Dass ich zu Papa eine ganz besondere Verbindung hatte, lag sicher auch daran, dass Mama sich von Geburt an intensiv um Riku kümmern musste, die knapp zwei Jahre vor mir zur Welt gekommen war. Schon als Baby war die süße Riku sehr kränklich gewesen. Nach einer unbehandelten, weil unentdeckten, Lungenentzündung litt sie als Kind unter Atemnot. Mama hatte ständig Angst, dass sie Tuberkulose bekommen könnte, was sie vielleicht nicht überleben würde. Als ich zehn Jahre alt war, bekam ich von Mama die Aufgabe übertragen, mich stärker um meine ältere Schwester zu kümmern. Mama hatte jetzt ja auch noch die beiden Jungs, Zvi und Yehuda, für die sie da sein musste. Für mich bedeutete das, nachts aufzustehen, wenn Riku nach Luft rang, Schmerzen hatte oder nicht schlafen konnte. Dann bereitete ich ihr, nach Mamas Rezept, eine spezielle, besonders nahrhafte eisenhaltige Mahlzeit zu, mit der sie wieder zu Kräften kommen sollte. Mama und Papa wussten, dass sie sich auf mich verlassen konnten, obwohl ich jünger war als Riku. Verantwortung zu übernehmen, Respekt zu zeigen, hilfsbereit zu sein, all das waren Eigenschaften, die ich von meinen Eltern gelernt hatte und wofür ich sie so sehr bewunderte.
Anders als Fivish stammte meine Mutter Ethel aus einer für damalige Verhältnisse sehr modernen jüdischen Mittelklassefamilie, der die strikte Einhaltung religiöser Vorschriften nicht ganz so wichtig erschien. Ethel wuchs knapp 200 Kilometer nordwestlich von Unterwischau auf, in der Stadt Munkatsch, von der ich bereits erzählt habe. Munkatsch war drei- bis viermal so groß wie Unterwischau, eine der größten Städte der Region und kulturelles Zentrum. Dort besuchte Ethel die höhere Schule, sie war sehr belesen. In ihrem Regal standen Bücher über Erziehung, Poesie und Kunst, vor allem auch die großen Klassiker der Literatur. Darüber hinaus nähte sie Kleider, strickte Decken, sie liebte die Welt der klassischen Musik und der Opern und sang zu Hause in der Küche oft Arien von Puccini und Verdi. Tosca war ihre Lieblingsoper. Auch wenn sie sich nie darüber beklagt hat, dass es anders gekommen ist, bin ich mir fast sicher, dass sie gern einmal als Sängerin in der Öffentlichkeit aufgetreten wäre – gläubigen Jüdinnen war das damals noch nicht erlaubt. Sie hatte in ihrer Kindheit und Jugend also ganz andere Erfahrungen als Fivish gemacht, ehe sie ihn kennenlernte. Ethel war nicht unglücklich mit ihrem Leben, da bin ich mir ganz sicher, die Familie bedeutete ihr alles, aber die Parallele, die mir erst lange nach ihrem Tod aufgefallen ist, nämlich, dass Floria Tosca, die Hauptfigur der Puccini-Oper, selbst eine unglückliche Opernsängerin war, hat mich dann doch nachdenklich gemacht. Hatte Ethel hier ihr Spiegelbild gefunden?
Natürlich habe ich meine Mutter genauso geliebt wie meinen Vater, doch um ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen, musste ich mich viel mehr anstrengen. Wenn man bedenkt, dass Ethel sich um sechs Kinder gleichzeitig kümmern musste, ist das auch ganz nachvollziehbar. Ihr Spitzname für mich war »Charni«. Mutter sprach Russisch, eine Sprache, die sie schon wegen Dostojewski so sehr liebte. Im Russischen bedeutet »Tschernyi Ruchel« die »schwarze Rachel«, gemeint waren meine schwarzen Haare. Ich mochte meine Haare, aber ich mochte den Spitznamen nicht. Er klang für mich irgendwie nach: das schwarze Schaf der Familie. Es mag seltsam anmuten, aber draußen im Wald oder am Fluss war ich eine mutige und selbstbewusste Abenteurerin, ohne jede Angst. Im Kreis der Familie jedoch litt ich unter geringem Selbstwertgefühl. Das lag auch an einer Begegnung, die ich mit etwa fünf, sechs Jahren hatte und die ich bis heute mit mir herumtrage. Ich weiß nicht einmal, warum ich diese dumme Geschichte so verinnerlicht habe. Wir hatten Besuch von einer entfernten Tante, die ich nicht kannte. Während sie in der Küche mit Mama sprach, beugte sie sich hinunter, drehte sich dann zu Ethel und sagte über mich: »Wie konntest du nur so ein hässliches Mädchen zur Welt bringen?« Die Frau sprach laut und deutlich und war wohl im Glauben, dass ich noch zu klein sei, um verstehen zu können, was sie sagte. Mich jedenfalls traf der Satz bis ins Herz und die Tränen schossen mir in die Augen. Da ich nicht wollte, dass Mama mich so sieht, verließ ich die Küche. Warum sagte die Tante so etwas Gemeines? Sollte man innerhalb der Familie nicht nett und freundlich zueinander sein? Da es für mich ausgeschlossen schien, dass in der Familie gelogen wurde, so waren wir schließlich erzogen worden, konnte ich mir selbst keinen Reim darauf machen. Stimmte es denn? War ich wirklich so hässlich? Die Erinnerung an diese Geschichte hat meinem Selbstvertrauen einen bleibenden Knacks gegeben. Von diesem Tag an hielt ich mich selbst für das hässliche Entlein der Familie.