40

Der Schneefall nahm zu, während er vom eisigen Polarwind über die kurvige Küstenstraße getrieben wurde. In jeder Kurve brach das Heck von Majas Mercedes aus und brachte diesen kurz ins Schlingern. Dennoch holte Maja alles aus ihrem Auto heraus. Bis in die Stadt brauchte man normalerweise zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, die ihnen Zeit blieben, sie einzuholen. Erst an der Stadtgrenze würde sie einigermaßen in Sicherheit sein. Sie musste das Polizeirevier erreichen. Am besten Stig anrufen. Doch sie wagte jetzt nicht, in der Tasche nach ihrem Handy zu suchen. Dabei würde sie zu viel Geschwindigkeit einbüßen. Sie bereute es, ihn nicht mitgenommen zu haben, aber mit dem Einbruch im Ärztehaus wäre er niemals einverstanden gewesen, und auch Skarvs Geständnis hätte sie mit ihm nicht erreichen können. Doch jetzt, da sich zwei helle Frontscheinwerfer in ihrem Rückspiegel abzeichneten, hätte sie ihn gut gebrauchen können. Sie trat das Gaspedal durch. Die Lichter im Rückspiegel wurden immer größer. Je schneller sie fuhr, desto heftiger geriet der Wagen ins Schlingern. Dann musste sie jedes Mal kurz vom Gas gehen, um ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. Es konnte nur eine Frage von Minuten, wenn nicht Sekunden sein, bis ihr Vorsprung dahin war. Die Stadt war immer noch schrecklich weit weg. Das Straßenschild zeigte es mit unerbittlicher Genauigkeit: achtzehn Kilometer bis zur Stadt, zwei bis zum Jættewasserfall. Sie wurde im Rückspiegel geblendet und hörte das Röhren des Navigator unmittelbar hinter sich. Als sie kurz darauf einen heftigen Stoß spürte und gegen das Lenkrad prallte, hätte sie fast die Kontrolle über den Wagen verloren. Ihr Heck schleuderte hin und her, während sie fieberhaft gegenzulenken versuchte. Als der Mercedes wieder gerade auf der Straße lag, drückte sie das Gaspedal durch und konnte sich ein bisschen Luft von ihren Verfolgern verschaffen. Doch im nächsten Moment hingen sie schon wieder an ihrer Stoßstange und verpassten ihr einen so heftigen Schlag, dass ihre Kofferraumklappe aufsprang. Der Mercedes geriet ins Rutschen. Komm schon, komm schon!, schoss es ihr durch den Kopf, während die Reifen quietschten. Zwischen ihren Beinen breitete sich eine warme Flüssigkeit aus. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie musste weg. Nur weg von hier und den grellen Scheinwerfern entkommen. Plötzlich waren die Lichter neben ihr und verwandelten die Schneeflocken in unzählige Glühwürmchen. Wollten sie an ihr vorbeifahren? Sie verstand nicht, warum. Bis ihr Wagen erneut gerammt wurde. Sie wollten sie von der Straße abdrängen, damit sie gegen die Bäume prallte oder an den Felsen zerschellte. Sie hörte das Rauschen des Wasserfalls, sah seine weiße Gischt durch die Nacht leuchten. Ein weiterer Stoß von der Seite. Er kam ihr nicht mehr so stark vor, weil der glatte Untergrund keinen Widerstand bot. Sie rutschte der Leitplanke entgegen. Stahl kreischte auf Stahl, als der Mercedes in einem Bogen über die Absperrung geschleudert wurde, den brüllenden Wassermassen entgegen. Mit der Vorderseite krachte er gegen den Fels und drohte sich zu überschlagen. Funken sprühten, als das Fahrgestell über den harten Granit schrammte. Fünfzehn, zwanzig Meter weiter kam der Mercedes an einem Felsvorsprung zum Stehen, während sein hinterer Teil von den Wassermassen begraben wurde. Er erinnerte an einen gestrandeten Wal, wie er halb über dem Abgrund hing.

Warmes Blut lief ihr über das Gesicht. Sie war im Auto herumgeschleudert worden und mit dem Kopf gegen das Lenkrad gekracht. Aber wie durch ein Wunder war sie am Leben. Um ein Haar wäre sie in den Abgrund gestürzt, dem der Jættewasserfall entgegenbrandete.

Zwei Lichtkegel wanderten rechts von ihr über die Felsen. Sie hatten die Jagd noch nicht aufgegeben, gleich würden sie bei ihr sein. Maja vergewisserte sich, dass das Fläschchen immer noch in ihrer Tasche lag. Es war unversehrt. Ein Lichtkegel verharrte auf ihrer geborstenen Windschutzscheibe. Über sich hörte sie knurrende Stimmen. Der zweite Lichtkegel irrte durch die Nacht. Sie musste verschwinden, aber die Fahrertür klemmte. Sie sah, wie Skarvs Männer über die Leitplanke kletterten.

Fieberhaft krabbelte Maja auf den Beifahrersitz hinüber. Sie musste hinaus. Die andere Tür musste sich öffnen lassen. Sie zog am Griff, worauf die Tür weit aufschwang. Schneeflocken wirbelten durch die offene Tür. Sie musste versuchen, zum Fuße des Wasserfalls hinabzusteigen. Mit ihrem verstauchten Knöchel über die spiegelglatten Steine zu klettern. Es war der reine Irrsinn, aber ihre einzige Überlebenschance. Vorsichtig kroch sie dem nächsten Felsvorsprung entgegen.

Sie wollte gerade hinüberklettern, als sie von hinten an den Haaren gepackt wurde. Ihr Kopf wurde mit so einer Kraft zurückgerissen, dass sie dachte, ihr Genick würde brechen. Durch das Blut, das ihr über das Gesicht lief, konnte sie nur vage seine Umrisse erkennen. Erkannte den kahlen Schädel, der von seinem dampfenden Atem umgeben war. Der Lichtkegel schwang über sie hinweg. So wie damals im Ärztehaus. Jeden Moment erwartete sie den tödlichen Schlag. Ihr blutverschmiertes Lächeln ließ ihn zögern. Lange genug für Maja, um ihm mit einer einzigen Bewegung den Injektor in die Halsschlagader zu rammen und die Kanüle ganz nach unten zu drücken. Die Fentanyllösung schoss in seinen Körper und entfaltete augenblicklich ihre Wirkung. Seine Hände erschlafften, er ließ die Taschenlampe fallen und stürzte neben ihr zu Boden.

Im Dunkeln tanzte der andere Lichtkegel über sie hinweg.

Sie musste die steilen Felsen hinunterklettern und darauf hoffen, dass ihr ein gnädigeres Schicksal beschieden sein würde als Øivind Munkejord. Der Wasserfall schoss in die Tiefe und rauschte unter der Brücke hindurch, wo er sich in einen reißenden Strom verwandelte, der den Fangzonen entgegenschäumte. Wenn sie die steilen Felsen überwand, konnte sie sich vielleicht unter der stockdunklen Brücke verstecken. Sie glitt vorsichtig über die erste Felskuppe hinweg und klammerte sich an den nassen Granit. Es war der reine Wahnsinn. Ein einziger falscher Schritt, und sie würde in die Tiefe stürzen. Ihr rechter Fuß war taub geworden, auf ihn durfte sie sich nicht verlassen. Unter sich sah sie die schroffen Felsen wie eine Reihe spitzer Zähne aus dem brausenden Inferno aufragen.

»Nicht nach unten gucken … nicht nach unten gucken«, hörte sie sich murmeln.

Sie kletterte weiter hinunter, stets auf der Suche nach einem Vorsprung oder einer Kante, an der sie sich festklammern konnte, um ihren verletzten Fuß zu entlasten. Eine Zeit lang war der Lichtkegel über ihr verschwunden, was vermuten ließ, dass auch ihr Verfolger vollauf damit beschäftigt war, über die glitschigen Steine zu klettern. Während der Wasserfall in ihren Ohren brauste, stieg sie tiefer und tiefer hinab. Sie war schneller als er, vielleicht hatte sie eine bessere Route gefunden. Oder war sie nur wagemutiger? Die Brücke türmte sich vor ihr auf. Selbst das reflektierende Licht der weißen Gischt wurde von ihr verschluckt. Nur wenige Meter von ihr entfernt stürzten die Wasserkaskaden senkrecht in die Tiefe und durchnässten sie bis auf die Knochen. Sie musste weiter hinein ins Dunkel und sich hinter den runden Felsen verbergen, die aussahen wie die gebeugten Rücken Hunderter von Riesen, die sich vor dem Wasserfall verneigten. Wenn sie nur einen Ast fand, auf den sie sich stützen konnte, um ihren Knöchel zu entlasten. Im Dunkeln tastete sie sich weiter und entdeckte einen kleinen Pfad, der sie näher an den reißenden Fluss zu führen schien. Du schaffst das, du schaffst das, hallte es mit jedem humpelnden Schritt durch ihren Kopf. Vielleicht war er von den Felsen in den Fluss gestürzt. Vielleicht hatte er aufgegeben. Wollte für sie nicht sein Leben riskieren.

Ihre Zuversicht wuchs, bis sie plötzlich von einem hellen Licht geblendet wurde.

Er musste sie im Dunkeln überholt haben, während seine Schritte vom Wasserfall übertönt worden waren. Sie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen.

»The bottle«, sagte eine Stimme mit starkem Akzent.

Das war also der Grund, warum er sie nicht angegriffen hatte. Er wollte sichergehen, dass sie nicht mit ihrem wertvollen Gut in den Fluss stürzte, nur um zu einem späteren Zeitpunkt von einer Rettungsmannschaft aus den Fluten gefischt zu werden.

Als er die Taschenlampe ein wenig senkte, konnte sie sein Gesicht sehen. Das Lächeln mit dem schlechten Gebiss.

Er streckte die Hand aus. »Please.«

Maja wusste, was das Lächeln bedeutete. Es war vorbei. Ihre Flucht, die sich über die letzten Monate, in Wahrheit die letzten Jahre erstreckt hatte, würde am Fuße dieses Wasserfalls ein Ende finden. So oft hatte sie sich in seinem Anblick verloren. Weil sie ihr Schicksal vorausgeahnt hatte?

Sobald sie ihm das Fläschchen gab, würde er sie in den reißenden Fluss stoßen. So wie Munkejord. Allmählich musste er Übung darin haben.

Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie standen jetzt beide an der äußersten Kante.

Maja schaute sich um. Nichts konnte sie dazu bringen, ihm freiwillig das Fläschchen zu geben. Dann wollte sie es lieber mit auf die letzte Reise nehmen und darauf hoffen, dass ihr Körper es vor den schroffen Felsen schützte.

Er schien ihre Gedanken zu ahnen, denn plötzlich packte er sie blitzschnell am Kragen.

Aber er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass sie dasselbe tun würde. Sie sah einen Anflug von Panik in seinen Augen aufblitzen. Sie lächelte kurz, ehe sie sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten warf und ihn mit sich in den tosenden Fluss riss. Sein Schrei wurde von den Fluten erstickt.

 

Die Strömung war so stark, dass sie sofort auseinandergerissen wurden. Sie versuchte sich zusammenzukrümmen. Ihren Kopf vor den Felsen zu schützen. Aber der Fluss ließ das nicht zu. Er hatte sie in seiner Gewalt, wirbelte sie herum, stieß sie nach vorn und zog sie in die Tiefe. Die scharfen Kanten unter der Oberfläche zerfetzten ihre Kleider, prügelten auf ihren Körper ein und schnitten in ihren Kopf.

Sie hatte kaum noch Luft übrig. Wenn sie der Fluss nicht gleich wieder freigab, war sie verloren. Die Lungen befahlen ihr zu atmen. Der Druck auf ihren Brustkorb wuchs, stieg in den Hals und schnürte ihr die Kehle zu. Strudel zogen sie in die Tiefe. Beraubten sie der letzten Hoffnung. Sie kämpfte gegen den Krampf an, der ihr den Hals öffnen wollte, um das Wasser ungehindert in sie einströmen zu lassen. Schließlich gab sie dem Schmerz nach. Es war ein Reflex, und der Körper musste ihm folgen. Sie spürte dumpf, wie das Wasser in ihre Lungen drang, doch es tat nicht weh. Das Erstickungsgefühl wurde im nächsten Moment von einer Euphorie abgelöst, einem letzten Rausch.

Das Brausen des Wassers verklang. Der Strom schien zu versiegen. Er warf sie nicht mehr herum, sondern plätscherte träge gegen ihren Körper. Es kitzelte an der Haut, als würden kleine Bläschen an ihr zerplatzen. Vom Bett des Flusses aus starrte Maja reglos zum Wasserspiegel empor, der sich zunehmend beruhigte. Es schneite immer noch. Wie kleine Sterne fielen die Flocken vom Himmel, brachen durch die Wasseroberfläche und lösten sich vor ihren Augen auf. Der Flug der Flocken wurde immer langsamer, ehe sie in der Luft verharrten und am Himmel festzufrieren schienen. Sie konnte nicht mehr unterscheiden, ob die Flocken Sterne oder die Sterne Flocken waren. Doch sie leuchteten ihr vom dunklen Himmel entgegen. Als befände sie sich inmitten der Ewigkeit.

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Stig stand vor dem Konzerthaus und betrachtete den schneebedeckten Marktplatz. Die dünne, weiße Pulverschneedecke war das einzige Zeichen für den Sturm, der gerade über die Stadt hinweggefegt war. Jetzt herrschte eine drückende Stille. Selbst die Stimmen der vielen Menschen, die aus dem Konzerthaus kamen, schienen von der klaren Nacht verschluckt zu werden.

Er schaute auf das Display seines Handys. Maja hatte auf keine seiner vielen Nachrichten reagiert. Bereits eine Viertelstunde nach ihrem überstürzten Abschied hatte er zum ersten Mal seine Mailbox kontrolliert. Als sie nach fünfundzwanzig Minuten weder zurückgekehrt noch angerufen hatte, war er leise aufgestanden und ins Foyer gegangen. Er hatte die beiden Angestellten an der Bar nach ihr gefragt, doch sie schüttelten bloß den Kopf und fuhren damit fort, die über dreihundert Champagnergläser mit Schaumwein zu füllen. Da er sie telefonisch nicht erreichen konnte, hatte er in aller Diskretion auch auf der Damentoilette nach ihr gesucht. Dann hatte er sich sogar hinaus in den Schneesturm gewagt und den Markplatz nach ihr abgesucht. Nachdem er ihr eine letzte gereizte Nachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte, war er wieder in den Saal zurückgekehrt und hatte sich das Konzert zu Ende angehört.

Am Taxistand herrschte ein enormer Andrang und eine ungehemmte Jagd nach einem freien Wagen. Stig schlug seinen Mantelkragen hoch und nahm direkten Kurs auf den Skudekroen. Da meldete sich sein Handy. Auf dem Display stand »Unbekannte Rufnummer«. Da Maja ihre eigene Nummer stets unterdrücken ließ, meldete er sich verärgert: »Sag mal, wo steckst du eigentlich?«

»Im Auto«, antwortete eine erstaunte Stimme am anderen Ende. Sie gehörte Gustav P., der während des Sturms wie üblich zu Hause gesessen und mit seinem privaten Scanner die Funksprüche der Rettungswagen aufgefangen hatte. Was ausschließlich dem Zweck diente, bei einem aufsehenerregenden Unfall als erster Kameramann vor Ort sein zu können. »Hast du schon gehört?«

»Was?«, fragte Stig.

»Es ist wieder jemand im Fluss gelandet«, antwortete Gustav aufgeregt. »Die Rettungsmannschaft ist schon unterwegs.«

»Im Fluss gelandet? Heute Abend?«

»Offenbar irgendein alter Mercedes, der über die Leitplanke gebrettert ist.«

Stig hielt abrupt inne. »Ein … Mercedes?«

»Ja, das hat jedenfalls die Zentrale gemeldet.«

»Ich stehe hier auf dem Marktplatz. Hol mich sofort ab!«, rief Stig. »Beeil dich!«

Es waren keine zehn Minuten vergangen, als Gustav mit dem Reportagewagen auftauchte. Stig hatte ihm gesagt, er solle die Fußgängerstraße benutzen, was zwar verboten, aber eindeutig der schnellste Weg zu ihm war. Sie bogen auf die Umgehungsstraße ab und jagten in rasender Fahrt dem Jættewasserfall entgegen.

Stig zündete sich eine Zigarette an. Gustav warf ihm einen tadelnden Blick zu.

»Also eigentlich raucht hier nie jemand im Auto.«

»Fahr einfach«, brummte Stig düster, ohne den Blick von der Fahrbahn zu wenden, dessen Markierungen ihnen entgegenschossen.

Gustav zog es vor, für den Rest der Fahrt den Mund zu halten.

 

Als sie die letzte Kurve vor dem Jættefall nahmen, sahen sie bereits das blinkende Lichtermeer der Einsatzfahrzeuge, die sich um den Wasserfall geschart hatten.

»Schau dir das an!«, rief Gustav.

Ein Beamter, der mitten auf der Fahrbahn stand, wollte Stig und Gustav mit seiner Taschenlampe zum gegenüberliegenden Parklatz dirigieren. Stig bemerkte den Navigator, der mit geöffneten Vordertüren hinter der Absperrung stand. Einige Polizeitechniker in weißen Overalls waren bereits mit der Untersuchung des Wagens beschäftigt. Die Blitzlichter ihrer Kameras zuckten durch die Dunkelheit, während sie die Schäden des Fahrzeugs detailliert dokumentierten.

Stig wartete nicht auf Gustav, der seine Ausrüstung herrichtete, sondern rannte sofort quer über die Straße bis zur Leitplanke auf der anderen Seite. Von dort aus konnte er Majas verbeultes Auto sehen, das im starken Scheinwerferlicht des Rettungsfahrzeugs badete. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Seine Hände stützten sich an der Leitplanke ab, bis sie plötzlich zu zittern begannen. Er vergrub sie rasch in seinen Hosentaschen. Die Techniker hatten ihre Arbeit an dem Mercedes offenbar beendet, der nur noch darauf wartete, dass die Rettungskräfte sich darin einig wurden, wie sie das Wrack am besten bergen konnten.

Jetzt, da der Sturm sich gelegt hatte, schien alles reine Routine zu sein. Ein Vorgang, den sie schon zigmal durchgeführt hatten. Ein Stück weit hinter dem Mercedes, in Richtung Wasserfall, sah er eine Gruppe von Sanitätern und uniformierten Beamten. Offenbar versorgten sie gerade einen Mann, der eine schwarze Jacke trug. Gustav kam zu Stig und schaltete seine Sun Gun ein, ehe er die Kamera auf die Schulter nahm und das ramponierte Auto heranzoomte. Stig schien ihn erst jetzt zu bemerken und fauchte ihn an:

»Was machst du denn da?«

Gustav trat erschrocken einen Schritt zurück und nahm die Kamera herunter. »Na … filmen«, antwortete er. »Soll ich dichter rangehen?«

Stig antwortete nicht. Stattdessen drehte er sich um und fand Kommissar Blindheim, der an der Leitplanke stand, an seiner Pfeife zog und die Bergungsarbeiten beobachtete. Stig ging zu ihm.

»Haben sie … sie gefunden?«, fragte er.

Blindheim drehte sich um und schob die Viprati in den Mundwinkel.

»Nein, noch nicht«, entgegnete er mit betrübter Stimme.

»Wer ist der Mann da drüben?« Stig zeigte anklagend auf den Mann in der schwarzen Jacke, der in diesem Moment auf die Beine kam. Seine Hände steckten in Handschellen.

Blindheim blickte zum schwarzen Navigator hinüber und antwortete: »Wer weiß …«

In diesem Moment knisterte sein Funkgerät. Blindheim nahm die Pfeife aus dem Mund und meldete sich.

»Wir haben eine weitere Person gefunden … in Fangzone eins«, war undeutlich zu hören.

»In welchem Zustand?«

Das Knistern wurde plötzlich so laut, dass die Antwort nicht zu verstehen war.

»Scheiß Technik«, brummte Blindheim und wollte Stig einen aufmunternden Blick zuwerfen. Aber der war schon davongelaufen.

 

Stig rannte zum Reportagewagen zurück und ließ den Motor an. Er umkurvte im Slalom die parkenden Fahrzeuge und nahm den schmalen Kiesweg, der zu den Fangzonen führte. In voller Fahrt rumpelte er über den holprigen Weg, sodass ein Teil ihrer Ausrüstung krachend zu Boden fiel und durchgeschüttelt wurde. Nach einigen hundert Metern sah er einen Krankenwagen. Die blinkende Signalleuchte tauchte Tannen und Rettungskräfte in ein rot-weiß flackerndes Licht. Die zugedeckte Gestalt, die auf dem Boden lag, ließ keine Zweifel aufkommen.

Stig parkte hinter dem Krankenwagen halb im Graben. Er sprang aus dem Auto und lief zu den Sanitätern. Er konnte den Blick nicht von dem weißen Tuch abwenden, unter dem die Person nicht zu erkennen war.

»Wer sind Sie?«, fragte Antonsen.

»Ist … ist sie tot?«, stammelte Stig.

»Nach wem suchen Sie?«

»Nach Maja … meiner Freundin.« Er starrte immer noch gebannt auf das weiße Tuch, das sich leuchtend vom dunklen Waldboden abhob.

»Sie ist …« Antonsen zögerte. »Hier ist sie jedenfalls nicht.«

Stig schaute die Männer skeptisch an. »Könnten Sie das Tuch einmal kurz anheben?«

Antonsen blickte fragend zu seinen beiden Kollegen hinüber, die gleichgültig die Schultern zuckten. Er bückte sich langsam und hob die Decke mit den Fingerspitzen an.

Stig schluckte. Unter dem Leichentuch kam das zerschundene Gesicht eines kahlköpfigen Manns zum Vorschein. An der Bruchstelle seines Schädels war eine breiige Masse ausgetreten.

»Danke«, sagte Stig.

»Weiter unten ist noch ein weiteres Team im Einsatz. Aber lassen Sie Ihren Wagen stehen.«

Stig rannte den Kiesweg hinunter und war rasch aus dem Scheinwerferlicht verschwunden. Er war zwar nicht sonderlich religiös, jetzt aber murmelte er ein ums andere Mal das Vaterunser vor sich hin. Immer schneller ratterte er es herunter, während er vom brausenden Fluss übertönt wurde. Als der Weg sich ein Stück vom Ufer entfernte, lief Stig zwischen den Bäumen hindurch. Der Weg war im Dunkeln kaum noch zu erkennen, und Stig musste höllisch aufpassen, dem Ufer nicht plötzlich zu nah zu kommen und in den reißenden Strom zu stürzen.

Nach einer Weile sah er vor sich ein flackerndes Licht durch die Zweige tanzen wie Glühwürmchen in einer Juninacht. Erneut beschleunigte er seine Schritte und erblickte im nächsten Moment das Blinklicht eines Krankenwagens, der mitten auf dem Weg stand. Zwischen den Bäumen hatten mehrere Personen einen engen Kreis geschlossen. Hin und wieder wurde das Licht der Taschenlampen von ihren Uniformen reflektiert und blitzte durch die Dunkelheit. Durch die Beine der Männer hindurch sah er ein weißes Tuch aufleuchten. Plötzlich drehte sich jemand um und leuchtete ihm ins Gesicht. Er hielt sich schützend eine Hand vor die Augen, bis das Licht verschwunden war.

»Wir haben sie am Ufer gefunden«, sagte einer der Männer.

»Übel zugerichtet«, sagte ein anderer.

Nachdem Stigs Augen sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er sie im Kreis der Einsatzkräfte sitzen. Sie war leichenblass. So weiß wie Marmor.

»Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt.«

Die Sanitäter halfen ihr auf die Trage. Trotz des weißen Tuchs um ihre Schultern zitterte Maja vor Kälte. Ihr Gesicht war grün und blau. Dennoch erkannte er den Anflug eines Lächelns auf ihren blassen Lippen. Er konnte es nicht erwidern, starrte sie nur sprachlos an, als könne er nicht glauben, dass sie wirklich am Leben war.

Im Schein der Taschenlampen streckte ihm Maja ihre Faust entgegen. Langsam öffneten sich die Finger und gaben ein unversehrtes, kleines Fläschchen frei.