Maja hatte den Kakao anbrennen lassen, sodass in der ganzen Wohnung ein penetranter Geruch hing. Was ihrem Wohlbefinden jedoch keinen Abbruch tat, während sie, eingehüllt in eine Decke, auf dem Sofa saß und an dem Becher mit dem blau-roten Logo der Offshore-Werft nippte. Valium und Kakao sorgten gemeinsam dafür, dass sie sich so sicher und geborgen fühlte wie die Kinder in Bullerbü. Nicht dass sie sich an gemütliche Kakaostunden mit ihrer Mutter zurückerinnern konnte, doch war sie in diesem Moment von einer schützende Blase umgeben, die alle Sorgen und Probleme auf Distanz hielt. Nicht einmal die Gefahr, ihre Approbation zu verlieren, konnte sie in diesem Moment beunruhigen. Selbst Stigs Betrug schien ihr völlig gleichgültig.
Doch die schützende Blase zerplatzte schnell. Dafür sorgte das dumpfe Brummen eines Acht-Zylinder-Detroit-Motors, das plötzlich durch das geöffnete Wohnzimmerfenster drang. Sie stellte den Becher so schnell auf den Tisch, dass der Kakao überschwappte, und schlich sich vorsichtig zum Fenster. Der Motor brummte im Leerlauf. Sie reckte den Kopf und spähte auf die Straße. Dort stand er, der schwarze Lincoln Navigator, diesmal direkt vor ihrem Eingangstor und dem Weg, der zu ihrem Haus führte. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt, während sie darauf wartete, dass jemand ausstieg.
Der Fahrer beugte sich über das Lenkrad und blickte zu ihrem Fenster hinauf. Sie wollte in Deckung gehen, schaffte es aber nicht. Sie war außerstande, den Blick von dem bleichen Gesicht abzuwenden, das sich unscharf hinter der Windschutzscheibe abzeichnete. Die Gesichtszüge konnte sie nicht klar erkennen, dennoch meinte sie tief in den Höhlen sitzende Augen und ein Lächeln auszumachen. Sie waren hinter ihr her, so wie sie hinter Kvam her gewesen waren.
Die Seitenscheibe glitt nach unten, worauf ein Arm sichtbar wurde. Sie konnte gerade noch den dunklen Gegenstand registrieren, der sich ihr entgegenstreckte, als sie auch schon von einem hellen Lichtkegel geblendet wurde.
Maja sprang zurück. Hatte es so auch bei Kvam angefangen? Sie schaute sich nach ihrem Handy um. Es lag immer noch auf der Armlehne des Sessels und war an das Ladegerät angeschlossen. Der Lichtkegel wanderte durch das Zimmer. Im Schutz des Sessels kroch sie unter das Fenster und riss das Handy an sich. Sie wollte gerade die 112 wählen, als sie sah, dass das Display erloschen war. Panisch versuchte sie, ihr Handy einzuschalten, doch es blieb mausetot. Sie warf einen Blick auf den Stecker des Ladegeräts und verfluchte sich, dass sie vergessen hatte, ihn in die Steckdose zu stecken. Nun konnte sie niemanden zu Hilfe rufen. Nun war sie allein.
Maja warf das Handy von sich. Die Verzweiflung trieb ihr Tränen in die Augen. Auf der Flucht vor dem Lichtkegel kroch sie zur Küche, während sie stumm vor sich hin weinte. Sie zerrte so heftig an der Schublade, dass sie heraussprang und ihr das Besteck um die Ohren flog. Ihre Hände tasteten im Dunkeln über den Linoleumboden. Irgendwo musste das Messer mit dem blauen Griff liegen. Als sie den Plastikgriff spürte, riss sie es an sich. Sie hielt es sich schützend vor den Bauch und lauschte angestrengt. In der Wohnung war es vollkommen still. Nur ihr eigenes Keuchen war zu hören sowie das klappernde Besteck, wenn sie sich bewegte. Maja drehte sich halb herum und spähte ins Wohnzimmer. Der Lichtkegel war verschwunden. Alles lag wieder im Halbdunkel. Auch das brummende Motorengeräusch war nicht mehr zu hören. Zurück blieb nur ihre Angst.
Von der Fensterbank aus beobachtete Maja dumpf den morgendlichen Verkehr. Sie hatte sich dort hingesetzt, nachdem der schwarze Van verschwunden war. Von hier aus hatte sie sowohl die Straße als auch den Vorgarten und den Weg im Auge, der hinter das Haus führte. Die Fensternische war ein perfekter Aussichtspunkt. Sie hatte vier Ritalin nehmen müssen, zwei davon, um der betäubenden Wirkung des Valiums entgegenzuwirken, und zwei weitere, um die Nacht ohne Schlaf zu überstehen. Sie stand auf und schlurfte in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.
Sie dachte daran, wie sie Jan geholfen hatte, sich auf die Jagdprüfung vorzubereiten. Theoretisch betrachtet konnte sie jedem Jäger das Wasser reichen und hatte das Übungsheft besser beherrscht als Jan. Darum war ihr auch klar, dass ihre Jäger sie aus dem Dickicht gelockt hatten. Hätten sie ihr schon in der letzten Nacht Leid zufügen wollen, dann stünde sie jetzt ganz sicher nicht in der Küche und würde Honig in ihren Teebecher fließen lassen. Was sie am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass ihr Besuch so rasch nach dem Verhör bei Titland erfolgt war. Konnte einer der drei Männer etwas mit der Sache zu tun haben?
Vielleicht war ihr Ziel, sie aus der Stadt zu vertreiben. Blindheim hatte ihr ja schon vor längerer Zeit zur Abreise geraten. Und dass Linz dasselbe im Sinn hatte, wurde schon dadurch deutlich, dass er am liebsten sofort rechtliche Schritte gegen sie eingeleitet hätte. Von diesen drei Männern war Titland der Einzige, der sich diesbezüglich nicht geäußert hatte.
So vorsätzlich und spektakulär der Mord an Kvam gewesen war, so verschwiegen und unauffällig war der Tod von Jo Lilleengen. Es waren zwei Seiten derselben Medaille. Sie überlegte gerade, wie ihr eigener Tod wohl aussehen würde, als die Stille vom schrillen Läuten der Klingel auseinandergerissen wurde. Ihr Herz begann zu rasen.
Maja lief zum Fenster und hielt nach dem schwarzen Van Ausschau. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken, wofür es zwei Erklärungen geben konnte: Entweder hatten sie in größerer Entfernung von ihrem Haus geparkt, oder es handelte sich, was wahrscheinlicher war, nur um den Briefträger.
Aber sie durfte kein Risiko eingehen. Fragte sich bloß, wie sie sich am besten verteidigen konnte. Ob das Küchenmesser ihr gegen zwei kräftige Männer gute Dienste leisten würde, war zweifelhaft. Sie musste sie sofort außer Gefecht setzen und hatte plötzlich eine Idee.
Maja öffnete die Wohnungstür und ging vorsichtig die Stufen hinunter. In der Vordertasche ihres Kapuzenpullis hielt sie ihre neue Waffe in der Hand, einen Injektor für subkutane Injektionen. In der Regel wurde ein solches Gerät von zuckerkranken Patienten benutzt, doch hatte sie es rasch zu einer gefährlichen Waffe umfunktioniert. Sie hatte es mit einer längeren Kanüle versorgt und das Insulin im Vorratsbehälter durch eine Fentanyllösung ersetzt – eine Substanz, die um ein vielfaches stärker als Morphium war. Sie musste ihrem Widersacher die Kanüle nur in die Halsschlagader rammen, das war alles. Dann würde die eingebaute Feder des Injektors die Kammer vollständig entleeren und die Substanz in die Blutbahn leiten.
Sie hatte sich sogar mit einer zweiten Fentanylampulle versorgt, damit sie den Injektor wieder aufladen konnte, wenn sie die Treppe hinaufflüchten würde.
Maja streckte ihre Fingerspitzen vorsichtig nach dem Schlüssel aus und drehte ihn behutsam im Schloss. Mit einem leisen Klicken sprang es auf. Sie entfernte sich rasch von der Haustür, lief zwei Stufen nach oben und zog ihre Waffe aus der Tasche.
»Hallo?« Auf der Schwelle erschien ein strubbeliger Haarschopf.
»Stig?!« Maja senkte den Arm.
Stig lächelte sie zaghaft an und nickte dem Injektor zu.
»Vielleicht solltest du etwas anderes als einen Kugelschreiber zur Hand nehmen, um dich zu verteidigen.«
»Was zum Teufel tust du hier?« Sie sicherte den Injektor und ließ ihn wieder in ihrer Tasche verschwinden.
»Ich wollte nur schauen, ob alles in Ordnung ist. Ich hab bestimmt hundertmal versucht, dich anzurufen.«
»Hast du mal überlegt, ob ich vielleicht nicht mit dir reden will?«
»Nö«, antwortete Stig.
Maja setzte sich auf die Stufen. Ihr war schwindelig und ihr linker Stirnlappen schmerzte, als stünde ihr ein Migräneanfall bevor.
»Ich habe Aina gefunden«, sagte Stig.
»Wer ist das?«
»Das lettische Schiff, nach dem du gesucht hast.«
»Ach wirklich?«
»Ich glaube allerdings nicht, dass uns diese Spur weiterbringt. Das Schiff gehört einer kleinen Reederei, die schon seit acht Jahren diesen Hafen anläuft.«
»Kannst es ja gleich deinem Kollegen mitteilen«, entgegnete Maja und massierte sich die Schläfen.
»Hör zu, Maja. Ich habe nie etwas von den Dingen weitererzählt, über die wir gesprochen haben.«
»Wenn man eure Nachrichten anschaut, bekommt man aber einen ganz anderen Eindruck.«
»Er hat in meinen Unterlagen gewühlt, als ich krank im Bett lag«, sagte er entschuldigend und breitete die Arme aus. »Warum glaubst du eigentlich nicht, dass ich es ernst meine?«
Sie kam auf die Beine und stand mit einem Mal hoch erhoben über ihm.
»Das ist mir scheißegal!«
Maja drehte sich um und stapfte die Treppe hinauf.
»Tut mir leid, dass ich meine Notizen liegen gelassen habe, okay?«, rief er ihr nach.
Sie antwortete nicht.
»Hast du noch nie einen Fehler gemacht?«
Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, drehte sie sich um und warf Stig einen kühlen Blick zu.
»Doch, als ich dir vertraut habe.«