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Kommissar Arne Blindheim besah sich genau das Fenster, durch das der Täter in die Praxis eingestiegen war. Blindheim war kleiner, als sie sich vorgestellt hatte – diesen Eindruck hatte sie jedes Mal, wenn sie jemandem begegnete, den sie aus dem Fernsehen kannte. An der Tür war ein Polizeiassistent damit beschäftigt, die Fingerabdrücke am Lichtschalter zu sichern. Maja hatte bereits darauf hingewiesen, dass sie dort in jedem Fall ihre eigenen finden würden. In diesem Moment winkte der Kommissar den Assistenten zu sich ans Fenster.

»Untersuch den gesamten Fensterrahmen. Irgendwo muss er sich abgestützt haben.«

Dann wandte sich Blindheim an Maja, die hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Der Einbruch ist professionell ausgeführt worden«, stellte er fest.

»Aha.«

»Der Täter wusste genau, wie er hier reinkommt, ohne die Alarmanlage zu aktivieren.« Der Kommissar deutete auf den Fensterrahmen. Sie beugte sich vor, um seinen Erläuterungen besser folgen zu können.

»Er hat ein Loch in die Scheibe geschnitten und mit diesem Stück Kabel quasi einen Bypass gelegt. Mit einem Stift hat er das Kabelende angehoben, das durch eine Krokodilklemme mit den dünnen Kupferdrähten der Alarmanlage verbunden war. Danach konnte er das Fenster öffnen, ohne den Alarm auszulösen.«

Sie bemerkte, dass Blindheim mokkabraune, spitze Cowboystiefel trug. Ein auffälliges Detail seiner ansonsten sehr unauffälligen Garderobe.

»Ein Raumalarm hätte ihm den Einbruch erschwert«, bemerkte er mit dem Anflug eines Vorwurfs in der Stimme.

»Ich werd’s ausrichten.«

Der Kommissar brummte und blätterte in seinem Notizbuch.

»Sie sagten, der Täter sei mittelgroß gewesen und habe eine Lederjacke getragen. Sind Sie sicher, dass Ihnen nicht noch mehr aufgefallen ist?«

Er schaute sie forschend an.

»Es war dunkel und alles ging sehr schnell.«

Er gab ein weiteres Brummen von sich, dessen Bedeutung sie nicht entschlüsseln konnte.

Doch plötzlich fiel ihr noch etwas ein. »Er roch nach Tabak.«

»Zigaretten?«

Sie zuckte die Schultern. »Der Geruch hatte etwas Süßliches, vielleicht Pfeifentabak oder selbstgedrehte Zigaretten.«

Blindheim notierte sich ihre letzte Bemerkung nicht, sondern schaute sich in dem verwüsteten Raum um. »Ist etwas gestohlen worden? Medikamente? Geld? Persönliche Gegenstände?«

Maja schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Andererseits habe ich mir noch keinen genauen Überblick verschafft.«

Blindheim klappte das Notizbuch zu und steckte es wieder in die Tasche.

»Die Art des Einbruchs lässt darauf schließen, dass es sich um einen Drogenabhängigen handelt, der sich irgendwelche Medikamente beschaffen wollte. Vielleicht jemand, der sich hier schon ein bisschen auskennt …« Erneut bedachte er sie mit diesem forschenden Blick, der ihr ganz und gar nicht gefiel. »Wäre es möglich«, fuhr er fort, »dass sich einer Ihrer Patienten hier mal außerhalb der Praxiszeiten umsehen wollte?«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Das verstehe ich. Ich suche nur nach möglichen Anhaltspunkten für die Ermittlungen.«

Sie sah ihm direkt in die Augen.

»Unter meinen Patienten befinden sich die verschiedensten Leute, auch Drogenabhängige, aber das macht sie ja nicht automatisch zu Einbrechern.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Blindheim rasch und wich ihrem Blick aus.

»Ich glaube, wir haben hier einen brauchbaren Abdruck.«

Der Assistent zeigte einen deutlichen Abdruck, der sich im Kohlenstaub am Türrahmen abzeichnete. Blindheim nickte zufrieden.

»Ausgezeichnet.«

Er lächelte Maja an, die höflich zurücklächelte. Vielleicht hatte der Kommissar recht, ihr selbst war auch schon ein gewisser Verdacht in dieser Richtung gekommen. Dennoch spielte sie keineswegs mit dem Gedanken, ihre Schweigepflicht zu verletzen. Kommissar Blindheim steckte eine Hand in die Manteltasche und zog eine Visitenkarte heraus.

»Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, sagte er. »Hier ist meine Durchwahl.«

Blindheim streckte ihr seine Karte entgegen. Da sie keine Anstalten machte, sie entgegenzunehmen, legte er sie auf die Kante ihres Schreibtischs.

»Wenn Sie möchten, bringen wir Sie nach Hause.«

»Danke, nicht nötig.«

Sie stand auf und suchte ihre Sachen zusammen. Blindheim warf einen prüfenden Blick auf ihre frisch genähte Stirnwunde.

»Da haben Sie ja ganz schön was abbekommen«, bemerkte er.

Sie nickte und vergewisserte sich, dass ihr Autoschlüssel in der Handtasche war.

»Wer hat das genäht?«

»Ich selbst«, antwortete sie ohne aufzublicken.

Der Kommissar schaute sie überrascht an. Selbst sein Assistent unterbrach seine Beschäftigung. »Das muss ziemlich wehgetan haben.«

»Weniger als der Schlag«, entgegnete sie und sah ihn an. »Außerdem kann man dann selbst entscheiden, wie hübsch die Narbe werden soll.«

»Da haben Sie natürlich recht.«

Im Grunde hörte sich das dramatischer an, als es war. Man durfte nur nicht zu lange zögern – wie bei vielen anderen Dingen auch. Man musste bloß die psychische Hemmschwelle überwinden, die einen normalerweise davon abhielt, seine eigene Gesichtshaut mit einer Nadel zu verletzen, um einen Faden hindurchzuziehen.

 

Statt direkt nach Hause zu fahren, blieb Maja auf der Umgehungsstraße in Richtung Norvikcenter und steuerte den Drive-in-McDonald’s an.

Ihre Kopfschmerzen hatten zugenommen, und während sie auf das Essen wartete, warf sie ein weiteres Temgesic ein. Die Lutschtabletten brachten Schmerzen innerhalb von Sekunden zum Verschwinden, dafür hielt die Wirkung leider nicht sehr lange an.

Sie musste für Nachschub sorgen, wenn sie nach Hause kam. Musste sich so weit betäuben, dass sie die Gehirnerschütterung nicht spürte und ein bisschen Schlaf fand. Auch wenn der Einbruch bei der Polizei fraglos die niedrigste Priorität hatte, schien Blindheim doch jemand zu sein, der nichts schleifen ließ. Schon gar nicht bei einem Einbruch, der sich zu einem brutalen Überfall ausgewachsen hatte. Vielleicht lag es an seinen Cowboystiefeln und der ledrigen Haut, dass er sie an einen einsamen Sheriff erinnerte.

Sie dachte an die Fingerabdrücke, die sie am Türrahmen entdeckt hatten. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie die Hand des Täters für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte. War sie verbunden gewesen? Wie die Hand von Reidar? Sie war sich nicht sicher, der Schreck und das Blut hatten ihr Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt. Doch die Lederjacke stimmte mit seiner überein.

Maja nahm ihr Big-Mac-Menü von dem pickligen Angestellten entgegen, der den Burger freundlicherweise von Zwiebeln und Mayonnaise befreit hatte. Sie hielt in einer Lücke auf dem Parkplatz und öffnete die Papiertüte. Von hier aus hatte sie einen ungehinderten Blick über den Fjord. Sie öffnete das Fenster, damit die frische Seebrise den schalen Geruch ihres Fastfoodmenüs vertreiben konnte. Im Radio spielten sie Robbie Williams. Sie stellte ein bisschen lauter, ehe sie einer alten Gewohnheit folgend einige Pommes direkt zwischen das Fleisch und die obere Brötchenhälfte quetschte. Sie spürte ein Ziehen ihrer frisch genähten Wunde, als sie hineinbiss. Ein Frachtschiff schob sich langsam den Fjord hinauf. Sie folgte dem Licht seiner Hecklaternen, während sie aß.

Das Zittern machte sich anfangs nur schwach bemerkbar. Es begann in den Knien, die sie nicht länger ruhig halten konnte. Je mehr sie es versuchte, desto krampfartiger schlugen sie gegeneinander. Schließlich nahmen die Zuckungen den ganzen Körper in Besitz, der völlig außer Kontrolle geraten war. Der Burger in ihren Händen fiel auseinander. Pommes, Brötchen, Salat und Hackfleisch landeten auf der Bluse und in ihrem Schoß. Auch ihren Tränen musste sie nun freien Lauf lassen, und mit den Tränen kam die Übelkeit, die das Essen in ihrem Mund anschwellen ließ. Sie riss die Autotür auf, lehnte sich hinaus und übergab sich.

Mehrere Minuten lang schluchzte und kotzte sie im hellen Schein, den das überdimensionale M auf den Parkplatz warf, während Robbie Wiliams von der norwegischen Gruppe Aha abgelöst wurde. Sie hasste dieses Land. Warum mussten die hier alle so krank sein? An ihren Unterhosen riechen? Ihr unter den Händen wegsterben? Ihr den Kopf einschlagen? Verfluchtes, gottverdammtes Scheißnorwegen!