Es war mal wieder ein hektischer Tag im Ärztehaus. Da sich Majas Kollege Niels Ole krankgemeldet hatte, mussten sie seine Patienten unter sich aufteilen. Doch natürlich war es Milten gelungen, sich seinem Teil der Verantwortung zu entziehen, da er »administrativen Verpflichtungen« nachkam, die sich angeblich nicht aufschieben ließen. Daher konnte sich Maja auf einen weiteren langen Tag einrichten, gefolgt von der Spätschicht in der Notaufnahme, die sie fest zugesagt hatte.
Sie hatte die Ergänzungen der Patientenakte noch nicht ganz erledigt, als der nächste Patient hereinkam.
»Bitte nehmen Sie Platz.« Maja streckte den Arm aus, ohne aufzublicken. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte, dass Sie mir ein Schlafmittel verschreiben.«
Maja legte die Akte beiseite und sah die ältere Dame an, die zusammengesunken vor ihr auf dem Stuhl saß. Sie trug einen eleganten marineblauen Mantel sowie ein Halstuch. Ihre Kleidung ließ darauf schließen, dass sie sich gut auf diesen Arztbesuch vorbereitet hatte, wenngleich ihre Garderobe nicht verhehlen konnte, dass sie ein arbeitsreiches Leben hinter sich hatte. Ein Leben, dessen Folgen sich nun bemerkbar machten.
»Was bekommen Sie von meinem Kollegen denn sonst verschrieben?«, erkundigte sich Maja. Sie warf einen Blick in die Unterlagen.
Die alte Dame schaute sie verwirrt an. »Bis jetzt … habe ich noch nichts nötig gehabt.«
Maja überflog die Akte, um sich ein Bild von ihrem etwaigen Krankheitsverlauf zu machen. »Trinken Sie etwas am Abend? Tee, Kaffee oder Wasser?«
Die Frau antwortete, dass sie zu den Spätnachrichten immer eine Tasse Tee und ein Käsebrot zu sich nahm, manchmal auch ein Glas Saft.
»Keinen Alkohol?«
»Um Gottes willen, nein.«
Maja lächelte diplomatisch.
»Das ist nur eine Routinefrage, um herauszufinden, was Ihren Schlaf stören könnte.«
Es würde vermutlich schwierig sein, ihr die Tasse Tee am Abend auszureden, und gegen ein leichtes Schlafmittel war im Grunde nichts einzuwenden. Maja wollte gerade das Rezept ausstellen, als sie der Akte entnahm, dass die Frau schon verschiedene schmerzstillende Medikamente sowie Antidepressiva einnahm. »Wie ich sehe, ist Ihnen bereits Mandolgin verschrieben worden.«
Die ältere Dame nickte. »Das ist gegen meine Rückenschmerzen.«
»Und Cipramil?«
Die Frau blickte zu Boden.
»Ja, das bekomme ich auch.«
Maja las weiter. Die Medikamentierung der Patientin konnte gelinde gesagt als umfassend bezeichnet werden.
»Ich habe ein wenig Bedenken, Ihnen auch noch ein Schlafmittel zu verschreiben. Man sollte nicht zu viele Medikamente miteinander kombinieren. Dürfte ich mal Ihren Blutdruck messen?«
Die Frau zog ihren Mantel aus und krempelte den Ärmel ihrer hellgrauen Bluse auf. Unter beiden Achseln befanden sich feuchte Flecken, doch sie roch nur ganz schwach nach Schweiß.
Maja pumpte die Manschette auf und las die Werte auf dem Display ab.
»Sie haben etwas erhöhten Blutruck, aber alles noch im normalen Bereich«, teilte sie mit.
»Das war schon immer so.«
Maja nahm der Frau die Manschette ab, während sie zu erklären versuchte, wie sich verschiedene Stoffe in ihrer Wirkung verstärkten, was manchmal lebensgefährlich sein könne. Und die meisten Schlafmittel würden in Kombination mit den anderen Medikamenten, die sie bereits einnahm, eine ungeheuer starke Wirkung entfalten.
»Damit habe ich noch nie Probleme gehabt. Ich könnte doch vielleicht eine halbe Tablette nehmen«, schlug sie ein wenig verzweifelt vor.
»Nun gibt es ja keine halben Tabletten …«
»Könnte ich darüber noch mal mit Dr. Torp sprechen?«
»Der ist derzeit leider krank. Aber Sie haben recht. Sie sollten die Zusammenstellung Ihrer Medikamente mit Niels Ole … mit Dr. Torp besprechen.«
»Wann kann ich das tun?«
»Am Empfang gibt man Ihnen gern einen neuen Termin.«
Der Blick der Frau flackerte nervös.
»Aber das kann doch mehrere Tage dauern.«
Maja nickte entschuldigend. »Ja, mit ein bisschen Wartezeit müssen Sie schon rechnen.«
»Aber ich kann überhaupt nicht mehr schlafen! Verstehen Sie das denn nicht?« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Maja war drauf und dran, das verfluchte Rezept auszustellen. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, einer offenbar depressiven Patientin ein Mittel zu verschreiben, dessen Dosis in Kombination mit anderen Stoffen tödlich sein konnte.
»Mehr kann ich im Moment leider nicht für Sie tun, es sei denn, wir reduzieren die Menge Ihrer übrigen Medikamente.«
Die ältere Dame schüttelte hilflos den Kopf. »Das … das kann ich nicht. Ich brauche nur etwas, das mich ein bisschen schlafen lässt.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie so bald wie möglich einen neuen Termin bekommen.«
Die Frau stand langsam auf und zog ihren Mantel an. Sie nickte Maja höflich zu, ehe sie das Zimmer verließ. Maja griff zum Telefon und rief am Empfang an.
»Linda, bitte geben Sie einer Patientin von Niels Ole möglichst rasch einen neuen Termin.« Sie suchte nach dem Namen der Patientin und fand ihn auf der Vorderseite ihrer Akte.
»Wie ist denn der Name?«, erkundigte sich Linda ein wenig ungeduldig.
Maja starrte auf die mit der Maschine geschriebenen Buchstaben und räusperte sich. »Sie heißt Eva Lilleengen. Sie war gerade bei mir.«
»Ich kümmere mich darum. Soll ich den nächsten Patienten hereinlassen?«
»Ja«, antwortete Maja leise.
Maja hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, Eva Lilleengens Krankengeschichte zu studieren und den im Lauf der Zeit verordneten Medikamenten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nach ihrer Hüftoperation vor acht Jahren hatte die Menge der schmerzstillenden Mittel erheblich zugenommen. Was an sich nichts Ungewöhnliches war. Schließlich hatte Maja sich eine bestimmte Kombination von Präparaten einfallen lassen, die die Schmerzen stillen, den Schlaf gewährleisten und die Psyche stabilisieren würde, ohne sie in Lebensgefahr zu bringen.
Sie hätte die Frau selbst anrufen oder ihr das Rezept vorbeibringen können, aber das tat sie nicht. Stattdessen stand sie ganz hinten im Kirchenraum und verfolgte die Trauerfeier für Jo Lilleengen. Es war Linda, die sie auf die Beerdigung aufmerksam gemacht hatte, nachdem die Todesanzeige in der Vestposten erschienen war.
Außer Maja und Eva Lilleengen war niemand anwesend. Die Mutter des Verstorbenen saß in der vordersten Reihe, so nahe am Eichensarg wie möglich.
Nach den Worten des Pfarrers sangen sie ein Lied, genauer gesagt, die einzige Angehörige tat es. Maja kam das norwegische Kirchenlied irgendwie bekannt vor, aber mit dem Text haperte es. Danach kehrte der Pfarrer dem Altar den Rücken und ging zu Frau Lilleengen. Sie bedankte sich bei ihm, während er lange und fürsorglich ihre Hand hielt. Maja trat an den Sarg, der von drei Blumensträußen und einem schlichten Kranz umgeben war. Sie fragte sich, vom wem all die Blumen wohl sein mochten, da keine anderen Trauergäste als die Mutter des Verstorbenen anwesend waren. Besonders ein Strauß dekorativer weißer Lilien fiel ihr auf.
»Die sind von Øivind. Er hat Jo gefunden«, sagte Eva Lilleengen, die sich Maja unbemerkt genähert hatte.
»Er konnte nicht kommen, ist wohl auf See.«
Maja nickte und streckte ihr die Hand entgegen.
»Darf ich Ihnen mein Beileid ausdrücken?«
»Vielen Dank. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«
Dann atmete sie tief durch und warf einen betrübten Blick auf die Blumen.
»Es ist ja gut gemeint, aber doch schade, all die schönen Blumen zu verbrennen.«
Maja wusste nicht, was sie entgegnen sollte, und war froh, dass in diesem Moment der Pfarrer zu ihnen trat. Er gab Maja die Hand, ehe er sich an Jos Mutter wandte.
»Nur der Sarg wird verbrannt, Frau Lilleengen. Die Blumen können wir auf das Grab legen. Sie können sie aber auch gerne mit nach Hause nehmen, wenn Sie möchten.«
Eva Lilleengen schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Sonst riecht es in meinem Wohnzimmer nur nach Begräbnis.«
Der Pfarrer nickte verständnisvoll.
»Aber die Karten und Kondolenzbänder würde ich gern behalten.«
Als sie aus der Kirche kamen, fiel der Schnee in großen, nassen Flocken vom Himmel. Eva Lilleengen und Maja gingen gemeinsam zu ihrem Auto. Frau Lilleengen hätte sie gern zu sich nach Hause eingeladen, hatte jedoch nichts eingekauft. Stattdessen schlug sie vor, irgendein Café in der Nähe aufzusuchen.
Maja brachte es nicht übers Herz, die Einladung abzulehnen, obwohl sie mit ihren Hausbesuchen schon eine Stunde in Rückstand war.
Sie fuhren zu Birthes Kaffeesalon und setzten sich an die hintere Wand, in größtmöglicher Entfernung von den Spielautomaten im Eingangsbereich. Das Lokal hatte kürzlich den Eigentümer gewechselt und war jetzt eine Mischung aus traditionellem Café und Imbissbude. Trotz der frühen Tageszeit war der längliche Gastraum gut besucht. Die meisten hingen an ihren Linoleumtischen über einer Tasse Kaffee, blätterten in der Zeitung oder schauten durch die trüben Scheiben auf den Marktplatz. Maja holte sich selbst eine Tasse Kaffee sowie eine Tasse Tee und ein Käsebrot für Frau Lilleengen. Als sie an ihren Tisch zurückkam, sah sie, wie die alte Dame sich verstohlen umblickte und ihre Handtasche umklammerte, während sie einen Zigarillo rauchte. Maja wollte sie im ersten Moment auf das allgemeine Rauchverbot hinweisen, ließ es aber bleiben.
»Sie sind überall.«
»Wer?«, fragte Maja und stellte das Tablett ab.
Die alte Dame beugte sich ihr entgegen und flüsterte: »Die Fremdarbeiter.« Sie wies mit dem Kopf auf ein paar ältere türkische Männer, die Domino spielten und Tee aus kleinen Gläsern tranken.
»Denen scheint es doch gut zu gehen.«
Maja setzte sich ihr gegenüber und legte das Wechselgeld auf den Tisch, das Eva Lilleengen sofort in ihrer Manteltasche verschwinden ließ. Sie hatte darauf bestanden, Maja einzuladen.
»Man erkennt die Stadt gar nicht mehr wieder. Früher war das mal ein sehr schönes Café hier.«
Maja zweifelte daran, dass Birthes Kaffeesalon je ein gemütliches Lokal gewesen war, entgegnete jedoch diplomatisch: »Es ist doch immer noch ein schönes Café.«
In diesem Moment wurde die türkische Popmusik in der Küche auf volle Lautstärke gedreht. Der blecherne Lärm aus den billigen Lautsprechern mischte sich mit den elektronischen Geräuschen der Spielautomaten.
Eva Lilleengen schüttelte vielsagend den Kopf, ehe sie den Zigarillo in die andere Hand nahm und von ihrem Käsebrot abbiss.
»Das war eine schöne Trauerfeier.«
Die alte Dame nickte nachdrücklich. »Ja, unser Pfarrer ist wirklich sehr tüchtig. Er ist der Einzige, der mich immer unterstützt hat. Selbst die Polizei hat mir keine Ruhe gelassen. Dabei sollte man doch wirklich glauben, dass die anderes zu tun haben.«
Maja trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Er schmeckte säuerlich.
»Sie haben mich gefragt, ob es meine Medikamente waren, die Jo genommen hatte.«
»Waren es Ihre Medikamente?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Jo hat schon lange nichts mehr genommen.«
»Aber sein Rückfall sieht doch so aus, als ob …«
Eva Lilleengen schob ihre Tasse so heftig von sich, dass der Tee überschwappte.
»Jo hatte keinen Rückfall! Jedenfalls nicht in den letzten drei Jahren. Das habe ich auch der Polizei erklärt. Glauben Sie etwa, dass ich den Unterschied nicht kenne?« Sie schaute betrübt auf die Teepfütze, die sich auf dem Tisch gebildet hatte.
»Vielleicht wusste es die Polizei nicht besser.«
»Ist ja auch kein Wunder, wenn sie nicht zuhören.« Sie wischte die vergilbte orangefarbene Tischplatte sorgfältig ab.
»Vielleicht können Sie es mir erklären.«
Eva Lilleengen blickte auf. »Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der drogenabhängig ist?«
Maja schüttelte den Kopf. »Nein, aber einige meiner Patienten sind drogenabhängig.«
»Sie kennen also ihre Verzweiflung? Man sieht sie in ihren Augen.« Eva Lilleengen schaute sie durchdringend an.
»Ja, und ich weiß, was Entzugserscheinungen bedeuten.«
»Dann kennen Sie also auch all die Lügen und Drohungen … die Beschimpfungen.«
»Natürlich.«
»Die Diebstähle …«
Maja schaute sie überrascht an. »Hat Ihr eigener Sohn Sie bestohlen?«
Wieder dieses Zögern, als müsse sich Eva Lilleengen erst entscheiden, ob sie Maja vertrauen konnte. »Er hat alles getan, um an den Stoff zu kommen.« Sie trank einen Schluck. »Glauben Sie mir, mit Rückfällen kenne ich mich aus.«
Maja nickte. »Ich habe in seiner Patientenakte gelesen, dass er mehrmals in Behandlung war.«
»Ja, es hat lange gedauert, bis er davon losgekommen ist. Aber danach wurde es fast noch schlimmer.«
»Inwiefern?«
»Man konnte förmlich darauf warten, dass er es nicht mehr länger aushielt. Und eines Tages war dann meine Tür aufgebrochen. Es fehlten Geld und Medikamente, selbst mein Transistorradio war verschwunden.«
»Das muss sehr hart für Sie gewesen sein.«
Die alte Dame atmete tief durch. »Ich wünsche niemandem, das durchmachen zu müssen, was ich durchgemacht habe, seinen eigenen Sohn abweisen zu müssen.« Sie klopfte die Asche ab, ehe sie fortfuhr: »Niemand kann sich vorstellen, wie furchtbar es ist, die Polizei zu alarmieren, damit sie deinen Jungen festnehmen.«
Eva Lilleengen starrte aus dem schmutzigen Fenster, doch ihrem leeren Blick nach zu urteilen, nahm sie weder die Passanten noch die Autos wahr, die draußen vorbeifuhren.
»Haben Sie Jo allein aufgezogen?«
»Es war nie jemand da, der mir geholfen hat. Auch sein Vater nicht, wenn Sie darauf anspielen.«
»Sie dürfen hier nicht rauchen. Sonst bekomme ich ein Bußgeld aufgebrummt«, sagte ein junger türkischer Mann mit deutlichem Akzent, der sich die Hände an einem Lappen abwischte.
Eva Lilleengen sah zuerst ihn, dann Maja verwirrt an.
»Was sagt er?«
Maja lächelte dem Inhaber zu. »Vielleicht könnten Sie aus gegebenem Anlass heute eine Ausnahme machen.«
Er breitete hilflos die Arme aus. »Die Gesetze denke ich mir ja nicht selber aus.«
»Aber ich bezahle das Bußgeld.« Mit diesen Worten zog sie fünfhundert Kronen aus der Tasche und gab ihm die Scheine.
»Also dafür können Sie auch zwei rauchen.«
Er steckte sich lächelnd das Geld in die Tasche und kehrte, den Putzlappen über der Schulter, in die Küche zurück.
Die drei türkischen Männer am Nebentisch hatten die Szene beobachtet und zogen nun ihre eigenen Zigaretten hervor. Der Älteste von ihnen nickte Maja höflich zu. Im nächsten Moment zogen die Schwaden des grünen Diyarbakir-Tabaks durch das Lokal.
»Ich habe der Patientenakte Ihres Sohnes entnommen, dass er vor Jahren in Methadonbehandlung war«, sagte Maja.
»Ja, das ist richtig.«
»Wissen Sie, wie es ihm später gelungen ist, an Methadon heranzukommen?«
Eva Lilleengen schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich?«
Maja zuckte die Schultern.
»Ich dachte, dass Dr. Torp Ihnen vielleicht …«
»Jetzt reden Sie wie die Polizei!« Sie warf Maja einen zornigen Blick zu. »Als wäre das meine Schuld.«
Maja schoss die Röte ins Gesicht. Der Ausbruch der alten Dame war überraschend heftig gewesen.
»Entschuldigung, das wollte ich damit nicht sagen.«
»Dann hören Sie bitte mit Ihren vorwurfsvollen Fragen auf!« Es klang fast flehentlich.
»Das tut mir wirklich leid. Ich wollte Ihnen keinerlei Vorwürfe machen.«
Eva Lilleengen schüttelte den Kopf. »Es ist nur, weil ich mich frage, wie alles so weit kommen konnte. Ich habe doch alles für ihn getan.« Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
»Warum sollte er sich das Leben nehmen?«
Eva Lilleengen mühte sich damit ab, eine Serviette aus dem Ständer zu ziehen.
»Vielleicht hat ihn etwas belastet, von dem selbst Sie nichts gewusst haben«, schlug Maja vor.
»Was sollte das sein? Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich. Wollte mit einer Ausbildung anfangen. Ich weiß nicht, was ihn so sehr hätte belasten sollen.« Sie trocknete sich die Augen.
»Vielleicht eine Freundin, die Schluss gemacht hat?«
Sie gab ein unwilliges Schnauben von sich. »Wenn er eine Freundin gehabt hätte, dann hätte ich das gewusst.«
Maja glaubte ihr und nickte. »Haben Sie sich häufig gesehen?«
»In letzter Zeit schon. Er hat mich ab und zu besucht und fing wieder an, normal zu essen. Ich habe ihm alles gemacht, was er wollte, Hauptsache, es war genug Salz dran.«
Maja lächelte. »Das klingt nach einem guten Verhältnis.«
Eva Lilleengen lächelte ebenfalls. »Wir haben uns auch Filme im Fernsehen angeguckt. Wir haben zwar nicht unbedingt denselben Geschmack … doch, Die Farm, das mag er auch.« Sie schlug die Augen nieder. »Das mochte er auch. Aber inzwischen wird das nicht mehr gesendet.«
Maja drückte ihre Hand. »Dann hatten Sie aber noch eine schöne Zeit zusammen, ehe er gestorben ist.«
Eva Lilleengen nickte und lächelte matt. »Ja, das hatten wir.«
Maja warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr.
»Ich muss jetzt leider in meine Praxis zurück. Soll ich Sie nach Hause fahren?«
Zwanzig Minuten später hielten sie vor der Hausnummer 21 von Haralds Have, einem sozialen Wohnungsbauprojekt am Stadtrand. Maja gab ihr das Rezept für die neuen Medikamente. Sie hatte damit absichtlich bis zum letzten Augenblick gewartet. Die alte Dame sollte keinesfalls denken, dass sie nur zur Trauerfeier erschienen war, um das Rezept abzuliefern.
Als Maja nach Hause kam, zog sie den Schuhkarton, in dem sie ihre persönlichen Unterlagen aufbewahrte, unter dem Bett hervor. Langweilige Papiere, die im Prinzip jedem x-beliebigen gut ausgebildeten Single in den Dreißigern gehören konnten. Der Inhalt des größten Schuhkartons, den sie schon als kleines Mädchen besessen hatte, war viel spannender gewesen. Farbiger als die grauen Formulare von heute, phantasievoller als diese endlosen Zahlenkolonnen. Es war ein eigenes magisches Universum aus Glanzbildchen, Liebesbriefen, Schminkresten ihrer Mutter, Glücksbringern aus Plastik und persönlichen Schätzen, das die ganze Welt zu umfassen schien und so aussah, wie sie es wollte: rosarot.
Sie leerte den Inhalt auf ihrem Bett aus und legte die Bilder von Jo auf den Boden der Schachtel. Dort unten würde er weiterleben, und dort wollte sie ihn so lange behalten, bis sie seiner Mutter die Antwort geben konnte, nach der sie suchte: was zum Tod ihres Sohnes geführt hatte. Eine Frage, die sie selbst zunehmend interessierte, aus professionellen wie aus privaten Gründen.
Am Abend rief sie ihre Mutter an und erzählte ihr, dass sie gezwungen sei, noch ein bisschen länger in der Stadt zu bleiben. Sie erwähnte keine Details, sagte nur, dass sich eine bestimmte Arbeit noch ein wenig hinziehe. Daher könne sie ihre Post getrost weiter an die Losgata adressieren.
Doch ihr Anruf hatte nicht nur praktische Gründe. Es hatte etwas Tröstliches, die Stimme ihrer Mutter zu hören. Maja lag auf dem Sofa, hatte sich in eine Decke gewickelt und empfand das Bedürfnis, sich ihrer Mutter anzuvertrauen. Es irritierte sie nicht einmal, als sie ihr finanzielle Hilfe in Aussicht stellte, wenn sie nach Hause kommen würde. Stattdessen bedankte sie sich für ihre Anteilnahme.
»Denk dran, dass man nie zu stolz sein sollte, jemanden um Hilfe zu bitten.«
Als wolle sie ihre Mutter dafür belohnen, Jans Brief mit keiner Silbe erwähnt zu haben, erzählte sie ihr von dessen Inhalt.
Die solidarische Mutter stärkte ihr den Rücken: »Wirklich unverschämt von ihm, dir nichts anderes zu schreiben.«
Die besorgte Mutter wollte sich anschließend vergewissern, dass er ihre Tochter beim Verkauf nicht über den Tisch zog und sie ihren gerechten Anteil bekommen würde. Fast bekam sie Mitleid mit Jan, freute sich aber zugleich darüber, dass die »Mutter der Gerechtigkeit« in ihrer neuen Rolle ganz aufzugehen schien und Maja somit ein wenig Luft verschaffte.
»Vielleicht war es wirklich das Beste, dass ihr euch getrennt habt.«
»Ja, Mama.«
Sie zog die Decke enger um die Schultern. Wie geborgen sie sich plötzlich fühlte. Die Gute-Nacht-und-Schlaf-gut-Mutter legte auf. In der Wohnung herrschte völlige Stille.
Morgen wollte sie versuchen, zu Jos Freund Øivind Kontakt aufzunehmen. Er musste doch einiges zu Jos Leben und Bekanntenkreis wissen. Falls die Polizei schon mit ihm gesprochen hatte, war es doch möglich, dass sie etwas übersehen hatte. Wenn Øivind als Patient im Ärztehaus registriert war, dann besaßen sie auch seine Adresse und Telefonnummer. Eva Lilleengen hatte gesagt, dass er gerade auf See war. Sie fragte sich, wie lange ein Fischer wie er unterwegs war, ehe er zurückkehrte. Tage oder Wochen? Wie dem auch sei, sie würde ihn erwarten, wenn er nach Hause kam. In der Zwischenzeit konnte sie schon mal versuchen, an den Obduktionsbericht heranzukommen. Die chemischen Proben gaben darüber Auskunft, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden eingenommen hatte, was möglicherweise Rückschlüsse auf den Verlauf seines letzten Abends erlaubte. Der pathologischen Abteilung des Skansenbakken-Krankenhauses lag der Bericht bestimmt schon vor. Jetzt musste Maja nur noch herausfinden, wer die Obduktion vorgenommen hatte, und die betreffende Person von ihrem Anliegen überzeugen.