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»Schießen Sie schon!«

Noch einmal hatte Arthurs Wahlkampfkoordinatorin Sandra Pilasky die entscheidende Stelle über den Monitor laufen lassen.

»Das ist es, was seinesgleichen tut!«, hörten sie zum x-ten Mal Dana Marins Stimme. »Sie und Ihresgleichen auf Zivilisten schießen lassen, damit Sie selbst im Privatjet fliegen können.«

Sandra stoppte das Band.

»Sie macht hier einen Punkt«, erklärte Sandra und blendete in einem Fenster auf dem Bildschirm eine Statistik ein, »der bei sagenhaften siebenundsechzig Prozent der Bevölkerung absolute oder hohe Zustimmung findet! Bei unseren Wählern ist sie noch höher, aber auch bei Republikanern und Wechselwählern sind es mehr als die Hälfte.«

Die Umfrage hatte sie sofort nach den Ereignissen am Flughafen durchführen lassen. Wenige Stunden später hatten sie die Ergebnisse gehabt und diskutiert. Sie hatten schnell entscheiden müssen, wie sie weiter vorgingen. Konnten. Mussten. Bevor ihnen das griechische Gericht die Entscheidung abnahm. Noch mehr politischen und militärischen Druck, um Turner doch noch freizupressen?

Oder …

Sie ließ das Band weiterlaufen.

»Warum schießt er nicht selbst?!«, rief Dana. »Er hat die Waffe schon auf mich gerichtet!«

Stopp.

Sandra: »Ich weiß nicht, was ein Krisenverhandler zu ihrer Taktik sagen würde, aber für uns ist das Gold! Sie droht, den Präsidenten als Großmaul, als Feigling zu entlarven. Vor laufender Kamera. Und was macht Turner? Was kann er schon tun? Soll er schießen? Einen Mord an einer unbewaffneten Zivilistin vor den Augen der Weltöffentlichkeit begehen?«

Play.

»Nun schießen Sie schon, Soldat! Sie sind Amerikaner! Ich war Ihr Präsident! Das ist Ihr Job!«

Stopp.

»Das ist der erste Moment, wo es kippt«, sagte Sandra. »Unglaubliche dreiundsiebzig Prozent der Bevölkerung verurteilen seine Forderung. Vierzehn Prozent bleiben neutral, und nur dreizehn Prozent finden, dass er ein wenig oder ganz recht hat.«

Im Schnelllauf spielte sie die Passage, in der Sean Delmario das Flugfeld neben seinem Fuß zerschoss und schließlich wie ein Märtyrer stehen blieb.

Normaltempo.

»Wehrlose Zivilisten erschießen ist nicht mein Job« – die Stimme des Söldners verrauscht, aber verständlich. »Es ist unamerikanisch.«

Stopp.

»Bämm!«, rief Sandra. »Dreiundachtzig Prozent Zustimmung! Auch und gerade unter Wechselwählern und Republikanern!«

»Vielleicht sollte der Typ kandidieren«, flüsterte Derek. Was die anderen nicht hören konnten.

»Die restlichen Zahlen habt ihr auch schon bekommen«, sagte Sandra. »Sie sind eindeutig. Turners Verhalten wird von einer ganz überwiegenden Anzahl der amerikanischen Bevölkerung abgelehnt, selbst von seinen ehemaligen Wählern und Parteigängern.«

Sie ließ das Video bei dem Standbild mit dem Söldner anhalten.

»Und jetzt kommt’s: Auf die Frage, ob die USA Turner an den ICC ausliefern sollen, antworten derzeit zwei Drittel der demokratischen Wähler mit entschieden oder eher Ja, sechzig Prozent der Wechselwähler und noch immer dreiundfünfzig Prozent der republikanischen Wähler. In allen Gruppen gibt es relativ viele, die unentschieden sind, oder solche, die keine Meinung abgeben wollen. Eher oder entschieden dagegen sind lediglich elf Prozent unserer Wähler, fünfzehn Prozent bei den Wechselwählern und siebenundzwanzig Prozent bei den Republikanern.«

Für sich änderte Derek diese Zahlen noch ein wenig. Er kannte Umfragetechniken und ihre Ergebnisse lange genug. Was die Leute sagten und was sie tatsächlich dachten und taten, deckte sich nicht immer. Und viele waren sich dessen selbst nicht einmal bewusst. Trotzdem, selbst nach einer Korrektur zu negativeren Ergebnissen blieben die Zahlen eindeutig.

»Der notwendige Spin scheint klar«, sagte er. »Der Befreiungsversuch wurde von Privaten versucht, deren Auftraggeber oder Hintergründe noch nicht restlos geklärt werden konnten. Mutig, patriotisch und amerikanisch zu sein bedeutet, andere Menschen zu achten und zu respektieren. Auch und gerade dann, wenn sie schwächer sind. Das ist es doch, was Amerika jahrzehntelang getan hat. Es war gut und vernünftig von Arthur, auf eine gewaltfreie Lösung zu setzen. Und es erfordert mehr Mut und Patriotismus, den Jammerlappen Turner dem Gericht in Den Haag zu überantworten, als ihn mit allen Mitteln zurückzuholen.«

»In etwa«, stimmte Sandra zu. »Das Schöne daran ist: Wir haben die Bilder. Wir haben die Aussagen. Einen rotgesichtigen, panischen Ex-Präsidenten, der sich mit hassverzogener Fratze als Feigling entlarvt. Und einen mehrfach ausgezeichneten amerikanischen Kriegshelden, der die Nation im Augenblick höchster Anspannung an ihre wahren Werte erinnert. Bereits hundertmillionenfach online geteilt. Wrights Kampagne hat diesen Bildern nichts entgegenzustellen. Auch sie haben die Umfragezahlen gesehen. Kaum noch jemand bei den Republikanern ergreift offen Position für Turner.«

»Die Strategie wäre demnach«, ergriff nun Arthur Jones das Wort, »dass wir das griechische Gericht entscheiden lassen, wie immer es will. Dass wir Turner als amerikanischem Bürger alle denkbare juristische und politische Hilfe zuteilwerden lassen, die ihm zusteht und die wir nach besten Kräften leisten können, selbst wenn er nach Den Haag muss.«

»Natürlich«, sagte Sandra. »So viel erwarten die Wählerinnen und Wähler schon.«

Der Präsident nickte. »Das würde einen Paradigmenwechsel bedeuten«, sagte er. »Es hieße, dass wir die Zuständigkeit des ICC auch für US -Bürger anerkennen. Dass wir unsere gesamte Außenpolitik neu denken müssen. Damit bieten wir der Gegenkampagne eine gefährliche Angriffsfläche.«

»Nicht unbedingt«, meinte Derek. »Die USA haben das Gründungsstatut des ICC immerhin mit unterzeichnet. Und jetzt besinnen sie sich nach den dunklen Jahren der Folter, von Guantánamo und anderen Hässlichkeiten eben wieder auf ihre ursprünglichen Tugenden, so wie es Sean Delmario vor aller Augen tat. Das kann man kommunikativ schon schön spielen, was meinst du, Sandra? Und die Leute werden es gern glauben.«

»Ich denke auch«, sagte Sandra. »So wie es aussieht, haben wir damit das Thema vor allem für die verbleibenden Wahlkampfwochen zwar nicht vom Tisch, können aber auch wieder über anderes reden. Was so hohe Zustimmungswerte hat, gibt wenig Material her für Kontroversen, An- und Untergriffe der Gegenkampagne. Wrights Leute werden sich hüten, Turners armseligen Auftritt noch zu sehr zu thematisieren.«

»Bleibt dieser Whistleblower«, sagte Arthur Jones.

Er hatte ihn nicht Verräter genannt, fiel Derek auf.

»Die Geschichte ist weniger klar«, sagte Sandra. »Auch sein Verhalten stößt auf viel Zustimmung, aber längst nicht auf so viel wie das des Ex-Soldaten. In allen Lagern überwiegen zwar die Sympathisanten, aber bei den Wählerinnen und Wählern der Republikaner steht es dreiundvierzig Prozent Zustimmung zu vierunddreißig Prozent Ablehnung, der Rest neutral. Und auch bei den Wechselwählern finden sein Verhalten gerade einmal einundfünfzig Prozent gut und siebenundzwanzig Prozent schlecht. Das Kopfgeld und der internationale Heftbefehl sind vorläufig ohnehin ausgesetzt. Ansonsten würde ich über die Geschichte einfach nicht mehr viel reden. Groß war sie ohnehin nie. Dann vergeht das von allein. Wirklich wehtun kann sie uns im Wahlkampf nicht mehr.«