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Den Kolleginnen am Empfang blieb der Mund offen stehen, als Maja zur Tür des Ärztehauses hereinkam. Sie alle hatten den aufsehenerregenden Artikel in der Vestposten gelesen und erwarteten mehr oder minder, dass Maja ihren Job an den Nagel hängen und sofort abreisen würde. Aber die dachte gar nicht daran, den Vertrag mit Milten zu brechen oder ihre Patienten im Stich zu lassen.

Alle überhäuften sie mit Fragen, nur Edel Raaholdt hielt sich ein wenig zurück.

»War das nicht megaekelig, deinen Nachbarn so in der Wohnung zu finden?«, wollte Linda wissen.

Maja nickte. »War nicht gerade ein schöner Anblick.«

»Aber wie kannst du dann überhaupt noch in diesem Haus wohnen bleiben?«, fragte Linda mit weit aufgerissenen Augen.

Maja wusste nicht, was sie antworten sollte. Einerseits hatte sie keine Lust, die anderen an ihren Ängsten teilhaben zu lassen. Andererseits begann sich die Situation zu normalisieren, indem sie darüber sprachen.

»In einer Tour hat hier das Telefon geklingelt«, sagte Edel Raaholdt entnervt. »Verschiedene Journalisten vom Radio und von der Vestposten wollten Sie sprechen.«

»Das Fernsehen war allerdings nicht dabei«, sagte Linda betrübt, die Majas Berühmtheit offenbar gefährdet sah.

Maja dachte mit einem warmen Gedanken an Stig. Dann fiel ihr Blick auf die Titelseite der Vestposten: »Haus des Todes« stand dort über einem Foto, das zeigte, wie Kvams Leichnam auf einer Bahre aus der Tür getragen wurde. In dem einen der Sanitäter erkannte sie Antonsen wieder. Maja faltete rasch die Zeitung zusammen, damit sie das Foto nicht länger anschauen musste, und wandte sich ihren Patientenakten zu.

»Okay, wer kommt zuerst dran?«, fragte sie.

Linda warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Die alte Frau Sandvold hat abgesagt.«

Maja nahm die nächste Patientenakte vom Stapel. »Geht es ihr nicht gut, oder warum kann sie nicht kommen?«

»Ach, nichts Besonderes«, versuchte Linda abzuwiegeln.

Maja schaute auf. »Was dann?«

Linda blickte zu Edel Raaholdt hinüber, die tief Luft holte und ihre Frage beantwortete:

»Sie hat zu Dr. Miltevik gewechselt.«

»Warum denn das?«

»Sie ist ja schon ziemlich alt … und sehr abergläubisch.«

»Glaubt sie etwa, ich hätte meinen Nachbarn ermordet?«

Zu Majas Überraschung antwortete niemand.

»Ihr glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ich irgendwas mit der Sache zu tun habe.«

»Nein, nein«, antwortete Linda endlich.

»Natürlich nicht«, bestätigte Edel Raaholdt.

»Aber für Frau Sandvold bin ich ein böses Omen oder so was?«

»Eher eine Hexe … natürlich nur für Frau Sandvold«, fügte Linda schnell hinzu.

Maja schnaubte verärgert. Sie musste herausfinden, ob Frau Sandvold in ihrem Wahn nicht vielleicht sogar eine Patientenklage vorbereitete. »Hat meine liebenswürdige Patientin sonst noch was gesagt?«

»Sie nannte dich Dr. Tod.«

»Linda!«, wies Edel Raaholdt sie zurecht.

»Aber das hat sie doch gesagt«, verteidigte sich Linda.

Maja zuckte die Schultern. »Hat sie noch etwas anderes erwähnt, sich zum Beispiel über etwas Konkretes beklagt?«

»Frau Sandvold redet ja sowieso viel wirres Zeug, aber sie hat irgendwas davon gesagt, dass zwei deiner Patienten in derselben Mondphase gestorben sind. Und da bald Vollmond ist, wollte sie nicht die Nächste sein«, erklärte Linda.

»War Eigil Kvam etwa in meiner Patientengruppe?«

Linda nickte.

»Und wer soll der andere sein?«

Linda wurde rot.

»Ich glaube, sie dachte an den Mann von der Notaufnahme. In gewisser Weise war er ja dein Patient.«

Maja schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich eine kleine Stadt hier.«

Sie nahm die Patientenakte und ging.

Gegen fünfzehn Uhr hatte Maja die zahlreichen Patienten behandelt, die auf sie gewartet hatten. Sie rief im Scan Inn an, um ihr Zimmer auch noch für die nächsten zwei, drei Nächte zu reservieren, bis sie ihr Wohnungsproblem gelöst haben würde. Doch leider wurde ihr mitgeteilt, dass bereits alles ausgebucht sei.

Die übrigen Hotels in der Stadt gaben ihr dieselbe Auskunft. Offenbar hielt der Dachverband der Dänischen Versicherungsgesellschaften die ganze Woche über einen Kongress ab, was das Hotelgewerbe in dieser Gegend vor ungeahnte Herausforderungen stellte. Doch so wie die große Zeit der Heringsfischer unwiderruflich vorbei war, würde auch Frau Sandvold mitsamt ihrem Aberglauben schon bald keine Beachtung mehr finden, es sei denn, sie eröffnete im Norvikcenter ein Wahrsagestudio.

Plötzlich fiel Maja ein, dass es ja noch eine offizielle Zimmervermittlung gab. Die hatte ihr, seit sie in Norwegen war, noch in jeder Stadt eine Bleibe besorgt, ganz unabhängig davon, wie entlegen ihr Arbeitsplatz auch gewesen sein mochte. Adresse und Telefonnummer der Vermittlung standen in ihrem Kalender. Und auch wenn diese mit dem Todesfall an sich nichts zu tun hatte, hoffte Maja auf ihre Hilfe, wenn sie ihnen die eigene Zwangslage begreiflich machen konnte.

Sie rief die Zentrale der Zimmervermittlung in Oslo an. Eine Mitarbeiterin namens Alice hatte vollstes Verständnis für Majas Situation. Sie drückte ihr Entsetzen über den Vorfall aus und versprach, umgehend zu prüfen, wie sie ihr helfen konnten. »Ich denke, wir können Ihnen schon im Lauf der Woche eine neue Unterkunft anbieten.«

»Eigentlich hatte ich gehofft, dass heute noch etwas möglich wäre.«

»Also ein paar Tage müssen Sie uns schon Zeit lassen.«

Majas Stimme klang zunehmend verzweifelter. »Es spielt wirklich überhaupt keine Rolle, in welchem Zustand sie ist.«

Alice erklärte, dass die Formalitäten zwischen der Zentrale und den lokalen Anbietern am meisten Zeit in Anspruch nehmen würden.

»Könnten Sie nicht noch ein oder zwei Nächte im Hotel übernachten?«, fragte Alice vorsichtig.

»Alle Hotels sind ausgebucht.«

Ob es ihre tränenerstickte Stimme war, die den Ausschlag gab, war schwer zu entscheiden. Jedenfalls bot Alice ihr in leisem, vertraulichem Ton an, sich selbst an den Makler vor Ort zu wenden, mit dem sie zusammenarbeiteten.

»Aber sagen Sie nicht, dass ich Sie geschickt habe.«

 

Im Maklerbüro, in dem jeder Schritt von den dicken Kokosteppichen gedämpft wurde, herrschte eine andächtige Stimmung. Die Räumlichkeiten waren in mehrere Rondelle unterteilt, in denen Bilder der Häuser hingen, deren Unterlagen in den Regalen in einer Reihe lagen. Maja trat an den Schalter, an dem es fast noch steriler aussah als im Ärztehaus.

Ein Mann mittleren Alters mit einem äußerst farbenfrohen Schlips stand von seinem Schreibtisch auf.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit strahlendem Lächeln und entblößte seine gebleichten Zähne.

Maja erkannte ihn an seinem Schlips. Er war an einem ihrer ersten Arbeitstage zu ihr in die Praxis gekommen und hatte sich darüber beklagt, beim Urinieren einen brennenden Schmerz zu spüren. Wie sich herausstellte, hatte er einen Tripper. Doch offenbar konnte er sich nicht an Maja erinnern, was nicht ungewöhnlich war. Die meisten Patienten erkannten sie nicht, wenn sie keinen Kittel trug.

Sie erklärte ihm ihre spezielle Situation. Er war sofort sehr daran interessiert, hatte am Morgen bereits in der Zeitung von dem Verbrechen gelesen, doch war ihm bisher entgangen, dass sich der Mord in einem der Häuser ereignet hatte, in dem sein Unternehmen eine Wohnung vermittelte.

»Entsetzlich!«, sagte er schließlich und fügte hinzu: »Und ausgerechnet in unserer schönen Stadt!«

Sie nickte und erkundigte sich, ob er ihr eine andere Wohnung, »egal wo«, vermitteln könne.

»Einen Augenblick, ich seh mal nach«, antwortete der Makler und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. Er suchte in einer Computerdatei, bis er schließlich ihren Namen fand.

»Sie sind … die Ärztin, nicht wahr? Losgata 8?«

»Ja, das stimmt.«

Seinen geröteten Wangen nach zu urteilen, war ihm doch noch eingefallen, unter welchen Umständen sie sich kennengelernt hatten. Seinem liebenswürdigen Lächeln tat dies jedoch keinen Abbruch.

»Leider werden wir unsere Vermittlungstätigkeit in diesem Viertel einstellen«, erklärte er. »Wir halten das nicht länger für verantwortlich, schon gar nicht, wenn es sich um alleinstehende Frauen handelt.«

»Mir geht es nicht um das Viertel, sondern nur um das Haus, in dem ich nicht gern wohnen bleiben möchte. Ich wäre also auch mit einer Unterkunft in derselben Gegend einverstanden.«

Der Makler verschaffte sich einen Überblick über die gegenwärtigen Angebote und wandte sich dann mit bedauernder Miene an Maja. »Das Einzige, was ich Ihnen anbieten könnte, wäre ein Zimmer in einem Einfamilienhaus.«

»Einverstanden«, entgegnete sie mit optimistischem Lächeln.

»Sie müssten Küche und Bad allerdings mit ein paar Werftarbeitern teilen.« Es handelte sich um drei litauische Schweißer und einen Rumänen, dessen Beruf ihm unbekannt war.

Nach ihren Erfahrungen mit Kvam hatte Maja vorerst genug von einsamem Männern und lehnte dankend ab.

»Wie lange werden Sie noch hier in der Stadt sein?«, erkundigte sich der Makler.

»Noch bis zum Ende des Monats.«

»Wie wäre es mit einer Ferienwohnung?«

Sie schaute ihn interessiert an.

»Wir haben ein paar richtige Luxushütten außerhalb der Stadt. Mit Whirlpool, Sauna und Tiefkühltruhe. Die deutschen Touristen wissen genau, was sie wollen!«

Das wusste sie auch. Sie wollte keinesfalls in einer dunklen Hütte irgendwo in der Pampa wohnen, egal wie viel Luxus sie bieten würde.

»Gibt es nicht auch Ferienwohnungen in der Stadt?«

»Das lassen die Behörden leider nicht zu«, entgegnete er. »Wer in der Stadt wohnt, muss hier auch seinen ständigen Wohnsitz haben. Vermutlich haben sie Angst, dass außerhalb der Saison eine Art Geisterstadt entstehen könnte.« Er schüttelte den Kopf. »Als wären wir hier auf Mallorca.«

»Ausgerechnet …«, entgegnete Maja.

»Dann nehmen Sie sich doch einfach ein Hotelzimmer, bis wir etwas für Sie gefunden haben.«

Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als auf der Straße zu schlafen oder in ihre Wohnung zurückzukehren oder Stig zu bitten, auf seinem Sofa/in seinem Bett/in seinen Armen schlafen zu dürfen. Keine dieser Möglichkeiten kam ihr sonderlich verlockend vor. Sie musste also eine vierte Alternative ins Auge fassen.

 

An den Wochenenden wurden im Skansen nur Notoperationen durchgeführt. Daher standen viele Betten in der Chirurgie leer. Erst am Montagmorgen würden die Patienten, die bis dahin nicht gestorben waren, wieder auftauchen. Es würde sicher für Gerede in der Klinik sorgen, wenn sie eines der Krankenzimmer in Beschlag nahm, daher zog sie nur das erstbeste Krankenbett ab.

Ein älterer, zahnloser Mann, der im Nachbarbett lag, richtete sich auf und sah sie verwundert an.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie ein wenig schroff.

Der Mann schüttelte den Kopf, befeuchtete sich mit der Zunge den Gaumen und ließ sich wieder zurücksinken. Maja wickelte das Laken um die Decke und die beiden Kopfkissen und verschwand lautlos aus der Tür.

 

Der Aufenthaltsraum der Ärzte erinnerte Maja an ihre Zeit im Studentenwohnheim. Der Mief der unzähligen gerauchten Zigaretten und der überfüllten Mülleimer bereitete ihr Übelkeit.

Es dauerte fast eine Dreiviertelstunde, um das kleine Zimmer in einen gesundheitlich einigermaßen unbedenklichen Zustand zu versetzen. Sie machte es sich auf dem Sofa gemütlich und schaltete den Fernseher ein. Sie hatte die Wahl zwischen einem norwegischen Musikquiz und Miami Vice. Ihre Entscheidung fiel auf Don Johnson. Sie stand auf, um die Fenster zu schließen. Im gegenüberliegenden Haus mit den Milchglasscheiben brannte noch Licht. Die Pathologen machten offenbar Überstunden, vielleicht waren sie gerade mit der Obduktion von Eigil Kvam beschäftigt. Oder Petra Jakola verbrachte den Freitagabend freiwillig damit, die Ergebnisse von Blindheims Untersuchung auszuwerten.

Sie legte sich vollständig angezogen auf das Sofa und deckte sich zu. Der Fernseher erzeugte eine beruhigende Geräuschkulisse, während sie in den weichen Kissen versank. Im »Notfach« ihrer Tasche fand sie zwei Valium. Die meisten benutzten die kleine Innentasche für Puder und Make-up, ihr diente sie als Notapotheke. Gemeinsam mit dem monotonen Gebrabbel des Fernsehers würden sie die Pillen bald in den Schlaf wiegen.

In diesem Moment meldete sich ihr Handy. Sie ging dran und verfluchtete sich im selben Moment, dass sie es nicht einfach hatte klingeln lassen.

»Hallo, Mama. Wie geht’s dir?«

»Phantastisch!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. »Poul und ich kommen gerade aus dem Restaurant. Du ahnst ja nicht, was wir gegessen haben.«

Maja brauchte nicht zu raten, denn die Aufklärung folgte auf dem Fuße. Sie stellte die Ohren auf Durchzug und schenkte der Unterwelt von Miami mehr Aufmerksamkeit als dem endlosen Redestrom ihrer Mutter. Maja war immerhin froh darüber, dass der Mord an Eigil Kvam nicht in Dänemark geschehen und auch nicht spektakulär genug war, um über die norwegischen Landesgrenzen hinaus Beachtung zu finden. Sonst wäre ihre Mutter wie ein zweiter Sonny Crocket binnen Stunden bei ihr aufgetaucht, um sie in Sicherheit zu bringen.

»Du kannst mir glauben, dass ich spannende Neuigkeiten für dich habe«, kündigte die Mutter an, während in Miami eine Verfolgungsjagd stattfand.

»Aha …«

»Jan hat eingewilligt, das Geld aus dem Wohnungsverkauf gerecht mit dir zu teilen.«

»Was sagst du da?« Sie setzte sich auf. »Hast du etwa mit ihm gesprochen?«

»Natürlich habe ich ihn zu mir bestellt!«

»Zu dir bestellt?«

»Ja, also das ständige Briefeschreiben liegt mir nicht, wie du weißt«, antwortete ihre Mutter. »Da ist es schon besser, sich die Leute persönlich vorzuknöpfen, und Jan war sehr einsichtig, das muss man ihm lassen.«

Maja grinste in sich hinein. Im Geiste sah sie Jan am niedrigen Esstisch in der Küche sitzen, während ihre Mutter hoch über ihm thronte und ihm mit selbstgerechter Miene die Leviten las. Auf juristische Spitzfindigkeiten sollte er sich da lieber nicht einlassen.

»Was ist mit all den Unkosten, die er gehabt hat?«, fragte Maja.

»Jetzt sieht er das anders«, entgegnete sie. »Ihr macht einfach halbe-halbe.«

»Danke, Mama … aber das war wirklich nicht nötig.«

»Ach, das war doch nur eine Kleinigkeit. Und natürlich war es nötig. Niemand darf versuchen, dir wehzutun.«

Maja konnte sich ihrer Rührung nicht erwehren. »Hast du ihm wenigstens einen Kaffee angeboten?«

»Kaffee und Kuchen. Es gibt ja keinen Grund, unhöflich zu sein.«

Maja kicherte.

»Der muss ja ziemlich kleinlaut wieder abgezogen sein.«

»Ja, und weißt du was?« Ihr Mutter senkte verschwörerisch die Stimme. »Als ich ihn zum Auto begleitete, habe ich zufällig gesehen, dass da eine Person drinsaß, die auf ihn wartete.«

»Wer?«, platzte sie heraus.

»Na ja, so genau hab ich das nun auch wieder nicht gesehen. Ich konnte ja schließlich nicht direkt in den Wagen hineingucken, aber eines steht fest: Es war eine Frau.«

»Wie sah sie denn aus?«

»Nicht besonders«, antwortete die Mutter. »Du weißt doch, dass ich noch nie viel von Frauen über dreißig mit Rattenschwänzen gehalten habe.«

Erneut musste Maja lachen.

»Hat er also eine Neue gefunden.«

»Also für mein Empfinden sah sie schon etwas gebraucht aus«, scherzte die Mutter weiter. »Aber du hast mir noch gar nicht erzählt, wie es bei dir läuft. Wie geht’s dir eigentlich?«

»Ganz gut«, antwortete Maja rasch.

»So hörst du dich aber nicht an.«

Maja schwieg. Es kam ihr so vor, als wäre die Telefonverbindung eine Nabelschnur, die ihrer Mutter noch die kleinste Stimmungsschwankung mitteilte. »Ich bin im Moment nur ein bisschen gestresst«, wiegelte Maja ab.

»Solange man etwas Ordentliches zu essen bekommt und ein Dach über dem Kopf hat, kann es nicht so schlimm sein«, erklärte ihre Mutter.

»Nein …«

Was als Aufmunterung gemeint war, trug nur umso mehr dazu bei, dass Maja sich gescheitert fühlte. Ihre Mutter durfte niemals von dieser Nacht erfahren. Am liebsten wäre sie ins nächste Flugzeug nach Hause gestiegen. Hätte einen Kredit aufgenommen, sich in Lyngby eine Dreizimmerwohnung gekauft und mit ihrer Mutter die edelsten Designerstücke ausgesucht, um sie einzurichten. Aber sie wusste, dass das unmöglich war und für sie das weitaus größere Scheitern bedeutet hätte.

»Du weißt, wie stolz ich auf dich bin, meine Kleine.«

Maja musste jetzt auflegen, ehe sie die verräterischen Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

»Ich muss jetzt los, Mama … sie rufen mich in die Notaufnahme.«

»Mach’s gut, mein Schatz.«

Sie legte auf und verbarg ihr Gesicht unter der Decke. Die Tränen steckten ihr in der Kehle und brannten in den Augen. In dem winzigen Zimmer spürte sie ihre ganze Ohnmacht und schämte sich für ihr Schluchzen.

Doch es ließ sich nicht unterdrücken. Stattdessen rollte sie sich zusammen, zog die Knie an die Brust und vergrub den Kopf in den Kissen. Sie roch den Staub, der in der Luft lag, doch selbst der Staub konnte angenehm riechen, wenn man nichts anderes hatte. Wie die Möbel in einem Ferienhaus. Wie dasjenige in ihrer Kindheit – vor unendlich langer Zeit –, in der die Sommertage kein Ende nahmen und vom süßen Geschmack nach Brombeeren erfüllt waren.

»Brombeeren …«, hörte sie sich murmeln, ehe sie in Schlaf fiel.