föhnfrisur, Krawatte und Blazer. »Sein Job wäre es gewesen, den Präsidenten heil nach Hause zu bringen!«
»Und damit Arthur Jones die Wahl zu retten!«, mischte sich der nächste Talkgast ein.
»Das ging ja gründlich daneben!«, meinte die Föhnfrisur.
»Ich muss allerdings Latisha zustimmen«, sagte der andere. »Douglas Turner hat uns alle blamiert! Den will ich hier gar nicht mehr haben.«
»Er war immerhin auch Ihr Präsident!«, empörte sich der vierte Talkgast, ganz rechts.
»War er nie!«
Die Diskussion verknäulte sich in wildem Durcheinanderschreien, das niemand mehr verstand.
»Weiterhin ungeklärt ist die Rolle der drei US -amerikanischen Ex-Soldaten, die von der griechischen Polizei bei dem Flugzeug festgenommen wurden, mit dem Douglas Turner Athen verlassen wollte. Sie schweigen. Die griechischen Behörden können ihnen nicht zweifelsfrei nachweisen, dass sie auch jene Personen waren, die den Ex-Präsidenten in einer filmreifen Aktion aus dem Athener Korydallos-Gefängnis befreiten. Ihre Anwälte geben an, sie seien lediglich Begleiter Turners am Flughafen gewesen. Dagegen sprechen die verbrannten Überreste von Waffen, die von der griechischen Polizei neben dem Flieger sichergestellt wurden. Die drei wurden nach Stellung einer Kaution vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Weiterhin unbekannt dagegen ist der Verbleib des Vierten. Sean Delmario bleibt seit den Tumulten vor der US -Botschaft in Athen verschwunden. Ex-Präsident Douglas Turner dagegen wird morgen dem Berufungsgericht vorgeführt.«
»Die Verschwörungstheorien blühen«, erklärte die Moderatorin auf der rechten Seite des Tisches. »Meldungen behaupten, dass der Befreiungsversuch von Douglas Turner gar nicht von einem amerikanischen Militärteam durchgeführt wurde, sondern im Auftrag des Kremls.«
»Darin könnte durchaus ein Körnchen Wahrheit stecken«, meinte ihr Kollege. »Warum sollten die Amerikaner einen solchen Befreiungsversuch zu diesem seltsamen Zeitpunkt durchführen? Und noch dazu durch eine Söldnertruppe statt durch unsere Jungs. Ein paar Stunden später hätte das griechische Gericht Douglas Turner ohnehin freigelassen.«
»Der Kreml gibt dazu keinen Kommentar ab«, sagte die Moderatorin.
»Was kein Dementi ist«, meinte ihr Kollege. »Für Arthur Jones scheint der Wahlkampf auf jeden Fall gelaufen. Weniger Führungsqualität kann man kaum zeigen. Eine desaströs gescheiterte Befreiungsaktion. Womöglich nicht einmal von ihm beauftragt. Und Douglas Turner wieder in Haft.«
»Natürlich muss das griechische Gericht ihn freilassen«, stellte der pensionierte britische Staatsmann, nunmehr Unternehmer, mehrfacher Aufsichtsrat, Berater und Vortragender im dunklen Dreiteiler, mit seiner sonoren Stimme fest. »Douglas Turner war Führer der freien Welt. Als solcher hat er deren Werte immer hochgehalten und verteidigt. Was würde es bedeuten, wenn so ein Mann vor das Gericht in Den Haag gestellt würde, wie die ganzen Schlächter, Massenvergewaltiger, Kindersoldatenzüchter, die wir dort richtigerweise sehen?«
»Es würde bedeuten, dass der Westen sich an ebenjene selbst verordneten Werte hält, die er dem Rest der Welt als die höchsten anpreist«, erwiderte sein Gegenüber, deutscher Außenminister außer Dienst, nunmehr Unternehmer, mehrfacher Aufsichtsrat, Berater und Vortragender im dunklen Dreiteiler.
Es war ein Fest für all die Silberrücken, die das Geschehen und ihre Nachfolger seit Jahren von der Seitenlinie kommentierten. Auf jedem Bildschirm fanden sich welche, aus fast jedem Land. Freilassen. Nach Den Haag schicken. Das war die Demarkationslinie.
Zu der sich niemand aus der aktiven Spitzenpolitikerriege eindeutig zu äußern wagte an diesem Abend der erregten Debatten auf allen Kanälen.
»Das ist der Moment, in dem Douglas Turners Fluchtversuch endgültig endet«, berichtete der Moderator aufgeregt. »Alexandros Ziras macht die Fluchtmaschine flugunfähig.« Dazu das sehr unscharf vergrößerte Video einer Überwachungskamera des Flughafens, in welchem Alex unerkennbare Gegenstände in das Triebwerk des Privatjets wirft, während vor ihm Dana den Soldaten filmt, wie er neben seinem Fuß den Asphalt in kleine Rauchwölkchen auflöst.
Die Truppe vor dem Bildschirm brach in Lachen und Jubelrufe aus. Manolis und Dimitrios klopften Alex auf die Schulter. Kommentare flogen durcheinander. Bierflaschen wurden klimpernd aneinandergestoßen. Auch Jochen Finkaus saß zwischen ihnen, der Mann, der ihnen Steve gebracht hatte. Die Polizei hatte ihn schnell gehen lassen müssen.
Vom Rand des Zimmers beobachtete Dana den Moment. Neben ihr lehnte Steve am Türrahmen. Während die anderen weiter durch YouTube-Kanäle zappten, auf denen gerade Bilder der Demonstrierenden vor der US -Botschaft liefen, erhoben sich Alex, Jochen und Manolis und gesellten sich zu ihnen.
»Warum sind sie eigentlich nicht gleich vom Flughafen Volos zurück nach Deutschland geflogen?«, hörte Dana Manolis den Deutschen fragen.
»Ein bisschen Spaß muss sein«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Und ein wenig Ablenkung und Verwirrung für eure amerikanischen Freunde.«
Lachend stieß Manolis mit seiner Flasche gegen Jochens. Sie hatten Dana erreicht.
»Warum so nachdenklich?«, fragte Alex. »Turner ist zurück im Gefängnis.«
»Für eine Nacht«, sagte Dana.
»Aber für heute haben wir gewonnen!«, rief Manolis.
»Und morgen? Wenn es nur ums Gewinnen geht, hat man schon verloren. Solange die anderen sich nicht an Regeln halten. Wir wissen doch alle, wie das läuft. Am Ende lässt man die Großen laufen. Dann feiern sie, schwingen Reden über die Freiheit und Gerechtigkeit, jemand bekommt Orden … Und wir werden als überflüssig abgewickelt. Lächerlich gemacht. Unsere ganze Arbeit war umsonst. Oder noch schlimmer, man lässt uns weitermachen. Wie Haustiere, denen man wohlwollend amüsiert bei einer putzigen Tätigkeit zusieht …« Sie strich eine Locke aus der Stirn, fuhr düster fort: »Weil wir sicher in einem Käfig sitzen und nichts tun können.« Sie straffte sich. »Aber wenn es uns gelingt, Turner zur Verantwortung zu ziehen, mit unseren beschränkten Möglichkeiten, unserer Unterbesetzung, unseren lächerlichen Budgets, der fehlenden politischen Unterstützung selbst von Unterzeichnerstaaten, wenn uns das gelingt, dann schreiben wir die Gesetze unseres Zusammenlebens neu. Dann bekommen eine Menge Menschen da draußen vielleicht eine Chance auf ein friedlicheres Leben. Darum geht es.«
Manolis antwortete nicht. Alex nickte. Vom Sofa her klangen die blechernen Stimmen aus dem Computer. Das aufgeregte Geschnatter von Menschen nach einer überstandenen Ausnahmesituation.
»Wenn Steve morgen aussagt, sind die Bedingungen des Gerichts erfüllt«, sagte Alex schließlich. »Dann müssen sie ihn drinbehalten. Und nach Den Haag schicken.« Zu Steve gewandt, meinte er: »Du wirst doch aussagen? Der griechische Regierungschef persönlich hat deine Sicherheit garantiert.«
Steve antwortete nicht gleich. Sein Blick verlor sich zwischen Alex und der Ewigkeit.
»Wenn sie ihn freilassen wollen, werden sie ihn freilassen«, sagte er schließlich. »Egal, was ich sage. Aber: Ja natürlich. Warum wäre ich sonst gekommen?«